Roman
E-Book, Deutsch, 382 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8631-9
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Helmut Krausser erzählt das Leben des genialen Erotomanen entlang dreier Frauen – und entfaltet um die Person des heute populärsten Opernkomponisten ein spannendes Panorama jener letzten Phase der Belle Époque und ein unglaubliches, oft bizarres Geflecht aus Kunst und Erfolg, Liebe und Begierde, Neid und Intrige, Eifersucht und Hass.
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1 1961 Es war Zeit, die zierliche alte Frau vom Bett in den Sessel zu heben und ans Fenster zu schieben, wo sie für gewöhnlich drei Stunden des Nachmittags damit zubrachte, in den Park des nahegelegenen Altenheims zu sehen. Jener Park war klein und ungepflegt, bot auf den ersten Blick kaum Betrachtenswertes. Auf den scheußlich neumodischen, türkisgrünen Plastikbänken links und rechts der Ulme saßen je zwei der vier Lamberti-Schwestern und fütterten Kohlmeisen mit zu Krümeln zerriebenen Pinienkernen. Die Vögelchen waren ganz verrückt danach, hüpften zwischen den verlotterten Astern aufgeregt hin und her und kamen auf die Hand geflogen, wenn man lange genug wartete. Maria Anna erinnerte sich, auf diese Art mal einen Vogel, damals wars ein ordinärer Spatz, gefangen zu haben, ihre Hand ahmte den dazu notwendigen schnellen Griff nach, und während sie so das bizarr wie pittoresk schwarz-in-schwarz gekleidete Quartett der Lamberti-Schwestern beobachtete, ertappte sie sich dabei, ihnen Vorwürfe zu machen. Es gehört ein wenig Mut dazu, die Finger um einen flatternden Vogel zu schließen, doch wehrt er sich dann nicht, ist hilflos, man kann ihn ansehen, kann Zwiesprache mit ihm halten, kann ihm so manches beschwichtigende oder alberne Wort an den Kopf werfen, er wird es hinnehmen und am Ende dankbar fortfliegen, die dummen Lamberti-Schwestern ahnten nicht, wie lange man sich mit derlei Spielchen amüsieren konnte. Alle hatten Fußknöchel dünn wie Besenstangen. Überhaupt – ein grotesker Anblick – daß vier Schwestern, alle über achtzig, ihr Leben in ein und demselben Seniorenheim ausklingen ließen, als hätten sich der Tod, die Liebe oder das Abenteuer für keine von ihnen je interessiert – wo gab es das? Es schien geradezu rekordverdächtig. Können vier Leben so gleichmäßig banal, ohne Irritationen verlaufen, daß sie auf so wenig Raum zum Ende kommen? Alle hatten sie geheiratet, alle waren sie verwitwet, nein, so ungewöhnlich schien das ja nicht, warum eigentlich? Fast alle Turiner lieben ihre Stadt und bleiben ihr verbunden. Die meisten Turiner sterben, bevor sie fünfundsiebzig werden, die meisten Turinerinnen, sofern sie nicht rauchen oder Pech haben, überleben ihre Männer, übrig bleibt manchmal eben so etwas – vier sehr alte Mädchen, die das Leben weit genug links liegen gelassen hatte, damit sie, noch bei bester Gesundheit, Kohlmeisen füttern konnten. Nur – wozu? Die Frage mußte doch erlaubt sein. Gott ließ jede Frage zu. Antworten gab er selten, höchstens Zeichen. Wie gerne ich unten bei den Lamberti-Schwestern sitzen und mich einmischen möchte, und seis nur, um ihnen zu sagen, wie sehr sie doch unter ihren Möglichkeiten bleiben, wenn sie von den Vögeln so gar nichts fordern. Gott, ich werde eigenartig, entwickle, wie sagt man, Schnurren? Hüpfende Kohlmeisen zwischen mumifizierten alten Weibern. Maria Anna suchte im Radio nach Musik. Die meisten Sender brachten nachmittags nur seichte Schlager oder Krach. Wenn, wie so oft am Abend, Musik von IHM kam, schaltete sie ab, überfordert. Denn ER hatte sie geküßt von oben bis unten, ausnahmslos. Besser als Kohlmeisen gefielen ihr die Saatkrähen – oder nannte man sie Dohlen? –, deren weite Sprünge immer leicht taumelig wirkten und bei der Landung durch winzige Körperbewegungen nachgebessert wurden. Die Schnäbel halb offen, die Flügel kaum einmal zu einem Schlag hervorgeholt, vermittelten die schwarzgrauen Krähen – Krähenvögel waren es ganz sicher, ob nun Dohlen oder nicht – einen Spaß am Leben, der manchmal in Spott, nie jedoch in Übermut mündete. Aber das war wohl nur Interpretation, und Maria Anna, geistig noch ganz klar (befand sie apodiktisch stolz), ärgerte sich ein wenig darüber, den Krähen sentimental etwas anzudichten, was in Wahrheit wohl nur Revierkampf und Nahrungssuche bedeuten mochte, günstigstenfalls ein Vorspiel zum Balztanz war. Einen Augenblick, einen köstlichen Augenblick lang, hatte sie gestern die Lust bedrängt, ihrem Pancrazio alles zu erzählen. Nur um zu sehen, wie er reagieren würde. Später könnte sie ja behaupten, einen Witz gemacht zu haben. Er wäre nach so vielen Jahrzehnten noch eifersüchtig geworden, zornig, er hatte nie gefragt, warum ihre Hochzeitsnacht so blutleer verlaufen war. Nie hat sie ihm die Geschichte vom Pferd erzählen müssen, die sie sich für diesen Fall bereitgelegt hatte. Man macht in seiner Jugend Fehler, dazu ist die Jugend da. Als 1911 der Krieg in Libyen begann, protestierte nur der Sozialist und Pazifist Mussolini. Die meisten haben das vergessen. Der Mensch ist wandlungsfähig. Sie zögerte, versuchte ihre Gedanken zu ordnen und sah auf die hüpfenden (Saat-? Nebel-?) Krähen. Der Vertrag ist juristisch sicher nicht mehr gültig. Alle sind längst tot. Ich könnte inzwischen alles erzählen, mir würde nichts geschehen. Aber wozu? Für meine Eitelkeit? Gott vergib mir, denn ich bin eitel. Meine Eitelkeit ist ein Springteufel, der wie mit einem Eizahn an der Schädeldecke schabt und seinen Auftritt haben will. Und ich – halte den Sargdeckel drauf. Es nutzt doch alles nichts mehr. Möge Gott mich im Tod endlich erlösen von meiner Eitelkeit. Maria Anna gebar, halb aus Geltungssucht, halb aus Rücksichtnahme, einen Gedanken. Sie konnte einen Brief schreiben und ihn bei einem Notar hinterlegen. Der Notar sollte den Brief an La Stampa senden, irgendwann, in vielen Jahren, nach dem Tod ihres Mannes und ihrer beiden Söhne. Obwohl – der Gedanke wurde unappetitlich. Daß die Menschheit es erfahren sollte, nur ausgerechnet ihr Gatte und die Söhne nicht, nein, das konnte sie nicht tun, das würde bedeuten … Sie tat sich ein wenig schwer damit, die Konsequenzen auszuformulieren. Aber sie nahm, nicht zum ersten Mal, den Notizblock und den Bleistift vom Fensterbrett und kritzelte einen Entwurf des Briefes hin. Sie würde es aufschreiben, dann zerreißen und wegwerfen. Wie so oft schon. was beinahe sechzig jahre lang so schwer auf meiner seele lag, mit mir nun umzubetten in mein grab, es für immer in sicherheit zu bringen, es wegzusperren unter zwei meter tiefe erde und einen eichenen sargdeckel, wäre sicher konsequent. ich habe meine niederlage akzeptiert, damals wie heute, habe sie auf mich genommen, habe geschwiegen, habe mir und meiner familie zuliebe gelitten, die zähne zusammengebissen, und wie durch ein wunder haben alle, die davon wußten, es waren etliche, den mund gehalten, sind nach und nach weggestorben, bis zuletzt mein geheimnis und ich, wir zwei, übrigblieben, relikte einer heute beinah schon unvorstellbar fernen zeit. Das klang wohl leicht pathetisch, doch als sie ein junges Mädchen gewesen war, hätte es sachlich geklungen, nicht gravitätischer als die Rede eines Strafverteidigers vor Gericht. obwohl mein name im zusammenhang mit den vorgängen nie genannt wird, schlicht, weil man meinen namen nicht kennt, redet man von mir, der unbekannten, wie von einer bösen, hexenhaften person, und es wäre mir sehr daran gelegen, zu erzählen, vieles richtigzustellen, mich zu verteidigen. mein leben hätte ganz anders verlaufen können, und wäre es auch, wenn dem chauffeur guido barsuglia nicht in einer kurve die augen zugefallen wären vor müdigkeit. unfaßbar, welche winzigkeiten genügen, um biographien von grund auf zu ändern. das ist so furchtbar banal, aber gerade aufgrund seiner banalität enorm beeindruckend. finde ich. als ich noch laufen konnte, bin ich einmal mit dem zug nach torre gefahren, 1938, auf dem friedhof traf ich alte bekannte von damals, den pomadigen ferro, den maler, seinen imposanten schnauzbart trug er inzwischen sicher nicht mehr, und die arme doria, an die ich mal geschrieben habe. persönlich bin ich ihr leider nie begegnet. seltsam, so zwischen grabsteinen zu wandeln. in der villa war ich nicht, ich wollte nicht als touristin da hinein, einmal, eine lustige nacht lang, war ich ja in der villa, das war beinahe noch im letzten jahrhundert, ich weiß aber noch genau, wie es da drin aussieht. angeblich hat man alles so belassen, wie es war. alles ist ein museum geworden. und ich – will lieber in eine vitrine wandern als unter die erde, ist es das? ach, manche stimmen tief im kopf sagen: tu niemandem weh, es ist zu spät, du hast davon nichts mehr, warst betrogen und hast es verdrängt, nimm es hin. und dein geheimnis, das teile mit keinem, es gehört nur dir, alles andere entspringt dem stolz. aber wenn das größte in meinem leben – An diesem Bindestrich angelangt, als knüpfe er eine arkane Verbindung zu etwas viel Höherem, zugleich zu etwas lange Vergangenem, hielt Maria Anna zu schreiben inne, seufzte leise. Der Bleistift entfiel ihrer Hand, und als er auf eine Lehne des Sessels traf, war dieses Geräusch, jenes helle, hölzerne Klacken der letzte Laut, den Anna Maria in ihrem Leben aus eigener Kraft verursachte. Pancrazio, ihr Mann, ein pensionierter Beamter, der den Nachmittag über erfolglos am Fluß geangelt hatte, fand die Tote gegen siebzehn Uhr. Weil er zu schwach war, sie aufs Bett zu tragen, öffnete er das Fenster und rief die Nachbarschaft um Hilfe. Danach trank er eine Flasche Bier. Maria war, alles in allem, eine gute Frau gewesen. Es hatte sich gelohnt, sie zu lieben. Daß sie stets etwas für sich behalten und ihn, ihren Gatten vor Gott, stets etwas abschätzig behandelt hatte, daran, und an alles daraus resultierende Leiden, versuchte er nun nicht zu denken, als sei der Gedanke dem Anlaß nicht angemessen. Pancrazios Sehkraft hatte in den letzten Jahren stark nachgelassen. Die linierten, eng beschriebenen Zettel auf dem Fensterbrett landeten zuerst im Papierkorb, dann, mit einem...