E-Book, Deutsch, 586 Seiten
Kreis Selbermachen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-593-44388-1
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine andere Geschichte des Konsumzeitalters
E-Book, Deutsch, 586 Seiten
ISBN: 978-3-593-44388-1
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vom Heimwerken bis zum Kuchenbacken: Warum stellen viele Menschen selbst her, was sie auch kaufen könnten? Der Blick auf Praktiken des Selbermachens eröffnet eine ganz neue Perspektive auf die Konsumgeschichte. Diese historische Studie (1880-1990) zeigt Selbermachen als Praxis, als großen Markt und als »moral economy«, in der Versorgungsfragen an Vorstellungen über richtiges und falsches Handeln, Identitäten und Rollenbilder gekoppelt waren. So wird sichtbar, wie sehr gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung von der Frage geprägt sind: Selbermachen oder Kaufen?
Reinhild Kreis ist Professorin für die Geschichte der Gegenwart an der Universität Siegen.
Autoren/Hrsg.
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2.Anleitungen zum Selbermachen
Kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert plante Thusnelda, ein junges Mädchen, mit ihren Freundinnen eine Fahrradtour. Ihre Großmutter riet Thusnelda jedoch davon ab und empfahl ihr, lieber spinnen zu lernen und ihre Aussteuer anzufertigen: »Spinnräder wären gescheiter [als Fahrräder, R. K.]. Aber die gute alte Zeit ist vorbei, da die Mädchen gesponnen und Kisten und Kasten voll Linnen und Weißzug waren, heutzutag wird alles fix und fein eingekauft, wenn’s an die Aussteuer geht.«134 Nach einigen Auseinandersetzungen sah Thusnelda schließlich ein, dass die Großmutter recht hatte, sagte die Radtour ab und lernte spinnen. Thusnelda und ihre Großmutter waren die Hauptcharaktere eines Sittenspiels, dessen Aufführung der Badische Hausfrauenverein 1902 organisiert hatte. Auch Großherzogin Luise, eine große Befürworterin der weiblichen Handarbeiten, war zugegen. Das Stück verband Unterhaltung mit einer pädagogischen Botschaft: Auch im Zeitalter der industriell in Massenfertigung hergestellten Textilien sollten junge Mädchen erzogen werden, zu spinnen und ihre Leib-, Bett- und Tischwäsche selbst herzustellen. Die Mädchen aus Thusneldas Generation beherrschten diese Techniken anscheinend nicht mehr. Sie sollten sie wieder lernen. Theaterstücke wie dieses waren Teil vielfältiger Bestrebungen ab dem späten 19. Jahrhundert, Praktiken des Selbermachens zu fördern. Diese waren nicht länger selbstverständlich, sodass die damit verbundenen Wissensbestände und Fertigkeiten verloren zu gehen drohten. Entsprechende Bestrebungen richteten sich nicht nur auf weibliches Handarbeiten, sondern auf eine ganze Bandbreite an Tätigkeiten, die erhalten oder gefördert werden sollten. Je nach Zusammenhang variierten Ziele, AdressatInnenkreis und Methoden. Jemanden anzuleiten, setzt den bewussten Wunsch voraus, etwas zielgerichtet vermitteln zu wollen, und damit auch eine genaue Definition des zu erreichenden Zieles. Welches Produkt, welche Meinung, welches Verhalten oder welche Kompetenzen sollten am Ende des angeleiteten Prozesses stehen? Auf welche Weise und unter Zuhilfenahme welcher Werkzeuge und Materialien sollte etwas selbstgemacht werden? Was auch immer durch die Anleitung vermittelt werden soll, ist keine Selbstverständlichkeit (mehr), sondern die Antwort auf ein wahrgenommenes Defizit, wie das Beispiel der Theateraufführung zeigt. Zwischen Defizitwahrnehmung und Wunschzustand liegt die Anleitung, also die systematische, schrittweise und zielgerichtete Unterweisung anderer. Wie jede andere Anleitung basierten auch die Bestrebungen zur Förderung des Selbermachens auf der Vermittlung entsprechender Kenntnisse, Fertigkeiten und Normen und zielten auf Lernerfolge bei ihrer jeweiligen Klientel. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts änderte sich die Ausgangslage für Anleitungen zum Selbermachen grundlegend. Bis zum Zeitalter der Hochindustrialisierung war die eigene Herstellung vieler Güter des täglichen Bedarfs selbstverständlicher Alltag für den Großteil der Bevölkerung. Sicher war es möglich und üblich, bestimmte Tätigkeiten an HandwerkerInnen oder DienstleisterInnen zu delegieren, die Reparaturen ausführten und Möbel, Brot oder Kleidung herstellten. Die entsprechenden Produkte waren Ergebnisse von Handarbeit und konnten einer bestimmten Person oder einer kleinen Gruppe zugeordnet werden. Erst mit der industriellen Massenproduktion, die den Kauf maschinell hergestellter Produkte für breitere Bevölkerungskreise in greifbare Nähe rücken ließ, entstand eine Alternative zur handwerklichen Herstellung. Die handwerklichen Herstellungsweisen selbst änderten sich dadurch nicht notwendigerweise, wohl aber ihre Bedeutung. In Abgrenzung zur maschinellen Herstellung wurden sie vom »Machen« zum »Selbermachen« beziehungsweise zum »handgemachten« Produkt – auch in der Wahrnehmung derer, die sich keine industriell gefertigten Produkte leisten konnten oder wollten. Erst jetzt wurde »selbstgemacht« zu einem Unterscheidungskriterium, das auch die Herstellungsweise betraf und nicht nur die eigenhändige von der entlohnten Handarbeit abgrenzte. Anleitung zum Selbermachen meint in diesem Zusammenhang gesellschaftliche, kulturelle oder politische Versuche, bestimmte Bevölkerungsgruppen entsprechend gesellschaftlicher Normen zum Selbermachen zu erziehen. Theaterstücke waren dabei eher die Ausnahme. Vielmehr erfolgten Anleitungen in Form von mündlichen Belehrungen, durch Texte wie Ratgeberliteratur, Rezepte und Zeitschriftenartikel, durch Bilder in Anzeigen und Illustrationen sowie nicht zuletzt in praktischen Zusammenhängen bei der gemeinsamen Arbeit im Privathaushalt, in Schulen oder Kursen. Über die Erfolge solcher Anleitungen ist damit noch nichts gesagt, weder was die Vermittlung von Praktiken noch die von Einstellungen angeht. Befolgen ist, wie Timo Heimerdinger mit Blick auf Ratgeberliteratur formuliert hat, »nur eine von mehreren Möglichkeiten, [damit] umzugehen«.135 Dies gilt umso mehr, als Anleitungen zum Selbermachen nicht immer aktiv von den Personengruppen nachgefragt wurden, die angeleitet werden sollten. Oft genug waren Bevölkerungsgruppen den Anleitungen ausgesetzt, ohne dass sie daran Interesse geäußert hätten. In diesem Kapitel geht es daher um die normative Dimension solcher Anleitungen und nur sehr bedingt um Fragen des Erfolgs und des Scheiterns bei der Anleitung anderer zum Selbermachen. Das materielle Ergebnis des Selbermachens, das hergestellte Produkt, war nur eines von mehreren Zielen und oft nicht einmal das wichtigste. Vielmehr ging es wie in der Auseinandersetzung zwischen Thusnelda und ihrer Großmutter um Formen des Zeit- und Geldgebrauchs. Maschinen und Industrieproduktion stellten nicht nur eine Konkurrenz für das traditionelle Handwerk dar, sondern viele ZeitgenossInnen waren auch unsicher, wie sich die veränderte Produktionsweise auf den Zustand der Gesellschaft und ihrer Mitglieder auswirken würde. Im Fokus standen vor allem überkommene Rollenbilder und Normen, die an die eigenhändige Herstellung bestimmter Güter gekoppelt waren, sowie gesundheitliche Fragen. Würden alternative Produktionsweisen auch zu alternativen Ideen über den individuellen Zeitgebrauch oder die gesellschaftliche Aufteilung von Arbeitsbereichen führen? Verbesserten die industrielle Herstellungsweise und die so erzeugten Güter Arbeit und Leben oder schadeten sie denjenigen, die sie erzeugten, gebrauchten und verbrauchten? Neu war die Pädagogisierung des Selbermachens im späten 19. Jahrhundert nicht. So lernten traditionellerweise die Prinzen der Hohenzollern und Habsburger ein Handwerk, um Achtung vor der Arbeit zu entwickeln; die Pädagogik des pietistischen Theologen, Pfarrers und Gründers der Franckeschen Stiftung in Halle, August Hermann Francke, setzte im frühen 18. Jahrhundert auf praktische Elemente in der Pädagogik; und gerade die weiblichen Handarbeiten dienten schon lange dazu, Frauen und Mädchen des Bürgertums zu disziplinieren und entsprechend bürgerlicher Weiblichkeitsideale zu erziehen.136 Bereits in diesen Frühformen eines pädagogischen Rückgriffs auf Praktiken des Selbermachens ging es nur bedingt um die eigenhändige Herstellung aus ökonomischer Notwendigkeit, sondern immer (auch) darum, über das Selbermachen bestimmte Haltungen und Verhaltensweisen zu fördern oder zu verhindern. Angesichts der Herausforderungen der Moderne rückten diese Funktionen weiter in den Vordergrund. Anleitungen zum Selbermachen waren jedoch nicht nur defensive Reaktion auf Produktionsweisen, die überkommene Lebens-, Arbeits- und Wertezusammenhänge zu zerstören drohten, sondern ebenso Mittel der aktiven Gestaltung der Gesellschaft. Darüber hinaus waren sie Teil von Absatzstrategien in einem neuen Marktsegment, das Praktiken des Selbermachens kommerzialisierte. Backpulver, Näh- und Bohrmaschinen sind Beispiele neuer Warensegmente, in denen fundierte Anleitungen zum Selbermachen Voraussetzung für den Verkauf von industriell gefertigten Produkten sind, die als Hilfsmittel zum Selbermachen in solche Praktiken integriert werden sollten. Schließlich nutzten auch diejenigen Gruppen und Organisationen Anleitungen zum Selbermachen, die unzufrieden mit dem bestehenden Warenangebot waren und den Konsum dieser Produkte zu vermeiden suchten, indem sie auf Praktiken des Selbermachens zurückgriffen. Meist keine GegnerInnen der Konsumgesellschaft per se, lehnten sie doch aus gesundheitlichen, ökonomischen, moralischen oder ästhetischen Gründen Teile des vorhandenen Angebots ab und verbreiteten stattdessen Anleitungen, wie man die entsprechenden Produkte selbst und besser herstellen konnte. In diesen...