Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 384 Seiten
Reihe: Die Düsterbusch-Romane
ISBN: 978-3-641-16645-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Düsterbusch ist kein Ort für Helden. Nicht Preußen, nicht Sachsen, ein Kaff am Rande des Spreewalds. Anton wohnt hinter dem Mähdrescherfriedhof und träumt vom großen Leben. Bis er eine glänzende Idee hat: Sein Dorf soll Metropole werden, mit U-Bahn-Anschluss und Leuchtreklamen. Mit einer Handvoll Freunden macht er sich daran, mitten in der DDR einen Szene-Club nach Londoner Vorbild aufzuziehen. Alexander Kühne erzählt die Geschichte von einem, der bleibt und kämpft – aber nicht politisch, sondern mit den Waffen der Popkultur. Er erzählt von den großen Träumen im Kleinen und vom Scheitern einer Utopie.
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01Küsse an den Rieselfeldern Im Alter von zehn Tagen geriet ich das erste Mal auf die schiefe Bahn. Schuld war der hemmungslose Konsum von Alkohol. Mein Vater hatte aus Freude über die Ankunft seines Sohnes an einem Oktobertag des Jahres 1964 mit Onkel Werner stark getrunken. Der war kein richtiger Onkel, mehr ein Saufkumpan meines Vaters. Tatort war die Kneipe von Düsterbusch. Ein Korn jagte den anderen. »Los, Dicker, wir müssen …«, lallte Onkel Werner irgendwann, doch mein Vater war nicht mehr wachzukriegen. Ein paar Stunden später schwankte Onkel Werner zur Tür des Krankenhauses Frankenwalde herein. Statt Blumen für die Mutti hatte er einen Dreizehner-Maulschlüssel in den öligen Fingern. Der Keilriemen seines F9 war unterwegs abgesprungen. Ohne Gratulationskitsch verfrachtete er Mutter und Kind in sein Auto. Von Fehlzündungen unterbrochen und mit reichlich Promille auf dem Kessel, raste er aus der Kreisstadt über die Landstraße. Irgendwo im Wald passierte es: Der Keilriemen riss, sein F9 wurde aus der Kurve getragen. Das Auto überschlug sich und landete im Straßengraben. Diese rasanten Richtungswechsel stifteten erste Verwirrung in meinem zarten Gehirn. Äußerlich unverletzt wurden Mutter und Kind aus den Trümmern geborgen. Mit einem Krankentransport kam ich zurück in die Klinik. Ein Halswirbel hatte etwas abbekommen. Meine Mutter stieß Flüche auf meinen Vater gen Himmel, während mir eine Krause angelegt wurde. Dann kam ich endlich in mein Heimatdorf. Düsterbusch lag in der Mitte zwischen Dresden und Berlin und trotzdem irgendwo am Rand. Nicht Preußen, nicht Sachsen. Nicht Spreewald, nicht Braunkohle. Auf den ersten Blick ein Dorf wie alle im Osten. Der Konsum, das LPG-Büro, der Sportplatz und die meisten der Gehöfte und Wohnhäuser säumten beidseitig die von Schlaglöchern verwundete Hauptstraße. Dazwischen das zugewachsene Kriegerdenkmal, ein riesiger Findling, auf dem der deutsche Adler thronte. Niemand kümmerte sich mehr um ihn. Dumpf sein Blick aus schimmligen Augen über die Dorfaue, die von der Bache durchzogen wurde, einem verkrauteten Seitenarm der Schwarzen Elster. In der Dorfmitte, wo die Hauptstraße einen Knick machte, lagen die beiden Wahrzeichen des Ortes: eine große gotische Kirche mit zwei majestätischen Türmen, die von Weitem wie überdimensionale Schnapsflaschen aussahen. Gegenüber stand die Kneipe, in der mein Vater eingepennt war. Die Kneipe war das kulturelle Zentrum von Düsterbusch. Angeblich hatte hier schon im Mittelalter der als Popstar geltende Walther von der Vogelweide seine Hits gespielt. Einst hieß sie Zur Linde, weil ein riesiger Baum den Vorplatz zierte. Später sägten die Kommunisten die Linde ab und tauften den Laden in Konsum-Gaststätte Düsterbusch um. Die Genossen hatten eben keinen Sinn für Romantik. Der Volksmund behielt jedoch den alten Namen bei. In der Linde wurden die Männerfastnacht, Hochzeiten und Erntedankfeste gefeiert. Vor allem sonntags stapelten sich zig Fahrräder am Eingang, wenn die Düsterbuscher beim Frühschoppen soffen, als ob es kein Morgen gäbe. Meine Mutter war eher durch Zufall nach Düsterbusch geraten und sagte später immer: »Das Schlimmste, was mir passieren konnte, war dieses elende Kaff.« Eigentlich kam Elisabeth Schmidt aus Berlin. Nach dem Krieg musste sie dort mit anderen ehemaligen BDM-Mädchen Munition wegräumen. Sie machte den Rücken krumm und malte sich mit Kohle das Gesicht schwarz, damit sie möglichst hässlich aussah, denn die Soldaten der Roten Armee wurden zudringlich. Bald tauchten neue Marschierer auf, sie trugen jetzt blaue Hemden und versprachen, dass in ihrem Reich die Sonne niemals untergehe. Elisabeth ließ sich anstecken vom Programm der Freien Deutschen Jugend, vom Klang der Trommeln und Schalmeien. »Nie wieder Krieg«, das klang so schön – eine Vision, für die es sich zu kämpfen lohnte. Sie trat der FDJ bei und wurde Mitglied der SED, einer neuen Partei, die das bessere Deutschland wollte. Schon immer gut in Mathe entschied sie sich, Lehrerin zu werden. Die Bildung lag brach im sowjetischen Sektor. Die alten Pädagogen, meist Nazis, hatten Berufsverbot bekommen oder waren in den Westen getürmt. Elisabeth verließ Berlin und zog durch die Lande, im Kopf den Satz des Pythagoras und im Herzen den Sieg des Sozialismus. Die Schulen, an denen sie unterrichtete, waren provisorisch, die Klassenräume überfüllt. Ihre blauen Augen versprühten Wissen und Begeisterung für die neue Sache. Die barfüßigen Dorfkinder verehrten sie, denn meine Mutter konnte motivieren und zog auch die Schwächsten mit. Einer ihrer Kollegen war Hans, ein braunhaariger Schönling und Sohn gläubiger Protestanten. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ein halbes Jahr lang trafen sich die beiden, bis er eines Tages einfach so Schluss machte. Seine Eltern verbaten ihm den Umgang mit einer Kommunistin. Dabei war sie gar keine, zumindest keine richtige, wie sie später immer betonte. Dass Hans gehorchte, traf meine Mutter hart. Wenn sie sich schon verliebte, dann für ein ganzes Leben. Dieses Leben schien ihr plötzlich nicht mehr viel wert, sie nahm Tabletten. Ihre Schwester fand und rettete sie. Einer von der Partei rügte sie am Krankenbett: »Elisabeth, der Suizid ist etwas zutiefst Bürgerliches und dient nicht der großen Sache.« Meine Mutter gelobte Besserung und versprach, ihr Dasein nun ganz der Idee Lenins zu verschreiben. Nach ihrer Genesung wurde sie nach Düsterbusch delegiert – eine große Frau, die Hochdeutsch sprach und Kostüme trug. Ihre verwundete Seele verbarg sie hinter einem strahlenden Lächeln. »Die ist aus Berlin«, raunten sich die Bauernburschen zu und rannten ihr hinterher, wenn sie mit ihren langen Beinen die Dorfaue überquerte. Zu ihren Verfolgern gehörte auch Klaus Kummer. Er ging bei ihr zur Schule. Klaus war ein ständig Witze reißender Junge, der im Matrosenanzug die Dorfstraße unsicher machte. Seine Mutter, meine Oma Else, mästete ihr einziges Kind nach dem Krieg mit Sahne und guter Butter. Sie war eine einfache Frau, eine Seele von Mensch, und hielt die Versorgung von Klaus mit reichlich Fett nach all den mageren Jahren für eine gute Sache. Das Resultat: Sein Hintern und sein Bauch wuchsen bedenklich an und brachten ihm den Spitznamen »Dicker« ein. Als der Matrosenanzug aus allen Nähten platzte, hatten sich die Mitschüler mit ihren Hänseleien auf ihn eingeschossen. Zum Heulen ging er in seine »Bude«, ein aus Blättern und Zweigen errichtetes Häuschen, und ließ die angestaute Wut an Fröschen aus. Er blies sie auf und brachte sie mit einer Nadel zum Platzen. Mit zunehmendem Alter verebbten die Hänseleien, denn er wurde trotz seiner Körperfülle ein exzellenter Fußballer und standfester Kampftrinker. Ausgerechnet diesem tief in der Dorftradition verharrenden jungen Mann brachte meine Mutter Mathe bei und einige Monate später auch noch was anderes. Sie ließ sich mit einem Bauernburschen ein, der ihr Schüler war, sechs Jahre jünger und obendrein einen Kopf kleiner als sie. Vielleicht wollte sie nach der Enttäuschung mit Hans einen jüngeren Mann, der sie vorbehaltlos anhimmelte. Oder die Torschlusspanik setzte ein, sie war ja schon Mitte zwanzig. Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, was diese beiden Menschen zusammenbrachte. Anfangs durfte niemand etwas von ihrer Beziehung erfahren. Die Turteltäubchen trafen sich außerhalb von Düsterbusch, ganz romantisch an den Rieselfeldern, wo die Exkremente der Werktätigen aus der Kreisstadt Frankenwalde gewässert wurden. Meine Mutter lehrte Klaus das Küssen, während sie sich gegenseitig die Nasen zuhielten. Klaus genoss die Aufmerksamkeit der blonden Erscheinung, er konnte mit ihr prahlen, welcher Schüler war 1956 schon mit seiner Lehrerin zusammen? Durch seinen beschwingten Stolz kam ihre Beziehung an die Öffentlichkeit. Das System zeigte sich das erste Mal von seiner unerbittlichen Seite. Meine Mutter musste sich beim Schulrat für ihr Verhalten verantworten. Da sie eine Lösung der Verbindung ablehnte, blieb nur eines: Heirat. Um nicht zu viel Wirbel auszulösen, feierten sie zu zweit Hochzeit im Fichtelgebirge und zogen danach zusammen. Klaus war gerade achtzehn geworden. Ihr neues Domizil gehörte seinen Eltern. Es war eine aus Kuhscheiße und Lehm gemauerte Kate. Die Decken hingen so tief, dass ich mir später immer den Kopf daran stieß. Die noble Adresse war der Nordweg 6. Das Wohnzimmerfenster gab den direkten Blick auf den Kuhstall der LPG frei. Nur im Sommer wurde dieses Panorama von einem davor liegenden Sonnenblumenfeld getrübt. Die ersten Jahre lebten sie unbeschwert. Klaus – ausgestattet mit einem derben, treffenden Humor – brachte meine Mutter zum Lachen, er profitierte von ihrem flirrenden Wesen. Er lernte Schlosser und ließ sich von ihr überreden, auch in die SED einzutreten. Sie fütterte ihn mit ideologischer Literatur. Nikolai Ostrowski und Ilja Ehrenburg lagen jetzt unter seinem Kissen. Er las allerdings nie darin. Spartacus sollte Jahre später seine einzige Lektüre werden, und das auch nur bis zur Hälfte. Dagegen glänzte er weiterhin beim Fußball. Meine Mutter feuerte ihn an, wenn er als Mittelfeldstratege von Einheit Düsterbusch die...