E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Reihe: Debütromane in der FVA
ISBN: 978-3-627-02210-5
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ihr hellsichtiges Wesen wird Tonie nützlich sein, nicht nur beim Umgang mit wilden Zootieren, sondern auch während der einsamen Stunden in der dunklen Abstellkammer, in die sie zur Strafe gesperrt wird. Mutter Milla kocht und backt derweil und erstickt jeden Konflikt unter einer dicken sonntäglichen Sahneschicht; verdrängte Erinnerungen an die Kriegsjahre brechen sich an anderer Stelle Bahn. Tonie muss selbst herausfinden, warum ihr Vater Hartmut weder an Gott noch an die Menschen glaubt, warum ihre Halbschwester Hannah ständig Bauchschmerzen hat und Tante Christine sich hinter einem undurchdringlichen Panzer verschanzt.
Heike Kühn entwirft das spannende Panorama eines noch durch den Krieg geprägten Deutschlands der sechziger und siebziger Jahre und erzählt mit großer stilistischer Begabung von den Verlusten der Unschuld und vom Trauma einer ganzen Generation. In die Geschichte einer deutschen Familie webt sie kunstvoll fantastische Elemente und schafft so einen magischen Raum, in dem die Schlange mit ihrer vielschichtigen Symbolik durch die Biografien führt.
Autoren/Hrsg.
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KAPITEL 1
»Wir werden ihn Tonie nennen. Wie meinen Großvater. Anton Alles hat alles. Was Sie bei uns nicht kriegen, brauchen Sie nicht, stand auf der Tonne mit den Heringen, und wenn die Polen kamen und zu viert einen Heringsschwanz kauften, ist Christine immer um die Tonne rum und hat ihnen das vorgelesen. Da war sie acht und schon giftiger als du. Nu halt doch mal still. Man könnte ja meinen, es ist das erste Mal.« Der Schwanz der Schlange peitschte den Arm des Wärters, als seine rechte Hand sich dem rautenförmigen, zu den Schläfen hin dunkel bebänderten Kopf des Tieres näherte und die linke sich bereitmachte, das Fangeisen aus dem Erdreich des Terrariums zu ziehen. Bevor die Schlange sich den Moment der Lockerung zunutze machen konnte, fixierten kundige Finger ihren Schädel über dem Glasrand einer Petrischale. Daumen und Mittelfinger ihres Gegners massierten sanft ihre Giftdrüsen. Reflexartig dehnte sich der Rachen. Die langen, am Unterkiefer befestigten Fangzähne blitzten im Neonlicht. Sie lenkten von den unscheinbaren Röhren der Giftzähne ab, die sich mitsamt der verkürzten, um neunzig Grad verstellbaren Oberkieferknochen aus ihrem Versteck am Gaumen des Tieres lösten und klappmesserartig zum Vorschein kamen. Noch ein Druck auf den massigen, zum Hals hin schmaler werdenden Schädel, und die Schlange verbiss sich in den Glasrand. Anerkennend musterte Hartmut Alles die dickflüssig hervorperlende Flüssigkeit. Zehn Tage hatte er das Weibchen vor dem Melken hungern lassen. Das dottergelbe Gift in ihren Drüsen hätte Beute bedeutet. Nun würde es sich in Heilung verwandeln. Bedächtig zog er den weit aufgerissenen Rachen des Tieres zurück, drückte den Kopf erneut auf den Boden des Terrariums und unter die Gabelung des Fangstocks. »Muss bald so weit sein«, sagte er, während seine Hände über den vibrierenden Schlangenleib strichen und dabei entlang der schwarzbraunen, leuchtend gelb gesäumten Rauten- und Dreiecksflecke auf dem rotbraunen Schuppenkleid die Reste einer unlängst vollzogenen Häutung abschilferten. Als das Telefon in der Futterküche klingelte, zuckten Mann und Schlange zusammen, im Gleichklang einer Bewegung. »Heinz, geh ran, ich hab Fenster fünf offen. Heinz!« Seine Stimme wand sich durchs Frankfurter Exotarium, kroch in die Ecke hinter dem kleinen Futterhäuschen, stieß auf den Lehrling, der auf der Riesenschildkröte saß und ihren rissigen Panzer ölte. Aufgeschreckt faltete der Junge seinen Lappen zusammen und schwang sich über die hüfthohe Glaswand. Durch die oberen Sprossenfenster der Futterküche, die sich den Besucherströmen als gläserner Tempel entgegenstellte und auf dem Weg zu der Riesenschildkröte umgangen werden musste, konnte der Lehrling seinen Ausbilder sehen. Nicht einmal am Abend der Inventur ließ sich Hartmut Alles davon abbringen, das Gift für den Serumsbestand der Uniklinik einzustreichen. Dem Tag der Listenfüller brachte Hartmut Alles die Verachtung eines Provinzfürsten für seine Steuereintreiber entgegen. Sollten doch die übrigen Tierpfleger des Frankfurter Zoos gemeinsam mit Ärzten und Biologen Hufen und Tatzen hinterherlaufen, die flinken Erdmännchen mit Infrarotstrahlern aus der Dezembererde herauslocken und tränende Augen auf vielfarbig vibrierende Kolibris richten, die sich flügelschlagend zu verdoppeln schienen. Mochten Lehrlinge wie der fünfzehnjährige Heinz im Erdgeschoss des Exotariums entlang der tief in die Erde hineingebauten Süß- und Salzwasserreviere an Schwärmen kleiner Fische verzweifeln, die nicht die Chuzpe hatten, sich leuchtend wie der giftige Rotfeuerfisch von Korallen und Seegras abzuheben. Die illuminierte Treppe hinauf zu Hartmuts Reich herrschten andere Gesetze. In Plastikstufen eingelassene grüne Neonröhren glommen wie ewige Lichter, mählich ansteigend wie Kerzen auf einem Opferstock, bis sie vom feuchtwarmen Gleißen des subtropischen Paradieses im Obergeschoss aufgesogen und übertrumpft wurden. Hier, im Himmel der Echsen und Krokodile, unter den künstlichen Sonnen, die Vipern und Königsnattern hitzeschwer mit der steinernen Kulisse ihrer Behausungen verschmelzen ließen, galt Hartmut Alles’ Wort als elftes Gebot: Liebe die Geschöpfe, die dir anvertraut sind, mehr als deinen Nächsten. Abgesehen von den Blattschneiderameisen, die am hinteren Ausgang des Exotariums Gänge in die Erde trieben, ohne sich an der Glasscheibe zu stören, die Licht in ihre Geheimnisse fallen ließ, abgesehen von dem Gewimmel der Rosenkäfer und anderer Bewohner des Insektariums kannte Hartmut Alles jedes seiner Tiere. Der Alleswisser, zuckte es in den Gesichtern seiner Mitarbeiter, wenn Hartmut Prognosen über die zu erwartenden Neuzugänge abgab. Nie entging ihm, wo ein Tier sich im Minidschungel eines Terrariums oder unter dem Sand einer zwei Meter breiten Kammerwüste verbarg. Im Geist nummerierte er den Nachwuchs seiner Schlangen bereits, wenn die Leiber der Lanzenottern und Mambas von Eiern anschwollen und die lebendgebärende Gabunviper begann, wie ein aufgerollter orientalischer Teppich auszusehen. Heinz hastete zum lichten Raum der Futterküche, dessen Front rechts und links von der Tür die Schaukästen der Skorpione bildeten. Entlang der gläsernen Seitenwände stapelten sich die Behälter mit den Botschaftern des Spinnenreichs. Das grüne Telefon, das an der gegenüberliegenden Wandverschalung hing, war verstummt. Heinz setzte sich auf den blankgescheuerten Tisch, auf dem das Futter für die Tiere zubereitet wurde, und ließ die Beine spinnenwärts baumeln. Neben dem Telefon, zu dem sein Kopf zwischen zwei kurzbeinigen Schlenkern herumschwang, war die Tabelle angepinnt, die seit Wochen für Nervosität sorgte. Kein Pfleger hielt es für ratsam, dagegenzuhalten, wenn der Alleswisser nach den Quoten für die Mambas die Geburt seines ersten Sohnes festsetzte. Nicht einmal der alte Pinguin-Paul, den das Rheuma gezwungen hatte, seine kugelbäuchigen Freunde gegen das Kassenhäuschen einzutauschen, erlag der Versuchung, auf eine Laune der Natur zu tippen. Konnten aus einem Gelege von zwanzig Eiern nicht siebzehn Schlänglein hervorgehen? Konnte das Kind, mit dem Hartmuts Frau Milla nun schon eine Zoo-Inventur lang rang, nicht ein Mädchen sein? »Nicht in diesem Leben«, versicherte Hartmut. Einen Alles wolle er, einen Alles bekäme er. Und was anderes als ein Junge könnte seine Frau dazu bringen, derart viel Fleisch zu essen? »Wie kann er das wissen?«, dachte Heinz und holte seine Zunge zurück, die über seine rosigen Kinderlippen fuhr. Auch jetzt, da er sich aus dem Futterhäuschen nicht herauswagte, fühlte Heinz sich hin- und hergerissen. Seit vier Wochen beobachtete er den Alleswisser. Selbst der Fünfminutentod in Gestalt der schwarzen Mamba schien sich Hartmuts Gemütskälte zu fügen. Dass in Hartmuts Adern Gift floss, galt als ausgemacht. Wie eine Speikobra, die ihren ätzenden Speichel meterweit ins Auge des Gegners schleudert, konnte er in einer Ecke des Exotariums losbrüllen und am anderen Ende den Gescholtenen treffen. Seine Beleidigungen saßen fest wie die Giftzähne, die manche Schlangen beim Zubeißen zurückließen. Die Pfleger rissen Witze über ein Anti-Alles-Serum. Heinz mochte nicht mitlachen. Hartmut Alles war seiner Bewerbung zuvorgekommen. Vor ihm hatte der Alleswisser begriffen, dass Heinz unter Schlangen keinen Arbeitsplatz suchte, sondern ein Zuhause. Wenn er jetzt hinausginge, würde es klingeln. Besser, das durchdringende Geräusch kündigte einen Jungen an. Oder jemand anderes nähme ab. Vor vier Wochen hätte er den Hörer noch gar nicht anrühren dürfen. Heinz starrte auf die Tür der Futterküche, bis die Erinnerung sich termitengleich durchs Holz fraß, Zeit und Raum durchlöcherte. Er hätte nicht sagen können, was ihm seltsamer vorkam, der eigene Körper auf der anderen Seite der Tür oder das Gefühl, sich auf seinem Horchposten nicht von der Stelle bewegt zu haben. So hatte er gestanden, einer von außen, dem noch kein Innerstes Zutritt gewährt hatte. »Das hier«, hatte sein abgeklärter Kollege Rufus gesagt und mit dem Finger auf die in Augenhöhe angenagelte Verkündigung der zu erwartenden Eiablage getippt, »solltest du auswendig lernen.« Heinz hatte gehorcht und sich verschluckt. »Wie kann er das wissen?« »Der ist dabei gewesen«, hatte Rufus sich über den kleinen Heinz gefreut, der ihn dabei ablöste, die Eier-Frage zu stellen und die Riesenschildkröte zu polieren. »Der macht halbe-halbe mit Mutter Natur, frag Pinguin-Paul.« Ein Stockwerk tiefer konnte Pinguin-Paul ihm auch nichts anderes sagen. Seit fünfzehn Jahren wartete Paul auf die Schlange, die Hartmut Alles zu täuschen vermochte. Paul zuckte mit den Achseln. Schlangen waren so zweideutig. Wie einfach war dagegen ein Leben mit Pinguinen! »Pass auf«, sagte Paul, derweil er sein Rheuma vor dem Pinguinbecken in Bewegung setzte, »jetzt krieg ich Gesellschaft.« Wie ein Bademeister, der einem Ertrinkenden zu Hilfe eilt, war ein Eselspinguin ins Wasser gehüpft. Sein Schnabel hatte die Glaswand gestreift, die ihn von seinem alten Pfleger trennte. Synchron hatten sich die beiden durch das Halbdunkel bewegt, bis das Gehege endete und beide zur Kehrtwendung zwang. Pauls Knie ächzten, als er auf dem glatten Linoleum einen Halbkreis beschrieb. Seine Augen waren schon auf der Suche nach dem Partner auf der arktischen Seite der Scheibe. Und da war der zipfelohrige Vogel, ein schwarzweißes Glücksrad, das sich um die eigene Achse drehte, während zwei jettfarbene Knopfaugen sich vor Vergnügen kugelten, bis Paul erneut in ihr Blickfeld geriet und der Unterwasserspaziergang wieder aufgenommen werden konnte. An der Kasse regten sich Hände zum Applaus. Paul schob seinen Hintern ins Kassenhäuschen, ein Einsiedlerkrebs, der sich in sein Schneckenhaus bettet, und...