E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Krausser Freundschaft und Vergeltung
24001. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8270-8095-0
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | | »Die 100 besten Bücher des Jahres« DIE ZEIT
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-8270-8095-0
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Helmut Krausser, geboren 1964 in Esslingen, schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik, Tagebücher, Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher und komponiert Musik. Von ihm erschienen u.a. »Fette Welt« (1992), »Melodien oder Nachträge zum quecksilbernen Zeitalter« (1993), »Thanatos« (1996), »Der große Bagarozy« (1997), »UC (Ultrachronos« (2003), »Eros« (2006), »Die kleinen Gärten des Maestro Puccini« (2008), »Einsamkeit und Sex und Mitleid« (2009), »Die letzten schönen Tage« (2011), »Nicht ganz schlechte Menschen« (2012), »Gebrauchsanweisung für den FC Bayern München« (2015), »Alles ist gut« (2015), »Geschehnisse während der Weltmeisterschaft« (2018) und zuletzt der Lyrikband »Glutnester« (2021) sowie die Romane »Trennungen. Verbrennungen« (2019), »Für die Ewigkeit. Die Flucht von Cis und Jorge Jega« (2020) und »Wann das mit Jeanne begann« (2022). Mehrere seiner Bücher wurden verfilmt und seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.
Autoren/Hrsg.
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DIE PROTOKOLLE
Polizeiprotokoll 1 – 13:00 Uhr am 1.1.1966. Befragt wird Gerda Bradshaw, 55, Ehefrau des als vermisst geltenden John Bradshaw. Zugleich Mutter des am Institut befindlichen Schülers Christian Bradshaw. Das Verhör führt Chief Inspector David Perkins, Beisitzer ist Constable Ian-Seth Berry.
PERKINS
Mrs Bradshaw, Sie haben Ihren Gatten John als vermisst gemeldet und uns hergebeten, damit wir eine Untersuchung einleiten wegen eines möglichen Kapitalverbrechens. Was bringt Sie zu der Annahme?
GERDA BRADSHAW
Na, was wohl? Er ist verschwunden, hat sich nicht gemeldet, aber sein Wagen steht hier herum. Wenn er einen Herzinfarkt gehabt hätte oder sonst einen Unfall, hätte man seinen toten oder verletzten Körper gefunden. Hat man aber nicht. Demnach muss ich damit rechnen, dass er Opfer eines Verbrechens geworden ist.
PERKINS
Können Sie mir erläutern, in welchem Verhältnis sich Ihr Gatte zu diesem Institut befindet?
GERDA BRADSHAW
Er ist Vater eines der Schüler, unseres Sohnes Christian.
PERKINS
Darüber hinaus noch etwas?
GERDA BRADSHAW
Er hat dem Institut im Sommer eine beträchtliche Summe Geld gespendet, damit der Lehrbetrieb fortgesetzt werden konnte.
PERKINS
Um welche Summe handelte es sich?
GERDA BRADSHAW
Das weiß ich gar nicht genau, und wenn ich es wüsste, wüsste ich nicht, ob ich es Ihnen sagen dürfte ohne sein – Johns – Einverständnis.
PERKINS
Was wäre denn in Ihren Augen eine beträchtliche Summe? Wenn ich so frage, können Sie unverbindlich antworten. Es interessiert mich einfach. Und Sie möchten doch sicher, dass ich mich für Ihr Anliegen interessiere?
GERDA BRADSHAW
Na, hören Sie mal! Das Interesse dürfte ja wohl doch ein öffentliches sein, wenn ein angesehener Bürger dieses Königreichs vermisst wird.
PERKINS
Jedes Detail würde mir helfen, die Angelegenheit richtig einzuordnen.
GERDA BRADSHAW
Na schön, ich würde eine Summe von 80.000 Pfund als doch sehr beträchtlich einordnen.
PERKINS
In der Tat. Ihr Gatte ist also als Wohltäter aufgetreten. Hat er dafür ein Quid pro Quo eingefordert?
GERDA BRADSHAW
Ein was?
PERKINS
Ein Entgegenkommen, eine gewisse Gegenleistung.
GERDA BRADSHAW
Nicht, dass ich wüsste.
PERKINS
Aber Ihr Sohn, Christian, besucht seither die Abschlussklasse in diesem Institut?
GERDA BRADSHAW
Ja, warum nicht? Er musste irgendwohin.
PERKINS
Weil er zuvor von anderen Schulen verwiesen wurde?
GERDA BRADSHAW
Woher haben Sie das? Und tut das etwas zur Sache?
PERKINS
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir haben Erkundigungen eingezogen. Christian Bradshaw, Ihr Sohn, gilt danach als nicht ganz unkomplizierter Schüler.
GERDA BRADSHAW
Das ist nun mal das Alter. Das ist schwierig, nicht er selbst. Er ist im Herzen ein guter Junge.
PERKINS
Mag sein. Nehmen wir nun einmal den Fall an, jemand hätte Ihrem Gatten etwas antun wollen. Welchen Grund könnte derjenige gehabt haben?
GERDA BRADSHAW
Nun, ich will niemanden beschuldigen, ganz sicher nicht, aber wenn Sie schon einmal, wie Sie sagen, Erkundigungen eingezogen haben, dann wissen Sie wahrscheinlich längst, dass mein Mann – nun, reden wir nicht drum herum – eine Affäre hatte. Mit jemandem vom Lehrpersonal hier.
PERKINS
Mit wem genau?
GERDA BRADSHAW
Es war eine kurze, törichte Affäre, John hat sie mir gestanden, ich habe ihm vergeben, Ende der Geschichte.
PERKINS
Sie wollen sagen, dass Sie mir den Namen jener … Affäre verschweigen wollen, obwohl ich wahrscheinlich längst ins Bild gesetzt wurde?
GERDA BRADSHAW
Ich spreche ihren Namen ungern aus. Aber da Sie ohnehin bereits informiert sind – es war Miss Deborah Rodgers.
PERKINS
Sie mögen Miss Rodgers nicht besonders?
GERDA BRADSHAW
Das liegt doch wohl in der Natur der Dinge, darüber hinaus kenne ich sie bisher nicht persönlich und maße mir kein Urteil an. Obschon sie nun einmal eine Affäre mit einem verheirateten Mann begonnen hat. Der dazu deutlich älter ist als sie.
PERKINS
Was wollen Sie damit ausdrücken?
GERDA BRADSHAW
Ziehen Sie selbst Ihre Schlüsse. Miss Rodgers ist achtundzwanzig, außerordentlich hübsch, und mein Mann – na ja.
PERKINS
Sie wollen insinuieren, dass es nicht in erster Linie eine … erotische Obsession gewesen ist?
GERDA BRADSHAW
Ich sehe, Sie beherrschen die Grundrechenarten.
PERKINS
Sie müssen schon etwas deutlicher werden.
GERDA BRADSHAW
Ich muss leider aufpassen, was ich sage. Es war wohl so, dass Miss Rodgers meinen Mann unter Druck gesetzt hat.
PERKINS
Weswegen?
GERDA BRADSHAW
Wegen was wohl. Ich will nicht zu deutlich werden.
PERKINS
Einer Schwangerschaft?
GERDA BRADSHAW
Möglicherweise. Ob diese Schwangerschaft allerdings je bestanden hat, wer weiß das schon?
PERKINS
Das ist mir alles zu hypothetisch. Haben Sie irgendeinen Hinweis darauf, dass Miss Rodgers von Ihrem Mann Geld bekommen hat?
GERDA BRADSHAW
Nein. Geld hat nur Raven Hall bekommen.
PERKINS
Was genau würden Sie Miss Rodgers demnach vorwerfen?
GERDA BRADSHAW
Ich hätte ihr etwas vorgeworfen? Nein! Alles, was ich sagen will, sie war die einzige Person hier, mit der John eine Art von emotionaler Verbindung gehabt hat.
PERKINS
Mrs Bradshaw, Sie versuchen partout, den möglichen Vorwurf einer Verleumdung zu umgehen, dennoch stoßen Sie mich mit der Nase darauf, dass ich Miss Rodgers näher unter die Lupe nehmen soll, richtig?
GERDA BRADSHAW
Nun, es geht mir darum, anzudeuten, dass niemand hier ein Motiv gehabt haben dürfte, John etwas Böses zu wollen, außer eben Miss Rodgers. Ich will einfach nur hilfreich sein.
PERKINS
Sie sagen, dass es eine Schwangerschaft gegeben hat oder gegeben haben könnte. Demnach, wenn es keine Fehlgeburt gab, hätte Miss Rodgers diese Schwangerschaft … abgebrochen. In unsrem Land eine schwere Straftat.
GERDA BRADSHAW
Ich sage ja, ich bin überhaupt nicht sicher, ob diese Schwangerschaft je bestanden hat.
PERKINS
Ungeachtet dessen wissen Sie nichts davon, dass Miss Rodgers jemals Geld für sich selbst verlangt hat?
GERDA BRADSHAW
Das hat sie wohl nicht. Ich nehme...