Festschrift für Erika Fischer-Lichte
E-Book, Deutsch, 325 Seiten
ISBN: 978-3-7720-0242-7
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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„Si vis me flere…“
Emotionen als Chance und Herausforderung für die Theaterhistoriographie Clemens Risi Wie Riccoboni so gar habe behaupten können, der Schauspiehler müsse sich hüten, sich zu sehr in die Empfindung seiner Role hineinzusezen, aus Furcht die Regeln darüber zu vergessen, verstehe ich nicht. […] Je mehr […] der Schauspiehler von dem wahren Gefühl seiner Role in sich erweken kann, je sicherer wird er sie auch ausdruken, und Zuschauer, denen es um würkliche Rührung zu thun ist, werden es ihm sehr gerne vergeben, wenn der Schmerz oder die Freude ihn verleiten, die Aerme höher auszustreken, oder die Füße weiter auseinander zu sezen, als der Tanzmeister es vorschreibt. (Sulzer 1774: 10) Hatte Horaz also recht, als er in seiner Ars poetica die berühmte Forderung aussprach? „si vis me flere, dolendum est / primum ipsi tibi“ – „Willst du, daß ich weine, so traure erst einmal selbst.“ (1972: 101ff.) Und weiter gefragt: Ist es für die Übertragung von Affekten dienlicher, ein Regelsystem zu befolgen oder gar effektvoller, sich jenseits der Regeln zu bewegen? Der eingangs zitierte Johann Georg Sulzer hat sich jedenfalls entschieden. Um die Frage, wie Schauspieler:innen sich zu den von ihnen darzustellenden Emotionen verhalten sollen, ob sie diese in sich selbst erregen und fühlen sollen oder im Gegenteil gerade nicht durchleben dürfen, um sich von den Gefühlen nicht mitreißen zu lassen, sondern in Distanz zum Gefühl die äußerlichen Zeichen des Körpers ausführen sollen, kreisen die Schauspieltheorien nicht erst und nicht nur, aber ganz besonders jene des 18. Jahrhunderts in immer wieder neuen Aushandlungen. Dass die Positionen beileibe nicht geklärt sind und die Re-?Lektüre scheinbar bekannter Quellen interessante neue Einsichten zutage fördern kann, haben am Beispiel der schauspieltheoretischen Quellen neben Erika Fischer-?Lichte (1993) u.a. auch Klaus Schwind (1996; 1999), Jens Roselt (2005), Peter-?André Alt (2008) und Doris Kolesch (2009) vorgeführt. Re-?Lektüre als immer wieder neue Auseinandersetzung mit scheinbar geklärten Positionen, als aktiver Prozess, Geschichte zu schreiben, Geschichte immer neu zu schreiben – im Bewusstsein der aktiven, produktiven, konstruierenden Rolle des Schreibenden – ist das, was mich an der Theaterhistoriographie fasziniert und was ich immer wieder von Erika Fischer-?Lichte lernen durfte. Dass dies im Falle des Theaters, der flüchtigen, in Lessings Worten „transitorischen“ Kunst des Theaters, besonders herausfordernd ist, hat schon derselbe Lessing selbst hervorgehoben, als er in seinen Ausführungen zur Aufgabe der Theaterkritik meinte: […] die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhafteren Eindruck auf jenen gemacht hat. (Lessing 1981 [1767]: 12) Es ist die Rolle und Bedeutung der Zuschauenden im Prozess der Aufführung, die von Lessing hier betont wird und die für eine performativitätstheoretische Perspektive von Theaterhistoriographie, wie ich sie im Folgenden einnehmen möchte, zentral ist. Wenn man die performative Dimension einer Aufführung als einen Prozess begreift, der sich zwischen ausführenden Akteur:innen und wahrnehmenden Rezipient:innen ereignet – in Goethes Worten: „Die Bühne und der Saal, die Schauspieler und die Zuschauer machen erst ein Ganzes“ (nach Krippendorff 2005: 183), mit Erika Fischer-?Lichtes Ästhetik des Performativen einschlägig als autopoietische Feedbackschleife bekannt –, so ist zu fragen, wie diese besondere Relation theoretisch und analytisch zu erfassen ist, ganz besonders, wenn es sich um Aufführungen der Vergangenheit handelt. Es soll im Folgenden um die dringliche Frage gehen, wie über die Aufführungsdimension von performativen Konstellationen der Kopräsenz von Agierenden und Zuschauenden zu handeln sei, die vergangen sind. Ich möchte vorschlagen – inspiriert von der aktuellen Emotionsforschung –, dass der Blick auf und die Auseinandersetzung mit Emotionen in herausragender Weise geeignet ist für eine performativitätstheoretische Perspektive auf Theaterhistoriographie. Dafür möchte ich mir zwei zentrale und bereits viel diskutierte Quellen der Theatergeschichte, genauer: der Geschichte der Schauspieltheorie, noch einmal vornehmen und mit einer doppelten Fragestellung neu zum Quillen bringen: die Dissertatio de actione scenica, also die Abhandlung über die Schauspielkunst des Jesuitenpaters Franciscus Lang, erarbeitet während seines langen Wirkens als Lehrer und Leiter verschiedener Stationen des Jesuitenordens und -theaters seit 1678, geschrieben in den letzten Jahren vor seinem Tod, zwischen 1720 und 1725, und zwei Jahre nach seinem Tod – 1727 – postum veröffentlicht, sowie Goethes Regeln für Schauspieler, 1803 als Anweisungen für „die aus Augsburg nach Weimar gereisten Eleven Karl Franz Grüner und Pius Alexander Wolff“ zusammengestellt und „nach seinem Tod durch Eckermann […] im vierten Nachlaßband der Ausgabe letzter Hand auf der Grundlage einer Mitschrift von Goethes Schreiber Geist publiziert“ (Alt 2008: 24). Vornehmen möchte ich mir diese beiden Klassiker der Geschichte der Schauspieltheorie unter einer doppelten Fragestellung: grundsätzlich unter der Frage, welcher Umgang mit den Quellen es ermöglichen kann, einer theatralen Praxis einer vergangenen Epoche näher zu kommen, eine Spur davon zu entdecken, eine Spur, die zwar zarter und dünner ist als die breiten, neu gelegten Spuren der vielen, gerade in letzter Zeit vermehrt praktizierten Rekonstruktions-?Versuche, dabei aber vielleicht aussagekräftiger. Und zweitens die These verfolgend, dass für diesen Fokus die Emotionen gleichzeitig in idealer Weise geeignet sind und dabei auch die größten Probleme bereiten. Es geht mir dabei nicht in erster Linie um die Frage nach den je Epoche und Kultur unterschiedlichen Definitionen oder Codierungen von Affekten und Emotionen oder um die Frage nach dem Prozess der Zivilisation im Angesicht der Affektregulierung, die Norbert Elias aufgeworfen hat, sondern darum, inwiefern das performative Potential von Affekten und Emotionen in ihrer doppelten Funktion im Theater, nämlich als Ausdruck und Übertragung sowohl eine Chance als auch eine Krise für die Theaterhistoriographie bedeuten kann. Die Frage, ob zur Affektübertragung heiße oder kalte Schauspieler:innen geeigneter sind, tritt dabei vor derjenigen nach der Wirkweise zurück. Was die im historischen Kontext natürlich notwendige Differenzierung der Begriffe Emotion, Affekt, Leidenschaft und Gefühl angeht, so möchte ich um die Lizenz zu einer gewissen Großzügigkeit bitten, da ich eher auf die übergreifenden Prozesse der Übertragung abziele, als auf die Fragen nach dem Ursprung der Empfindung – von außen über den Menschen hereinbrechend, also Affekt, oder aus seinem Inneren erwachsend, Emotion – oder nach der Dauer der Empfindung – etwa bei Kant die Unterscheidung zwischen Leidenschaft als lang anhaltend im Gegensatz zum überraschenden „Affect“. Franciscus Langs Unternehmung, eine Abhandlung über die Schauspielkunst zu schreiben, beginnt mit der für meine Fragestellung einschlägigen Definition von Schauspielkunst: „Als Schauspielkunst in meinem Sinne bezeichne ich die schickliche Biegsamkeit des ganzen Körpers und der Stimme, die geeignet ist, Affekte zu erregen“ (Lang 1975 [1727]: 163). Eine ähnlich prominente Rolle hat Goethe für die Emotionen in seinen Regeln nicht vorgesehen. Vorderhand stehen bei Goethe gerade nicht die Emotionen im Vordergrund, sondern die von allen Eigenmächtigkeiten und Idiosynkrasien der Schauspieler:innen gereinigte bzw. zu reinigende, ideale Vermittlung dichterischer Absicht auf der Bühne. Mehrfach möchte Goethe sein Erziehungsprogramm gar explizit vom Einfluss der Leidenschaften abgegrenzt wissen, insbesondere wenn es um das Einüben neuer Rollen geht: Bevor man […] seinem Gedächtnis etwas anvertrauen will, lese man langsam und wohlbedächtig das zum Auswendiglernen bestimmte. Man vermeide dabei alle Leidenschaft, alle Deklamation, alles Spiel der Einbildungskraft […]. (nach Krippendorff 2005: 171) Doch blickt man einmal über die Regeln hinaus, sind bei der Beurteilung eines Schauspielers auch für Goethe die Emotionen von zentraler Bedeutung. In einem Bericht über die Eröffnung des neuen Theaters in Weimar und die Uraufführung von Schillers Wallenstein 1798 schreibt Goethe: In der gefühlvollen Darstellung unsers Graff erschien die dunkle, tiefe, mystische Natur des Helden vorzüglich glücklich; was er sprach war empfunden und kam aus dem innersten. […] Vohs, als Max Piccolomini, war die Freude des Publikums […]. […] das feinste zarteste Gefühl wußte er am glücklichsten auszudrücken. Der Auftritt, wo er Wallenstein von der unglücklichen Tat zurückzubringen bemüht ist, war sein Triumph, und die Tränen der Zuschauer bezeugten die eindringliche Wahrheit seines Vortrags. (nach Krippendorff 2005: 222) Und im April 1825 bemerkte Goethe in einem Gespräch mit Eckermann: Würden die Schauspieler durch öftere Wiederholung sich in ihre Rollen so hineinspielen, daß die Darstellung ein Leben gewönne, als wäre es nicht eingelernt, sondern als entquölle Alles aus ihrem eigenen Herzen, so würde das Publikum sicher auch nicht ohne Interesse und ohne Empfindung bleiben. (nach Krippendorff 2005: 104) Aus...