E-Book, Deutsch, Band 1, 285 Seiten
Reihe: Magic Kleinanzeigen
E-Book, Deutsch, Band 1, 285 Seiten
Reihe: Magic Kleinanzeigen
ISBN: 978-3-7348-0213-3
Verlag: Magellan Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zu jeder ihrer Geschichten hat Esther Kuhn einen Talisman, der sie beim Schreiben begleitet und ihr hilft, sich ihren Figuren näher zu fühlen. Wenn sie nicht gerade schreibt, arbeitet sie als Dozentin für Kindertagespflege. In ihrer Freizeit liebt sie Ausflüge in die Natur und ins Schwimmbad. Die Autorin lebt mit ihrer Familie im Saarland.
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EIN KOFFERRAUM VOLLER KUSCHELTIERE
Nach der Schule schlappte ich gemütlich mit Leon über den Schulhof, als ich meine Mutter vor dem Schultor stehen sah. Was wollte die denn hier? Ich war ja keine sieben mehr und konnte sehr gut alleine mit der Straßenbahn nach Hause fahren. Seitdem wir im Ostviertel wohnten, war mein Nachhauseweg so einfach, dass ich den auch schon im Kindergarten alleine hinbekommen hätte. Es gab also keinen Grund für sie, mich abzuholen. Wie peinlich, vor allem, weil sie auch noch mitten im Halteverbot geparkt hatte. »Hey, Leon. Meine Mum ist da. Willst du mitfahren?«, fragte ich meinen Kumpel, denn in diesem Moment sah ich den Weberknecht aus dem Nebengebäude kommen und hörte innerlich seine Stimme: »Bitte den Test unterschrieben wieder abgeben.« Ich musste mir dringend eine Strategie überlegen, wie ich an die Unterschrift meiner Mutter kommen konnte, ohne ihr den Test zu zeigen. Ein Mitfahrer war eine gute Taktik. Zumindest solange Leon im Auto war, würde sie mir keine bohrenden Fragen über die Schule stellen, und ich hatte ein bisschen mehr Zeit zum Nachdenken. »Sorry. Hanna nimmt mich mit«, sagte Leon, und da entdeckte ich auch schon seine große Schwester, die gerade auf den Schulhof gefahren kam, um Leon einzusammeln. Mit ihrem silbernen Helm über den kurzen rosa Haaren und auf dem pinkfarbenen Roller sah sie aus wie ein Knallbonbon. »Wie wäre es mit Daddeln? Du könntest später vorbeikommen«, fragte ich noch schnell, als Leon hastig hinten aufstieg. »Hey, Kleiner«, grüßte mich Hanna ganz cool, als würde sie den Weberknecht, der mit mürrischer Miene auf sie zustürmte, gar nicht bemerken. Sie ging schon in die elfte Klasse und wusste genau, dass das Fahren auf dem Schulhof streng verboten war. »Was ist jetzt? Kommst du vorbei?«, fragte ich noch mal. »Sorry. Vielleicht am Wochenende. Die Woche ist schon wieder ganz vollgepackt. Du weißt ja. Fußball, Malschule, Schwimmen und Nachhilfe eben.« Dann zog er sich schnell den zweiten Helm über und die beiden knatterten vom Hof. Als der Weberknecht das sah, wechselte er noch im Gehen die Richtung und hielt nun mit wedelnden Armen und wehenden Fusselhaaren Kurs auf meine Mutter. Er war ein großer, schlaksiger Mann und erinnerte jetzt wirklich an das Spinnentier mit den langen, dünnen Beinen. Hoffentlich ging es ihm nur um die Parksünde und nicht um meine schulischen Leistungen. Jetzt mal ehrlich! Lurche und Molche. Ich hatte ja versucht, mir die Details zu merken. Einen Abend vor dem Test hatte ich mir alles einmal genau durchgelesen. Ich schwöre es. Aber die Infos waren irgendwie über Nacht von meiner Gehirnfestplatte gelöscht worden. Keine Ahnung, warum! In Panik rannte ich los, um das Schlimmste zu verhindern. Aber sie redeten bereits miteinander. Ich sah, wie sich ihre Lippen bewegten. Ich versuchte abzulesen, worum es ging. Doch das war unmöglich. »Wie gesagt«, hörte ich den Weberknecht murren, als ich die beiden erreichte. »Das ist eine Feuerwehreinfahrt. Hier muss immer frei bleiben.« »Natürlich. Das verstehe ich«, antwortete meine Mutter. »Ich bin auch sofort wieder weg.« Sie lächelte ihr schönstes Strahlelächeln. Herr Weber wünschte ihr »Einen schönen Tag«, kehrte auf dem Absatz um und stolzierte davon. »Bis dann«, rief meine Mutter ihm hinterher, als wären sie die besten Kumpels. Ob er etwas gesagt hatte? In den Sekunden vor meiner Ankunft? Ich forschte in ihrem Blick, aber sie sah nicht verärgert aus. Zum Glück. Dann entdeckte ich die nächste Katastrophe. Der ganze Wagen war voll mit Kartons und Säcken. Nur Fahrer- und Beifahrersitz waren noch frei. Da hätte Leon sowieso nicht mehr mit reingepasst. »Ja, du wunderst dich sicher, dass ich hier bin«, begrüßte mich meine Mutter. »Also, ich dachte, ich hol dich heute ab und wir bringen gemeinsam die ganzen alten Sachen weg.« Vor einer Woche waren wir ins Ostviertel gezogen. Erst zwei Tage bevor die Umzugsfirma gekommen war, um alles abzuholen, hatten wir unsere Sachen einfach Hals über Kopf in unzählige Kisten gepackt. Es war ein einziges Chaos gewesen. »Ich hab mir heute extra freigenommen und ein bisschen was aussortiert.« Sie lächelte verlegen. »Sag nichts. Ich weiß, es wäre schlauer gewesen, das vor dem Umzug zu machen.« Ich ahnte Böses. »Und was ist das alles?« »Klamotten von mir und auch alter Krempel von dir, der jetzt echt mal wegkann.« Das klang nicht gut, gar nicht gut. »Was für alter Krempel?«, fragte ich daher misstrauisch. »Na ja. Ich dachte, wir könnten andere damit glücklich machen. Deshalb wollte ich alles zum Kinderschutzbund bringen. Die verschenken das dann an Kinder, die nicht viel haben und sich sicher über den ein oder anderen neuen Kuschelfreund freuen würden.« »Wovon redest du, Mum?« Zögerlich öffnete sie den Kofferraum und stammelte etwas von »Du bist doch jetzt wirklich schon zu alt für so was«. Dann sah ich es: zwei überquellende Wäschekörbe mit all meinen plüschigen Freunden aus meiner gesamten Kindheit. Traurig blickten mir Schaf Lulu und Tintenfisch Jotti entgegen. Ein Auge von Timur, dem Babytiger, fixierte mich. Mitten im Plüschberg entdeckte ich noch den Panzer von Schildkröte Jolanda und das rosa Einhorn von Fritz. Doch dann traf mich der vorwurfsvolle Blick eines Kuscheltieres mitten ins Herz. Hoppel! Sie hatte Hoppel aussortiert. Das war eine Unverschämtheit. Er war nicht einfach nur irgendein weißgrauer Hase, er war mein bester Freund, mein Beschützer, mein Kamerad. Wir schliefen jeden Abend zusammen ein. Ich griff ihn und drückte ihn an mein Herz. »Hoppel geht nirgendwohin und die anderen auch nicht«, rief ich und war so aufgebracht, dass ich erst jetzt bemerkte, dass wir eine interessierte Zuschauerin hatten. Zwei Meter von uns entfernt stand Filine und glotzte wie hypnotisiert auf den Berg aus Kuscheltieren. Heute trug sie einen gelb-lila gestreiften Eierwärmer auf dem Kopf, unter dem zwei geflochtene rotbraune Zöpfe hervorlugten, und einen passenden Schal, der länger als ihr Jeans-Latzrock war und dessen Fransen über ihren nackten Knien baumelten. Blitzartig warf ich Hoppel von mir, als hätte er die tödliche Hasenseuche, und schlug den Kofferraum zu. Das war mir so was von peinlich. »Lass uns fahren«, fauchte ich meine Mutter an und stieg ein, ohne noch einmal zu Filine zu sehen. Erst als wir beide im Wagen saßen und losfuhren, da riskierte ich einen Blick in den Seitenspiegel und sah, dass sie immer noch wie angewurzelt dastand und uns hinterherstarrte. Das war er, der Urknall. Aber das verstand ich erst viel später. In diesem Moment war ich einfach nur wütend. Ich wusste nicht, was mich mehr aus der Fassung brachte. Dass meine Mutter Hoppel und meine anderen Kameraden hatte verschenken wollen oder dass Filine diese Szene eben live miterlebt hatte. Wenn sie es weitererzählte, dann konnte ich den Eignungstest überspringen, mir gleich schwarze Klamotten kaufen und mich zu den traurigen Taxioten gesellen. Dann war ich so oder so der Lacher der Schule und für immer ausgestoßen. »Wie war’s in der Schule? Irgendwas Besonderes?«, fragte meine Mutter genau in dem Moment, als wir am Rosengarten vorbeifuhren. Verzweifelt betete ich um eine Eingebung, da entdeckte ich zwischen weißen und roten Rosenbüschen meinen Vater. Es war ein seltsamer Anblick. Er saß ganz alleine auf einer Parkbank und aß ein riesiges Baguette-Sandwich. »Da ist Papa«, rief ich aus. »Wo?« Meine Mutter blickte schnell noch zur Seite, doch da waren wir schon vorbeigefahren. »Da eben. Im Rosengarten.« »Dein Vater in einem Park? Um die Uhrzeit? Der hat für so was keine Zeit. Der ist jetzt Chef.« Sie kicherte ein wenig dabei, was ich verstehen konnte, denn mein Vater war eigentlich überhaupt nicht der Typ Chef. Zumindest nicht bei uns zu Hause. Ich war mir trotzdem zu hundert Prozent sicher, dass er es gewesen war, aber ich wollte nicht streiten. »Du hast wahrscheinlich recht«, nuschelte ich daher und war froh, dass damit auch das Schulthema vergessen war. Jetzt wollte ich nur noch nach Hause, doch statt nach links abzubiegen, ordnete sich meine Mutter auf der Geradeaus-Spur ein. »Wo fährst du denn jetzt hin?« Sie zeigte mit dem Daumen nach hinten auf den ausrangierten Kram. »Und was ist da noch drin, das ich wissen...