E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: Praxiswissen
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: Praxiswissen
ISBN: 978-3-96605-083-8
Verlag: Psychiatrie-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es ist eine alltägliche Erfahrung, dass Klientinnen und Klienten therapeutische Maßnahmen nicht oder nur teilweise umsetzen. Wenn zunächst vereinbarte Ziele später nicht eingehalten werden, kann es sein, dass im Vereinbarungsprozess nicht alle relevanten Motive berücksichtigt wurden und nicht erkannte Ambivalenzen im Spiel waren. Ein erfolgreiches Kommunikationskonzept sorgt in diesen Situationen für Klarheit und Entschlossenheit!
Dieses Buch nimmt klassische akutpsychiatrische Situationen in den Fokus. Konkrete Beispiele zeigen: Ob es um das Gestalten von Beziehungen geht, soziale Probleme, das Einhalten von Regeln, die Einnahme von Medikamenten oder auch um Suizidalität – mit den Grundelementen und Strategien der Motivierenden Gesprächsführung lassen sich Widerstände aufgreifen und gemeinsam getragene und erreichbare Ziele finden.
Zielgruppe
Zielgruppen: psychiatrisch Tätige aller Berufsgruppen, wie Ärzt*innen, Pflegekräfte und Therapeut*innen, Sozialarbeitende und Betreuende.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Helfende Beziehungen: Was ist Motivierende Gesprächsführung? – 7
Was kann Motivierende Gesprächsführung leisten?– 13
Motivierende Gesprächsführung und Selbstbestimmung– 19
Von Compliance zu Adherence. 20
Adherence als Schlüsselfaktor bei langfristigem Krankheitsmanagement. 24
Non-Compliance als Chance und therapeutische Herausforderung. 28
Grundlagen der Motivierenden Gesprächsführung in der Psychiatrie – 32
'Spirit': die therapeutische Grundhaltung. 33
Folgen, Führen, Dirigieren. 37
Motivation versus Ambivalenz. 40
Wichtigkeit und Zuversicht. 43
Phasen der Veränderung. 45
Vier Prozesse – fünf Kernkompetenzen– 50
Vom Beziehungsaufbau zur Veränderungsplanung. 50
Kernkompetenzen der Motivierenden Gesprächsführung. 59
Geschmeidig und konstruktiv mit Sustain Talk
und Dissonanz umgehen– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 73
Veränderungskritisches Verhalten. 73
Strategien zum Umgang mit Sustain Talk und Dissonanz. 75
Die Eigenverantwortung stärken. 79
Praxis der Motivierenden Gesprächsführung in der Psychiatrie – 96
Erstkontakt in der psychiatrischen Institutsambulanz. 97
Erstkontakt im stationären Rahmen als Folge einer Notaufnahme. 101
Klärung der Anschlussperspektive. 105
Psychopharmaka – Vorteile und Nachteile. 112
Psychopharmaka: ein wohlgestaltetes Ziel finden, Verbindlichkeit stärken. 117
Einhalten verbindlicher Strukturen im Betreuten Wohnen. 122
Suizidale Krise in einer rezidivierenden Depression. 128
Das Chaos lichten – soziale Probleme einer Drogenabhängigen. 137
Emotional instabil, impulsiv, antisozial – Beziehungen gestalten. 141
Zum Schluss: einige Erfahrungen von Mitarbeitern mit der Motivierenden Gesprächsführung– – – – – – – – – – – – – 150
Ausgewählte Literatur– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 156
Grundlagen der Motivierenden Gesprächsführung in der Psychiatrie
Eine Bereitschaft zur Therapie impliziert nicht automatisch eine Veränderungsbereitschaft. Diese muss therapeutisch oft erst erarbeitet werden. Wir müssen Tag für Tag wachsam den Verlauf der Motivation beobachten und widerspiegeln; tun wir das nicht, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass unsere Interventionen die Patienten nicht dort »abholen, wo sie stehen«, sondern eher dort, wo wir meinen, dass sie stehen sollten. Das führt oftmals zu ungeduldigen oder den Patienten belehrenden therapeutischen Anweisungen, die erfahrungsgemäß zu keinerlei Verhaltensänderung führen. »Spirit«: die therapeutische Grundhaltung
Empathie hilft den Behandlern, die Patienten besser zu verstehen, und den Patienten, sich selbst in ihrer Eigenart besser zu akzeptieren. Motivierende Gesprächsführung hilft uns dabei. Sie betont die Autonomie der Patientin, und zwar auch dort, wo wir die Dinge anders sehen als sie. Hier nicht in Überheblichkeit oder Ironie zu verfallen, sondern zu versuchen, die Sichtweise der Patientin zu verstehen, ohne sie zu bewerten, also Akzeptanz im Rogers’schen Sinne aufzubringen (ROGERS 1951), das ist letztlich der Schlüssel zu einem konstruktiven Arbeitsbündnis. BEISPIEL Stellen Sie sich den Tagesklinikpatienten mit einer sozialen Phobie vor, der im Gruppentraining soziale Kompetenzen übt und in Einzeltherapie lernt, mit schwierigen sozialen Situationen umzugehen. Nun hat er den siebzigsten Geburtstag seines immer als dominant erlebten Vaters vor Augen. Er lädt ihn und seine Geschwister zu einem von ihm selbst zubereiteten Essen ein. Wochenlang beschäftigt er sich in der Therapie damit, wälzt Kochbücher, kauft ein, legt die Sitzordnung fest etc. Er wird zunehmend angespannter. Am Tag vor dem großen Fest geht es ihm körperlich (Magen-Darm) und psychisch (Angst) schlecht, am Abend sagt er die Feier ab. In der gemeinsamen Reflexion stellen Patient und behandelnde Psychologin fest, dass die Einladung von Anfang an »eine Nummer zu groß« war, dass der Patient mehrfach zaghaft versucht hat, auszuweichen, was allerdings von der Psychologin als Angstsymptom gedeutet und »bearbeitet« wurde. Der Psychologin wird deutlich, dass es ihr Ziel war, den Patienten dahin zu bringen, eine solche Einladung zu wagen, dass sie in diesem Bemühen die Signale des Patienten nicht wahr- bzw. ernst genommen hat. Motivierende Gesprächsführung hätte hier bedeutet, gemeinsam mit dem Patienten die Hindernisse konsequent im Vorfeld auszuloten. Möglicherweise wäre man dann auf ein Ziel gekommen, das der Patient gut bewältigt hätte, zum Beispiel mit dem Vater allein spazieren zu gehen. Motivierende Gesprächsführung heißt oftmals für Behandelnde, von den eigenen, hochgesteckten Zielen Abstand zu nehmen. Wenn Therapieziele gemeinsam mit den Patienten festgelegt werden, sind sie in der Regel kleiner, dafür aber realistischer. Kleine Ziele bergen eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit (Ergebniserwartung), und ein Erfolg stärkt die Selbstwirksamkeit. Beides sind nach Albert BANDURAS sozial-kognitiver Theorie (1979) notwendige Voraussetzungen für Intentionsbildung und Verhaltensänderung, oder – wie es HECKHAUSEN & GOLLWITZER (1987) ausdrückten – notwendige Voraussetzungen für das Überschreitens des »Rubikons«: vom Wollen zum Handeln. Folgen, Führen, Dirigieren
FOLGEN Following oder Folgen meint, gut zuzuhören und jemandem die volle Aufmerksamkeit zu schenken, die Welt des anderen wertfrei zu sehen und zu verstehen versuchen. FÜHREN Guiding oder Führen meint, jemandem zu helfen, seinen Weg zu finden, indem man das Wissen um Wege und Alternativen weitergibt. DIRIGIEREN Directing oder Dirigieren meint, die Verantwortung zu übernehmen, zumindest für eine gewisse Zeit. ABBILDUNG 2 Behandlungsstil und Interventionsschwerpunkte In der psychiatrischen Behandlung brauchen wir alle drei Behandlungsstile. Oftmals in akuten Situationen einen direktiven, in post-akuten Phasen einen folgenden und in Phasen der Perspektivplanung einen führenden Stil. Im weiteren Verlauf dieses Buches werden wir immer wieder auf diese Trias zurückkommen. Motivation versus Ambivalenz
»Ich werde in Zukunft in Situationen, in denen die Panik aufsteigt, meinen Notfallkoffer nutzen und zum Beispiel ein Chili-Bonbon lutschen.« »Ich werde in Zukunft die Neuroleptika so nehmen, wie Sie sie mir verordnet haben.« »Ich werde regelmäßig an der DBT-Gruppe teilnehmen.« Doch viele unserer guten und richtigen Vorsätze halten wir schon bald nicht mehr durch. Das Phänomen, das hier angesprochen wird, heißt »Ambivalenz«. Der Begriff setzt sich zusammen aus den lateinischen Worten »ambi« = beide, doppelt; »valere« = stark sein. Wenn wir von Ambivalenz sprechen, sprechen wir von Gedanken, Gefühlen, Empfindungen oder Verhaltensweisen, die einander widersprechen, aber gleichzeitig vorhanden sind. »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«, klagt Faust. Ambivalenz ist ein Begleiter aller wichtigen Lebensentscheidungen und häufige Begleiterscheinung von Krisen: »Ein Agoraphobiker könnte sagen: ›Ich möchte gern ausgehen, habe aber Angst, dass ich die Kontrolle verlieren könnte‹, ein depressiver und sozial isolierter Patient: ›Ich wäre gern mit Leuten zusammen, aber ich fühle mich unattraktiv‹, ein Patient mit Waschzwang oder Kontrollzwängen versucht immer wieder verzweifelt, Rituale zu vermeiden und fühlt sich gleichzeitig angstvoll dazu getrieben, diese auszuführen« (MILLER & ROLLNICK 2004, S. 31). ABBILDUNG 3 Vor- und Nachteils-Waage bei Neuroleptikaeinnahme Vorteile des Status quo Nachteile des Status quo - Fühle mich frei - Bin jetzt in der Klinik - Habe meine Ruhe - Bin allein - Habe Lust auf Sex - Trinke zuviel Alkohol Nachteile einer Änderung Vorteile einer Änderung - Würde mich gezwungen fühlen - Könnte meine Wohnung halten - Hätte seltener meine Ruhe - Hätte mehr zu tun - Vielleicht keine Lust auf Sex - Würde vielleicht eine nette Frau kennen lernen Das Erstellen einer solchen Waage oder auch einer schlichten Vorteil-Nachteil-Liste mit allen vom Patienten geäußerten Aspekten führt in der Regel zu einer differenzierteren Sicht auf das individuelle Lebenskonzept. Diese stellt wiederum die Basis einer stabilen Ände rungsmotivation und einer individuell abgestimmten differenzierten Zielfindung dar. > Behandlungsziele, Seiten 100 f., 110 f. Der erste Schritt zur Motivation von Patienten mit psychischen Problemen ist die Anerkennung ihrer Ambivalenz gegenüber einer Verhaltensänderung. Es ist häufig zu beobachten, dass Menschen ihre Aufmerksamkeit auf die gegenüberliegende Seite verlagern, sobald sich die Waage zu einer Seite neigt. Menschen in einem Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt bringen fast regelhaft bei einer Überbetonung einer Seite der Ambivalenz die andere ins Spiel. Das heißt, Behandler sind gut beraten, alle Vor- und Nachteile einer möglichen Behandlung zu diskutieren. Wer beispielsweise ausschließlich die negativen Folgen eines Medikamentenverzichts in den...