E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Krausser Alles ist gut
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8270-7839-1
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-8270-7839-1
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Marius Brandt versucht im Musikbetrieb Fuß zu fassen, doch kein Intendant eines Opernhauses zeigt Interesse an seinen neotonalen Werken, die der Gattung neue gesellschaftliche Relevanz verleihen sollen. Zunehmend frustriert, von Mordphantasien geplagt, gerät Brandt an Jahrhunderte alte, verschlüsselte Musikaufzeichnungen, die er nach und nach enträtselt. Teile davon baut er in eine Auftragskomposition ein, die er »Alles ist gut« nennt. Bei der Uraufführung kommt es zu rätselhaften Schwächeanfällen im Publikum. Einer der Zuhörer stirbt sogar. Er bleibt nicht der einzige Tote. Doch niemand kommt auf den Gedanken, Brandts Musik könnte dafür verantwortlich sein. Der Komponist selbst begreift zwar, dass etwas Absonderliches in seine Welt gefunden hat, das er für seine Zwecke nutzen möchte. Die Konsequenzen aber überblickt er nicht. Er wird zum Spielball dubioser Figuren, deren Absichten im Dunkel liegen. Mit »Alles ist gut« spinnt Helmut Krausser ein Grundmotiv seines Erfolgsroman »Melodien« weiter - zu einem ebenso faszinierenden wie überraschenden Ende.
Helmut Krausser, geboren 1964 in Esslingen, schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik, Tagebücher, Hörspiele, Theaterstücke, Drehbücher und komponiert Musik. Von ihm erschienen u.a. »Fette Welt« (1992), »Melodien oder Nachträge zum quecksilbernen Zeitalter« (1993), »Thanatos« (1996), »Der große Bagarozy« (1997), »UC (Ultrachronos« (2003), »Eros« (2006), »Die kleinen Gärten des Maestro Puccini« (2008), »Einsamkeit und Sex und Mitleid« (2009), »Die letzten schönen Tage« (2011), »Nicht ganz schlechte Menschen« (2012), »Gebrauchsanweisung für den FC Bayern München« (2015), »Alles ist gut« (2015), »Geschehnisse während der Weltmeisterschaft« (2018) und zuletzt der Lyrikband »Glutnester« (2021) sowie die Romane »Trennungen. Verbrennungen« (2019), »Für die Ewigkeit. Die Flucht von Cis und Jorge Jega« (2020) und »Wann das mit Jeanne begann« (2022). Mehrere seiner Bücher wurden verfilmt und seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin.
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II JUNI UND JUNE Im Juni trat June in mein Leben. Das ist kein doofes Wortspiel. So geht es zu in der Welt. June kam durch die Tür, sah mich an, und im näch-sten Moment küßten wir uns. Jedenfalls fühlte es sich so an, wie etwas Zauberisches, von Feenhand gestreut. June liebte mein Streichquartett, und das einzige, was daran nicht stimme, sei die Tatsache, daß ich es für Sonja geschrieben hatte. Kein Problem. Ich tilgte die Widmung auf YouTube mit einem einzigen Klick. In hundert Jahren wird demnach nichts mehr an Sonjas Existenz auf Erden erinnern. Ihre Schuld, nicht meine. June kam aus Aurora, Illinois, um in Deutschland Gesang zu studieren. Sie war ein Mezzo mit guten Höhen und schlanker Taille. Ihre Stoppelfrisur wirkte lesbisch, ein wenig ähnelte sie Sinead O’Connor, nur nicht so hübsch. An den letzten vier Worten erkennt ein aufmerksamer Intellekt, daß wir inzwischen nicht mehr zusammen sind. Aber einige Monate, sicher die seltsamsten meines Lebens, durfte ich sie genießen. Für einen Komponisten ist es ein Glück, mit einer verliebten Sängerin zusammenzusein. Man muß sie für Aufnahmen nicht bezahlen, und ich schrieb auch gleich ein paar Lieder für ihre Stimmlage, die recht gut geworden sind. Apropos gut. Die siebenminütige Skizze für Kammerorchester Alles ist gut hatte ich beendet, aber noch nicht nach Hamburg abgeschickt. Das Stück war okay, aber nicht so okay wie erhofft. Nicht genug, um den hochtrabenden Titel zu rechtfertigen. Die Hauptmelodie war einnehmend, jedoch nicht bezaubernd oder gar euphorisierend. Für die Hamburger Kammersinfoniker ausreichend, durchaus, doch meinen eigenen Ansprüchen genügte es nicht. Weil ich emotional so sehr mit June beschäftigt war, kann ich nicht behaupten, daß dieses Manko arg an mir genagt hätte. Höchstens, allerhöchstens, knabberte es ein wenig an meinen Perspektiven herum. Von weiten Teilen des Betriebs ignoriert oder gar gemobbt, mußte ich eigentlich darauf bedacht sein, etwas Außerordentliches, Spektakuläres abzuliefern. Und die ganze Zeit über lagen die Noten, die ein gewisser Rabbi Mordechai Gershon irgendwann im 19. Jahrhundert aus einer älteren Quelle abgeschrieben und hingekritzelt hatte, unbeachtet neben dem Fernseher. Ich halte den Leser dieser Zeilen keineswegs für einen Idioten, er weiß bestimmt längst viel mehr, als ich damals wußte. Er weiß, daß diese Noten eben kein Blödsinn waren, sondern etwas ganz Besonderes. Ich werde ihn auch nicht künstlich hinhalten, wie das irgend so ein Spannungsschreiberling machen würde, dem es ums Geld geht. Aber in der Realität vergingen eben ein paar Wochen, und ich will das nicht so holterdipolter erzählen. Vielleicht erzähle ich inzwischen ein wenig über Sex, wie das irgendeiner dieser Softpornoschreiberlinge schon längst gemacht hätte. Sex ist nicht unwichtig. Um das mindeste zu sagen. Er kann einen inspirieren und von der Arbeit abhalten. Gleichzeitig. Im Bett war June die eierleckende Wollmilchsau. Mit wollmilchsäuisch meine ich: Sie machte alles, was ich begehrte, und machte es gut und sehr gern. Eine solche Frau war mir zuvor nie begegnet. Ich bin kein indiskreter Mensch und möchte vermeiden, ins Detail zu gehen. Aber daß ich bald schon süchtig nach ihr wurde, das darf ich guten Gewissens erzählen. Und daß meine Erfüllung nie komplett war, wohl auch. Warum sie nicht komplett war? An June lag es nicht, nur an mir, der ich immer befürchtete, einer so versierten Partnerin nicht ebenbürtig sein zu können. Soviel Genuß sie mir bereitete, so schwer schien es möglich, ihr zu einem ähnlichen Genuß zu verhelfen. Nicht, daß sie mir keine Höhepunkte vorgegaukelt hätte, als Dank für die Mühe, die ich mir gab. Aber es waren eben immer nur Orgasmusbehauptungen, aus Höflichkeit oder Taktgefühl. Andere Männer hätten den Unterschied womöglich nicht bemerkt. Aber ein Komponist spürt die organische, tripelfugenartige Abfolge der komplexen Rhythmen, die Verkürzung der Metren, die Übergänge von Sechzehntelkeuchern zum Zweiunddreißigstelwinseln, dann die Klimax, verschärft von Triolen und Quintolen mit synkopierten Beckenbewegungen der Lust darunter, bis alles ins große Finale mündet, in den gewaltigen Schlußakkord, von jetzt völlig wilden, unregelmäßig gesetzten Baßfiguren durchwoben. Drüber die Fanfaren, die Blitze im Gehirn. Und das Gleiten ins Meer der Ruhe, in die lange Fermate am Ende, der Triumph der Befriedigung, während ein durchgedrehtes Kontrafagott noch ein paar akustische Fähnchen der Begeisterung hißt. Die Tonalität war ja grade deshalb ein solcher Erfolg in der Menschheitsgeschichte, weil sich mit ihren Mitteln Sex musikalisch adäquat darstellen ließ. Junes ausbleibende Glückskiekser nagten an meinem Selbstwertgefühl. Weniger altruistisch gestimmte Männer hätten schlicht die Beute gefeiert, den Moment geheiligt und sich keine Gedanken gemacht. Derlei war leider undenkbar für mich. Man muß sehr vorsichtig sein, will man das jemals ansprechen. Einmal aber stellte ich June zur Rede. Sagte ihr auf den Kopf zu, daß sie nie gekommen sei, nie nie nie – und ich erhoffte mir Anweisungen, konkrete Vorgaben, Verbesserungsvorschläge. Sie aber tat entrüstet, wies jeden Vorwurf gefälschter Orgasmen von sich, und ich ahnte, daß etwas schiefgelaufen sein mußte zwischen uns, wenngleich an der Oberfläche alles seinen Gang ging. Wenn June unsicher war, zog sie ihren Lippenstift nach, wie andere atmen. Sie benutzte ein sehr aggressives Rot, das ihrem blassen Gesicht etwas Verkehrsschildhaftes verlieh. Von graziler Statur, bewegte sie sich meist hektisch, wie von elektrischen Impulsen angetrieben. Ihr geistiges Naturell war hingegen ganz anders getaktet, eher schläfrig, verträumt, diese Ambivalenz erinnerte an bekiffte Blumenmädchen der späten sechziger Jahre. Sie redete oft davon, ihren Körper spüren zu wollen. Zu diesem Zweck ritzte sie sich an den Unterarmen und wollte härter genommen werden als jede Frau, die ich zuvor gekannt hatte. Und hätte es strikt von sich gewiesen, in irgendeiner Weise psychisch gestört oder gar hilfebedürftig zu sein. Dann wiederum folgten Phasen, in denen sie völlig normal zu sein schien, voller Lebenslust und unkompliziert. Wobei das, objektiv betrachtet, alles andere als normal ist. Das passende Adjektiv müßte eher wünschenswert lauten. June war manchmal wünschenswert, manchmal aufregend. Die Mischung machte mich schnell abhängig. Abwechselnd rief ihr Verhalten meinen Beschützerinstinkt oder das zufriedene Tier in mir hervor. Dem Aufwand folgte die Belohnung. Sie küßte mit großem Einsatz, konnte aber ebenso und ganz plötzlich, mitten im Küssen, die Situation um sich herum vergessen und etwas verblüffend Unpassendes erzählen, zum Beispiel, wie ihre Mutter im Garten Maulwürfe mit einer Spitzhacke tötete. Und es war nicht irgendwie als Gleichnis für etwas anderes gemeint. Damit erst mal genug von June. Es dauerte bis Anfang Juli, als bei mir der Groschen fiel, als mich die notwendige Idee ansprang. Im Grunde eine Schnapsidee, wie von weit oben eingeflüstert. Ich hörte in der Nacht, im Rausch, quasi eine Stimme, die mir verkündete, was zu machen war. Die ganze Nacht wütete diese Idee in mir, in meinen Träumen, und erst am nächsten Morgen war ich nüchtern genug, sie umzusetzen. Ich gab die Noten in meinen Laptop ein und bastelte daran herum. Für die musikalisch Unkundigen fasse ich die Entdeckung in möglichst einfachen Worten zusammen: Da waren auf jeder Seite etwa zwölf (manchmal elf oder nur zehn) Notensysteme mit einer einfachen Stimme, eine belanglose Aneinanderreihung von Tönen. Dachte man die zwölf Systeme aber in Gruppen von je vier, ergaben sich Akkorde, und ein harmonischer Sinn entstand. Aber erst, wenn man die Noten an einer Linie spiegelte, nämlich an der zweiten von oben, nicht etwa an der dritten, was nähergelegen hätte. Das war das kryptologische Geheimnis. Man mußte dann das Ergebnis auf der Skala in Oktaven verschieben, die ersten vier Systeme nach oben, die letzten vier Systeme nach unten, in den Baß. Vor mir lag plötzlich kein Humbug mehr, sondern eine Art Partitur. Ich probierte das Ergebnis am Klavier aus. Eigenartig und sehr schön. Ich könnte es näher beschreiben, will es aber nicht tun, später wird man mich verstehen. Der Klang weckte June, die im Schlafzimmer war, und sie kam neugierig herbeigerannt. Mir wurde schlecht, mein Herz raste, und ich glaubte, keine Luft zu bekommen. Ich ließ mich zu Boden fallen. Ich meine das genau so: Ich fiel nicht etwa zu Boden, aber ich verspürte den starken Wunsch, zu Boden zu fallen, und gab dem nach. June glaubte an einen Scherz. Dann rief sie den Notarzt. Die Symptome wiesen auf einen Herzinfarkt hin. Sagte sie. Ich kam wieder zu mir. Wir hatten kein Geld für einen Notarzt-einsatz (nicht wenige Menschen glauben tatsächlich, so was gibt’s gratis), und ich nahm ihr den Hörer aus der Hand. Meinem Herzen ging es wieder blendend. Herzrasen ist kein Herzinfarkt. Und wieder setzte ich mich ans Klavier. Spielte, ganz langsam, es gab ohnehin keine Tempoangabe, noch mal, was da auf dem Bildschirm meines Laptops geschrieben stand. June mußte sich setzen, sie war blaß geworden und blinzelte seltsam. Das war die erste Seite von insgesamt fünfzehn. Ich hatte eine Melodie gefunden, nicht nur irgendeine, sondern die eine Melodie, von der jeder Komponist sein Leben lang träumt, sofern er kein komplett vernagelter Donaueschinger ist. Eine Melodie, die mehr war als simple Musik. Und ich hatte nur das Klavier. Wie überwältigend würde sie erst klingen, orchestriert, wenn man die hohe Stimme den hellen Streichern überließ, ein Tremolo darunterlegte, und wenn die Holzbläser und Violen die Mittelstimme...