Kuhligk | Der Landvermesser | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Kuhligk Der Landvermesser

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-99065-084-4
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Müller ist vierundvierzig, ohne Selbstvertrauen, neurotisch und voller Ängste. Sein Job, seine Affäre, seine Wohnung, einfach alles in seinem Leben ist halbherzig und glanzlos. Die Nachricht vom Tod seines älteren Bruders Thomas, der seit vielen Jahren in Kolumbien und ohne Kontakt zu Müller lebte, trifft ihn überraschend hart. Er löst sich aus seinem trägen Alltag, nimmt seinen Jahresurlaub und steigt in den Flieger nach Cartagena. In der karibischen Hafenstadt erwarten ihn Thomas' attraktive Freundin Laura, ein halbes Jugendstilhaus, ein kleines Vermögen und die große Frage, wer sein Bruder eigentlich war. Nach und nach gleitet er in das Leben, das Thomas zurückgelassen hat. Gibt es für Müller in Kolumbien eine Chance auf mehr Herz und Glanz? »Der Landvermesser« ist ein atmosphärischer Roman über Entfremdung und Identität, Entfernung und Nähe und eine brillante Beschreibung zweier Landschaften, die Kolumbiens und die seiner Hauptfigur.

Björn Kuhligk, 1975 in Berlin geboren, wo er nach seiner Ausbildung zum Buchhändler als Autor und Herausgeber lebt. Er schreibt regelmäßig Glossen und literarische Reportagen für zeit online, die taz und Das Magazin. Zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Arno-Reinfrank-Literaturpreis. Seine Gedichte sind in 18 Sprachen übersetzt, zuletzt erschien u.?a. der Lyrikband »Die Sprache von Gibraltar« (Hanser Berlin).
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Die Tage vergingen, sie waren leise, fast gedämpft, aber sie waren voller Leben. Wenn Müller nachts im Bett lag, fand er keinen Schlaf, obwohl er sehr müde war. Sein Körper glitt in den Schlaf, er sackte hinein, doch sein Kopf wollte nicht folgen. In seinem Kopf schwebte er über sich selbst. Er sah sich von oben, weit oben, als würde er sich beobachten, wie er dalag, als würde er jede Bewegung registrieren, jedes Zucken seines Körpers, der die Kontrolle über seine erschlaffende Muskulatur zurückgewinnen und das aus der Balance Geratene korrigieren wollte. Es machte ihm Angst, nicht einschlafen zu können, und hatte er sich beruhigt, dachte er darüber nach, warum es ihm, einem Mann von vierundvierzig Jahren, nicht gelang, einzuschlafen, obwohl sein Körper bis zum Hals in einer permanenten Müdigkeit steckte. Tagsüber, wenn er durch die Straßen lief und ein Detail im Straßenbild sah, das ihn an etwas erinnerte, freute er sich und ging seinen Erinnerungen nach, und bemühte sich, sie mit weiteren Erinnerungen anzureichern. Doch legte er sich schlafen, kamen die Erinnerungen wie eine Meute losgelassener Hunde, die aus seinen tiefen Schichten an die Oberfläche schnellten, unvermittelt und roh, und drohten, ihn zu zerkleinern, zu zerlegen. Müllers Augenringe wurden von Tag zu Tag breiter und dunkler. Inzwischen hatte er verschiedene Tricks entwickelt, die ihm mitunter halfen, in den Schlaf zu finden. Trick eins: Er dachte an etwas Schönes, das in näherer Zukunft passieren würde. Er stellte sich Einzelheiten vor, richtete sich die Räume in seiner Fantasie ein, schmückte sie aus, bewegte sich darin und stieß auf keine Widerstände. Er konnte selbst schweben, er musste es sich nur vorstellen. Der Nachteil daran war, dass er, seit er nicht mehr in Berlin war, selten wusste, was in den nächsten Tagen passieren würde. Trick zwei: Er dachte an etwas Schönes, das in der Vergangenheit passiert war. In erster Linie dachte er an Vorkommnisse, in denen er – und das gehörte zu den Seltenheiten in Müllers Leben – etwas Helfendes, Unterstützendes getan hatte. Der Nachteil war, dass diese wenigen Momente in seiner Erinnerung derart abgegriffen waren, dass Müller sie nur noch mit Mühe zum Leben erwecken konnte. Trick drei: Er dachte an den letzten Sex. Der Nachteil war, dass die körperliche Erregung ihn erst recht nicht schlafen ließ. Außerdem musste er dann an Sabine denken, und das wollte er nicht. Thomas war dünn. Er war so dünn, dass man mehr auf seine Dünnheit als auf seine Größe achtete. Immerhin maß er knapp über zwei Meter. Er ging nicht, er schlurfte. Er hatte die gleichen dichten Haare wie Müller, die er jedoch wachsen und stehen ließ, wie sie waren. Seine Fingernägel waren ungepflegt. Er wirkte mitunter verwahrlost und bloßgestellt wie ein verlassenes Gebäude. Er trug dunkelgraue Hemden aus Hanf, Cargohosen mit ausgebeulten Seitentaschen und eine Umhängetasche in einem Ethnomuster, in dem er eine kleine Dose mit Korallenresten, eine Packung Taschentücher und sein Handy transportierte. Das Geld hatte er in den Hosentaschen, die Münzen gaben bei jedem seiner Schritte ein schellenartiges Geräusch von sich. Die Scheine steckten in einem Clip, den Müller protzig und unpassend fand. Thomas hatte eine helle Gesichtshaut und muskulöse Arme, auf die Müller neidisch war. Sein Bruder, der anpackte, etwas veränderte, während er selbst auf einem ergonomischen, seinem Rücken angepassten Schreibtischstuhl vor drei Monitoren saß und Exceltabellen füllte, Ordner verschob, den Ordnern neue Namen gab und die Vorgänge innerhalb der Firma optimierte, und hin und wieder fuhr er mit der Regionalbahn zu einem Verhandlungstermin. War Thomas in Berlin, gingen sie abends in eine Kneipe, die ein paar Busstationen von seinem Wohnblock entfernt lag und in die Müller ansonsten nie ging. Sie tranken Bier, unterhielten sich, sahen Fußballübertragungen oder spielten Karten. Eines Abends erzählte Thomas, es habe sich in seinem Leben etwas verändert, er habe eine Frau kennengelernt und sich verliebt. Sie hätten sich in Cartagena, einer Stadt an der karibischen Küste, eine kleine Wohnung gemietet. Er habe schon seit Langem genug von seinem Job in Medellín und in Cartagena etwas anderes gefunden, eine Anstellung im dortigen Botanischen Garten, der zwar außerhalb der Stadt liege, aber besser als seine alte Tätigkeit sei und sicherer für die Zukunft. Müller sagte, er freue sich für ihn und war doch neidisch auf Thomas. Er hatte eine Frau und er veränderte sein Leben, das machte er einfach. Wie sie denn heiße und wie alt sie sei, fragte Müller. Laura, sagte Thomas, und als er ihren Namen sagte, bewegte sich sein Gesicht, das ansonsten kaum eine Gemütsregung verriet. Müllers Nachbarin Frau Klein hatte, nachdem Thomas das erste Mal eine Woche zu Besuch war, sogar gefragt, ob sein Bruder eine Gesichtslähmung habe. Ich liebe sie, sagte er. Sie ist toll, fügte er hinzu. Er grinste fast. Es war ihr letzter gemeinsamer Abend. Sein Bruder hätte, das wurde Müller nun klar, ins beste Hotel der Stadt gehen können, ins Adlon, in das Ritz, in irgendein 5-Sterne-Ding mit allem, was dort an Luxus bereitgehalten wurde. Er hätte die besten Restaurants der Stadt aufsuchen können, mit dem Taxi von A nach B nach C und so weiter und nachts wieder zurück nach A. Stattdessen war er mit Müller Bus und U-Bahn gefahren. Stattdessen hatte er bei ihm übernachtet, in seiner Zweizimmerwohnung, auf einer Gästematratze, die sich von selbst aufpumpte, aber nur dann, wenn Thomas zu Gast war. Der Blick ging aus dem zehnten Stock in die Wohnungen gegenüber, über die Bäume hinweg, die in dem ovalen Hof der Siedlung parkartig gepflanzt worden waren, als Müller vor fast zehn Jahren eingezogen war. Der Rasen war vermoost und voller Hundescheiße. Verschlissene Deutschlandfahnen hingen von den Balkonen. Neben den Belüftungstürmen der Tiefgarage lag ein kleiner, von hohen Gittern umgebener Fußballplatz mit blauem Belag. Im Hof standen Bänke aus Stahl neben Mülleimern aus Stahl und zentriert eine massive Sonnenuhr aus Metall. Auf das Ziffernblatt zwischen elf und sechzehn Uhr hatte jemand mit einem dicken Stift »Fick dich, Ahmed« geschrieben. Ein Kranz mieser Laune aus siebzehn Stockwerken, und frühmorgens, wenn Müllers Wecker piepte, schrie nebenan die Irre wie am Spieß. Es gab keine Restaurants in der Nähe, keinen Einzelhandel, wenn man von dem Autoreifenhandel absah und einem Ladengeschäft, das ein Büro für irgendetwas, nichts Konkretes beherbergte. Im Keller der Nummer 173f befand sich ein Boxverein, der von den Jungs des Viertels frequentiert wurde. Doch wenn sie ein Alter erreicht hatten, in dem es interessanter war, vor Coolness und Überlegenheit nicht mehr normal stehen oder laufen zu können, mieden sie diesen Ort und wechselten zu dem nördlichen Ende eines Baumarktparkplatzes. Dort trafen sie auf Männer, die Autos hatten und an ihnen herumschraubten, und auf Männer, die den anderen dabei zusahen. Als Svenja ihn verließ und zu Ferdinand zog und kurz darauf schwanger wurde, gab Müller die ehemals gemeinsame Wohnung in einer ruhigen, zentral gelegenen Straße in dem Bezirk Mitte endgültig auf. Er war ein weiteres Mal gekränkt, dieses Mal von der Unumstößlichkeit eines Kindes. Und er hatte die Wohnung doch behalten, weil es in seiner windschiefen Fantasie, die von Mal zu Mal üppiger und detaillierter wurde, plötzlich klingelte und Svenja vor der Tür stand, den Blick nach unten gerichtet, voller Schuld und Reue, und um Verzeihung bat, und Müller verzieh ihr von ganzem Herzen. Genau darauf wartete er einige Monate. Erst als er von einer gemeinsamen Bekannten, die ihn deshalb anrief, wahrscheinlich vorgeschickt von Svenja, die Neuigkeit erfuhr, dass diese Mutter würde, kündigte er die Wohnung und nahm die erste, die sich ihm bot. Da saß er dann also, ein trotziger Mann in einer pragmatischen Wohnung im Westen Berlins, Ende Februar im Osten Deutschlands. Der Winter machte weiter und der Himmel sah aus, als hätte jemand eine verdreckte graue Platte dagegengenagelt. Da blieb er, trotz der Interventionen und Überredungskünste seiner Freunde, und wurde trauriger. Neben der Treppenhaustür gab es zwei weitere Türen, auf einer stand »Druckerhöhungsanlage«, auf der anderen »Mieterkeller«. Beide hatte Müller nie geöffnet. Schönheit, das wusste er, ist das Gegenteil von all dem. Es war ihm egal. Er fuhr mit dem Fahrrad zum U-Bahnhof und von dort mit der U-Bahn zu seiner Arbeitsstelle. Seit Langem wurde ein neuer Autobahnzubringer gebaut, ein hohes Stativ mit zwei Flutscheinwerfern, die auch tagsüber und am Wochenende angeschaltet waren, stand hinter dem Bauzaun, der die Kleingartenkolonie »Frohe Sonne« von der Straße abtrennte. Auf der anderen Seite waren Werkstätten und dubiose Firmen in einem länglichen eingeschossigen Gebäude untergebracht. Daneben befand sich eine Brachfläche, auf der seit Monaten wechselnde fabrikneue Sportwagen ohne Nummernschilder parkten. Auf der Straße lag ein Haufen Ziegelsteine, darüber verlief eine Wasserleitung, die neben dem Haufen abbog und zu dem Block zurückführte, in dem Müller wohnte. Wenn er neben dem Schild...


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