E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Niedersachsen Krimi
ISBN: 978-3-86358-005-6
Verlag: Emons Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
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2 Bei ihren seltenen Besuchen in Wolfsburg war Johanna immer wieder aufs Neue verblüfft, wie gepflegt und herausgeputzt die VW-Stadt war, zumindest auf den ersten Blick. Dass sie mit dieser satten und bis in jede Einzelheit durchgeplanten Biederkeit wenig anzufangen wusste und sich eher in der quirligen Hauptstadt zu Hause fühlte, die ihr mit ihrem ruppigen und häufig etwas chaotischen Charme, den höchst unterschiedlichen Stadtteilen und phantasievollen Übergangslösungen bedeutend näher war, mochte den Eindruck noch verstärken. Wolfsburgs breite Straßen waren in einwandfreiem Zustand, es gab kaum Baustellen, Wohn- und Geschäftshäuser erstrahlten in frischen Farben, und in den aufwendig gestalteten Park- und Freizeitanlagen wurden regelmäßig die Abfalleimer geleert und auch Nebenwege geharkt. Das Schwimmbad hieß VW-Bad, das Stadion VW-Arena. Ohne Autos ging gar nichts. Und die meisten waren neu oder sahen zumindest so aus. Johanna parkte im Südkopfcenter, um sich bei Nordsee einen Imbiss zu besorgen. Die City war in den vergangenen Jahren zunehmend ausgebaut worden – man könnte auch sagen: aufgemotzt, dachte Johanna und schlenderte, herzhaft von ihrem Fischbrötchen abbeißend, die Porschestraße hinunter. Die Fußgängerzone reichte vom Hauptbahnhof am nördlichen Ende, der trotz Umgestaltung immer noch kleiner war als viele Berliner S-Bahn-Stationen, bis zum Einkaufscenter am Südkopf, das gemeinsam mit zahlreichen anderen Geschäften und Lokalen um die Aufmerksamkeit und das Geld der VW-Angestellten und ihrer Familien buhlte – am aufdringlichsten: das Center mit den Designer-Outlets, das wie ein gestrandeter Ozeanriese schon am Bahnhof auf Neugierige und Kauflustige wartete. Mittendrin die lebensgroßen Wolfsplastiken, auf denen Kinder herumtollten, Volkshochschule und Rathaus, ein Kunstmuseum, das mehr Besucher von außerhalb anzog, als es Wolfsburger in die Ausstellungen lockte, und kleine Passagen, in denen Ärzte und teurere Läden residierten. Italienische Sprachfetzen flogen ihr zu. Berlins Türken, Wolfsburgs Italiener – vor dreißig Jahren waren sie in Gruppen, singend und Gitarre spielend, über die Berliner Brücke geschlendert, erinnerte Johanna sich plötzlich: Azzuro … Adriano Celentano. Oder lag das noch länger zurück? Die Pizzeria, in der Johanna damals regelmäßig ihre Pizza zum Mitnehmen gekauft hatte, war seinerzeit nur eine kleine Imbissbude gewesen, die hundert Meter im Umkreis ihren Käse-Tomaten-Salami-Duft verbreitet hatte. Die Bude existierte längst nicht mehr, an ihrer Stelle befand sich ein schickes Restaurant mit saftigen Preisen, die sich viele nicht mehr leisten konnten oder nur noch zu ganz besonderen Gelegenheiten. Auch VW hatte schließlich Federn lassen müssen. Hartz-IV-Empfänger zurückgelassen. Trotz Autostadt, Experimentiermuseum Phaeno, Designerläden, VW-Arena und Jazzfestival. Und das Jobcenter am nördlichen Ende der Porschestraße, das sprachlich und architektonisch ungleich flotter daherkam als das alte, biedere Arbeitsamt, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Lack ab war – zumindest an einigen Stellen. Johannas Mutter lamentierte bei ihren gelegentlichen Telefonaten immer darüber, wie wenig das Geld nur noch wert sei und dass sie – und nicht nur sie – inzwischen regelmäßig ihre Brötchen bei einer Vortagesbäckerei kaufen müsse. Brot von gestern als Geschäftsidee. Die fetten Jahre waren vorbei, bemerkte sie meist abschließend. Erst im Nachhinein zeigte sich, wie fett sie wirklich gewesen waren, und: Auch in Wolfsburg gab es monströse Hochhaussiedlungen, Gettobildung und Bandenkriminalität, wie Johanna sie aus Berlin-Neukölln und vielen anderen Städten kannte. Drogenhandel. Mord und Totschlag. Eine Fünfzehnjährige hatte in der Nähe des Allersees auf den Bahngleisen gelegen und war von einem Zug überrollt worden. Bis vor ein paar Tagen war man von einem tragischen Unfall ausgegangen. Johanna steckte sich den letzten Bissen in den Mund und wischte sich die Hände notdürftig an dem Papiertuch ab, in das das Brötchen eingewickelt gewesen war. Dann sah sie auf ihre Uhr. Bis zu ihrem Termin mit Kommissar Jürgen Reinders hatte sie noch eine gute Viertelstunde Zeit und konnte bequem zu Fuß zur Polizeiinspektion an der Heßlinger Straße gehen. Darüber hinaus hoffte sie, den Fischgeruch auf diese Weise zumindest teilweise wieder loszuwerden – Hering roch allerdings besonders intensiv. Daran hätte sie auch früher denken können. Johanna seufzte, aber ihr schlechtes Gewissen hielt sich in Grenzen. Reinders stand in der offenen Tür und starrte sie verblüfft an, nachdem Johanna sich vorgestellt hatte. Das war nicht neu. Natürlich wusste sie, wie sie auf andere wirkte, noch dazu auf diejenigen, die ihr zum ersten Mal gegenübertraten und sich ein gänzlich anderes Bild von einer BKA-Beamtin gemacht hatten, die eigens aus Berlin anreiste, um bei einem Fall unterstützend mitzuwirken. Manchmal reagierte sie genervt, häufig amüsiert. Reinders war ihr auf Anhieb sympathisch, und sie beschloss großmütig, es ihm nicht unnötig schwer zu machen. »Darf ich hereinkommen?« »Ja, ja, natürlich, entschuldigen Sie bitte …« Er fuhr sich mit beiden Händen durch sein schwarzes Haar und trat beiseite. »Ich hatte gedacht …« Johanna lächelte. »Wen haben Sie erwartet – Iris Berben?« Er lächelte zurück und bekam rote Ohren. »Tja, ich weiß nicht, aber es tut mir leid, wenn ich Sie …« »Vergessen Sie es.« Das Büro war mit einigen persönlichen Utensilien – Pflanzen, mehreren Bildern an den Wänden und Fotos auf dem Schreibtisch – wohnlich gestaltet. Offensichtlich war Reinders, den sie auf Mitte dreißig schätzte, glücklich verheiratet, Vater einer kleinen Tochter und Squashspieler. Sie nahmen an einem Tisch unter dem Fenster Platz, nachdem Reinders Kaffee geordert hatte. »Hatten Sie eine angenehme Fahrt?«, fragte er höflich. »Alles bestens – zweieinhalb Stunden, keine Staus.« Reinders nickte. »Die A 2 ist ja nicht ohne. Also, ich kann Ihnen sagen, ich stand da schon Stunden …« Johanna winkte ab. Jeder, der häufiger die A 2 benutzte, hatte schon viele Stunden Lebenszeit im Stau stehend vergeudet, insbesondere damals – nach der Grenzöffnung. Die Frage nach einem weiteren halbwegs geistreichen Smalltalkbeitrag erübrigte sich, als die Tür sich nach einmaligem Klopfen öffnete und eine junge Frau in dunkelblauer Uniform mit einem Tablett beladen eintrat. Sofort verbreitete sich Kaffeeduft. Reinders stand eilig auf und ging der Kollegin entgegen. »Darf ich vorstellen, Frau Krass – das ist Sofia Beran, Polizeiobermeisterin. Sie hatte in der Nacht Dienst, als das Mädchen gefunden wurde. Ich denke, es ist eine gute Idee, wenn Sie gleich mit …« »Das ist sogar eine sehr gute Idee.« Johanna schätzte die junge Polizistin mit dem aparten Gesicht und den rotblonden Locken auf Ende zwanzig. Falls sie über die äußere Erscheinung der BKA-Beamtin verwirrt war, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Oder kaum. Ihr Händedruck war erfreulich fest, und sie hatte keine Mühe, Johanna direkt ins Gesicht zu sehen. Reinders verteilte die Kaffeetassen, nachdem Sofia Beran sich zu ihnen gesetzt hatte. Johanna beschloss, ausnahmsweise einmal nicht nach Keksen zu fragen. Der Hering lag ihr plötzlich ungewöhnlich schwer im Magen. Reinders stellte seine Tasse laut klappernd ab und sah Johanna fragend an. »Wollen wir anfangen?« »Nur zu.« »Einen groben Überblick dürften Sie sich ja bereits verschafft haben, aber ich leg einfach mal los.« Reinders angelte sich einen Ordner von seinem Schreibtisch. »Okay, beginnen wir mit dem Mädchen: Karen Milbert, fünfzehn Jahre alt, sie besuchte das Gymnasium am Schulzentrum Kreuzheide in der Nordstadt«, referierte er leise und räusperte sich. »Vor knapp drei Monaten, Ende August, wurde sie zwischen Wolfsburg und Vorsfelde – die Stadt ist ein Ortsteil von Wolfsburg und gehört seit der Gebietsreform … »… zur Stadt Wolfsburg, ich weiß«, unterbrach Johanna ihn. »Ach?« »Ich bin in Braunschweig und Wolfsburg aufgewachsen«, erläuterte Johanna. Und auch in Kreuzheide zur Schule gegangen, fügte sie lautlos hinzu. »Oh, das wusste ich nicht. Was für ein Zufall.« Reinders lächelte erfreut. »Na, dann kennen Sie sich ja bestens hier aus … Also – das Mädchen ist in der Nähe des Allersees am Mittellandkanal vom ICE-Nachtzug überfahren worden.« Er nickte Beran zu. »Zeig das mal auf der Karte.« Die Polizistin stand auf und trat an die Wandkarte. Johanna erhob sich ebenfalls, stellte sich neben sie und sah zu, wie Beran der Bahnstrecke mit dem Finger vom Hauptbahnhof in Richtung Osten folgte. Ein ganzes Stück verliefen die Gleise direkt am Mittellandkanal entlang, bis dieser kurz vor Vorsfelde einen Schwenk nach links beschrieb, während die Bahnstrecke schnurgerade weiter nach Osten führte. An der Stelle, wo der Kanalverlauf sich zu ändern begann, wurde Berans Finger langsamer und stoppte schließlich. »Sehen Sie – hier driften die Gleise und der Kanal auseinander, und die Fläche dazwischen wird von einem Wäldchen eingenommen. Ungefähr dreihundert Meter vor Ortsbeginn Vorsfelde-Süd hat das Mädchen auf den Gleisen gelegen. Der ICE hatte bereits ordentlich Fahrt aufgenommen und konnte nicht mehr abbremsen …« Die Strecke am Kanal entlang kannte Johanna wie ihre Westentasche. Unzählige Male war sie als junges Mädchen die vier, fünf Kilometer von der Teichbreite in der Nordstadt...