Peerbeziehungen als Bildungsfaktor
E-Book, Deutsch, 231 Seiten
ISBN: 978-3-17-036682-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Vorwort
Dieser herausgegebene Band ist in einer Zeit entstanden, in der die Welt von einer Pandemie im Griff gehalten wird, die die Menschen nur überwinden können, indem sie ihre Kontakte zueinander auf ein absolutes Minimum reduzieren. Jede und jeder von uns hat in dieser Zeit auf ganz individuelle Weise erfahren, dass der tägliche Austausch mit anderen einen essenziellen Bestandteil des Lebens darstellt und dass der Verzicht darauf nicht nur dramatische volkswirtschaftliche und versorgungstechnische Konsequenzen hat, sondern auch soziale und psychologische. Der verminderte Kontakt zu anderen verändert insbesondere den Alltag vieler Kinder und Jugendlicher auf negative Weise. Denn auch dann, wenn sie das Glück haben, in sozial begünstigten Verhältnissen zu leben, müssen sie auf die emotionale Unterstützung, aber auch die kognitive Orientierungsfunktion verzichten, die Peers in regelmäßigen Interaktionen in Kita, Schule und Freizeit bieten – in einem Lebensalter, in dem die eigene Biographie erst in Grundzügen geschrieben, die Identität noch nicht gefestigt oder vollständig entwickelt ist. Auch wenn das Planen und Schreiben dieses Buches schon in der Zeit vor der Pandemie begannen, so hat sich doch die Relevanz der Themen, über die hier berichtet wird, in der Zeit der Krise besonders deutlich gezeigt: Die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen können wir nicht angemessen oder erschöpfend beschreiben, ohne die Einflüsse zu berücksichtigen, die sie wechselseitig aufeinander haben. Der Einfluss der Peers entfaltet sich in kleinen oder größeren Gruppen; er wird deutlich in formellen Bildungskontexten, z. B. in Kitas und Schulen, ebenso wie an informellen Lernorten, z. B. in den Familien oder Freizeiteinrichtungen. Die für die Beschreibung und Analyse von Peerbeziehungen bedeutsamen sozialökologischen und entwicklungspsychologischen Dimensionen werden in dem einleitenden Beitrag von Peter F. Titzmann und Philipp Jugert aufgespannt. Sie zeigen die Komplexität von Peerbeziehungen auf, die sich auf der Ebene von Freundschaften zwischen zwei Menschen, in Cliquen und der Jugendkultur ausdrückt. Besondere Aufmerksamkeit erfährt in ihrem Kapitel das Jugendalter, denn diese Lebensphase bringt Entwicklungsaufgaben mit sich, die insbesondere auch innerhalb von Peerbeziehungen bearbeitet und gelöst werden. Im Einführungsteil des Buches wird weitergehend auf die methodischen Herausforderungen eingegangen, denen sich Forschende und pädagogische Fachkräfte gegenübersehen, wenn sie Peerbeziehungen systematisch beschreiben und analysieren wollen. Thorsten Henke stellt Verfahren für die Messung von Peerbeziehungen im Klassenzimmer dar, mit denen u. a. auch wechselseitige Einflüsse zwischen Peers abgebildet werden können. Studierende und in der Praxis tätige Lehrkräfte lernen in diesem Kapitel Fragebögen zur Erfassung der subjektiven Integration in Peerbeziehungen kennen und erhalten Hinweise darauf, wie sie soziometrische Befragungen im Klassenzimmer durchführen und auswerten können. Der zweite Abschnitt des Buches, »Förderliche und hinderliche Einflüsse der Peers auf den Erwerb fachlicher und fachübergreifender Kompetenzen«, vereint Aufsätze, in denen Auswirkungen von Peerbeziehungen analysiert werden. Dabei wird deutlich, dass Peers sich in der Entwicklung ihres Verhaltens, ihrer Kompetenzen und Einstellungen sowohl in günstiger als auch ungünstiger Weise wechselseitig beeinflussen können. Marion Reindl beschreibt in ihrem Beitrag die verschiedenen Mechanismen, über die sich Peerbeziehungen auf Merkmale auswirken, die im Kontext der Schule von besonderer Bedeutung sind, nämlich auf die Motivation und die schulischen Leistungen der Lernenden. Im Kapitel von Christoph M. Müller werden die Herausbildung prosozialer Verhaltensweisen und die Verstärkung antisozialer Verhaltensweisen in Peerbeziehungen im Klassenzimmer dargestellt. Es wird aufgezeigt, warum nicht alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen empfänglich für Peereinflüsse sind und wie Eltern oder Lehrkräfte wünschenswerte Einflüsse von Peers verstärken und negative Einflüsse abschwächen können. Christine Schmid und Burkhard Gniewosz beleuchten die Bedeutung der Peers für die Entwicklung politischen Engagements im Jugendalter. Sie arbeiten heraus, dass Jugendliche sich Freundschaftscliquen anschließen, die ihre eigenen politischen Einstellungen widerspiegeln, und sich innerhalb dieser Cliquen in ihren Einstellungen über die Zeit noch ähnlicher werden. Dabei erläutern sie die diesen Veränderungen zugrundliegenden psychologischen Prozesse, beispielsweise das Lernen am Modell und die soziale Identitätsentwicklung. Belinda Berweger und Bärbel Kracke untersuchen die Bedeutung von Peers in beruflichen Orientierungs- und Entscheidungsprozessen. Der Entscheidung (Commitment) für einen Ausbildungsgang oder einen bestimmten Beruf geht die Exploration verschiedener Optionen voraus, bei der Jugendliche individuelle Interessen und Fähigkeiten ausloten und mit den Anforderungen der beruflichen Umwelt, aber auch mit den beruflichen Ambitionen ihrer Peers und den im Umfeld gültigen Peernormen abgleichen. Peers können auf diese Weise den Berufsfindungsprozess fördern, weil sie Informationen und emotionale Unterstützung bieten können. Die Autorinnen stellen jedoch auch dar, wie nachteilige Peereffekte entstehen können, wenn Jugendliche in dem Streben, mit Peernormen konform zu gehen, eigene Entwicklungspotenziale ungenutzt lassen. Im dritten Teil des Buches, »Heterogenität und Peerbeziehungen«, werden Merkmale in den Blick genommen, anhand derer sich Kinder und Jugendliche, die in gemeinsame Peerbeziehungen einbezogen sind, unterscheiden können. Der einleitende Beitrag von Hanna Dumont beschäftigt sich mit Kompositionseffekten schulischer Lerngruppen, die einen eigenständigen Beitrag zur Erklärung von Unterschieden in der Lern- und Leistungsentwicklung verschiedener Gruppen von Schülerinnen und Schülern liefern. Mit ihrem Kapitel möchte sie Antworten darauf geben, wie Lehrkräfte zunehmender Heterogenität in Schulen und Schulklassen Rechnung tragen können. Bettina Hannover stellt in ihrem Kapitel dar, warum Menschen soziale Interaktionen mit gleichgeschlechtlichen (relativ zu andersgeschlechtlichen) Peers präfieren. Sie zeigt auf, dass die überwiegenden Interaktionen mit gleichgeschlechtlichen Peers Geschlechtstypisierung in Verhalten und fachlichen Präferenzen begünstigen. Abschließend diskutiert sie, wie Lehrkräfte Peerinteraktionen über Geschlechtergrenzen hinweg anregen können. Das besondere Potenzial kulturell und ethnisch heterogener Klassenzimmer, Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Gruppen über kooperative Lernformen zusammenzuführen, ist Ausgangspunkt des Beitrags von Lysann Zander. Dabei stellt die Überwindung der Tendenz, bevorzugt mit ähnlichen Mitschülern und Mitschülerinnen zu interagieren, eine Herausforderung für Lehrkräfte dar. Das Kapitel gibt folglich verschiedene forschungsbasierte Anregungen, wie Schulen als Institutionen sowie Lehrpersonen dazu beitragen können, freundschaftliche und kooperative Beziehungen zwischen Peers mit und ohne Zuwanderungshintergrund zu stärken. Jürgen Wilbert und Johanna Krull zeigen auf, dass Kinder und Jugendliche mit Lern- und Verhaltensauffälligkeiten von sozialer Ausgrenzung in Peerkontexten bedroht sind. Nach einer Darstellung möglicher Ursachen und Erklärungsansätze wird beschrieben, wie Lehrkräfte Beziehungen zwischen allen Schülerinnen und Schülern einer Klasse verbessern und die soziale Teilhabe von Lernenden mit Lern- und Verhaltensauffälligkeiten fördern können. Im vierten Abschnitt des Buches, »Aufbau und Gestaltung positiver Peerbeziehungen. Voraussetzungen und Interventionsansätze«, wird die Frage in den Blick genommen, wie Peerbeziehungen in institutionalisierten Bildungskontexten gefördert werden können. Katja Bianchy und Susanne Jurkowski arbeiten in ihrem Kapitel heraus, dass Erziehende und Lehrende durch die Art und Weise, in der sie ihre eigenen Beziehungen zu den Kindern und Jugendlichen gestalten, selbst zum Modell für Peerbeziehungen werden können. Auch durch die gezielte Gestaltung von Interaktionssituationen können Erziehungs- und Lehrpersonen positive Interaktionserfahrungen und sozial-emotionale Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen fördern, was sie am Beispiel zweier Förderprogramme veranschaulichen. Marvin Harks geht in seinem Beitrag darauf ein, welche Kompetenzen Lehrkräfte für eine zielgerichtete Förderung von Peerbeziehungen im Klassenzimmer benötigen. Präzises Wissen über die Peerbeziehungen in der Klasse sowie die Einstellung, als Lehrkraft für die Beziehungsgestaltung verantwortlich zu sein, werden als zwei zentrale, sich gegenseitig beeinflussende Voraussetzungen...