Warum sich die Demokratie stärker als bisher zur Wehr setzen muss
E-Book, Deutsch, 606 Seiten
ISBN: 978-3-86393-641-9
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Neonazismus, so Wolfgang Kraushaar, ist längst noch nicht überwunden und stellt die Demokratie vor neue Herausforderungen. Diese werden nur dann zu bestehen sein, wenn sich Staat und Zivilgesellschaft neu positionieren.
Die Vorstellung, wehrhaft sein zu müssen, wirkte lange wie aus der Zeit gefallen. Dass sie ins Zentrum der politischen Debatte zurückgekehrt ist, liegt vor allem an Putins Überfall auf die Ukraine und seinen menschenverachtenden Annexionskrieg.
Mit der erneuerten Wehrhaftigkeit nach außen geht allerdings einher, die Wehrhaftigkeit auch nach innen auf den Prüfstand zu stellen. Denn im Unterschied zu früheren Jahrzehnten hat die Bedrohung von rechts unablässig zugenommen.
Zwei politische Faktoren prägen das neue Gefährdungsszenario: Parlamentarisch ist mit der AfD eine starke rechtspopulistische Partei im Bundestag vertreten, die sich offen gegen die liberale Demokratie stellt. Und im Zuge der Anti-Corona-Demonstrationen hat die radikale Rechte so sehr an Einfluss gewonnen, dass sich ihr neue machtpolitische Optionen bieten. Durch diese beiden Elemente ist die Demokratie regelrecht in die Zange genommen worden.
Angesichts dieser Herausforderung erscheinen mehrere strukturelle Korrekturen erforderlich, um das Konzept einer 'wehrhaften Demokratie' so weit zu erneuern, dass die Bundesrepublik künftig besser gegen derartige Angriffe gewappnet ist. Dabei gilt es insbesondere der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Gefährdung der Demokratie nicht mehr in erster Linie von den Rändern der Gesellschaft ausgeht, sondern von ihrer Mitte.
Kraushaar plädiert deshalb dafür, die statische Theorie von Extremismus durch eine dynamische der Radikalisierung zu ersetzen. Erst wenn das geschehen ist, wird die zweite deutsche Demokratie besser als bisher in der Lage sein, sich auch in Zeiten einer multifaktoriellen Krise als wehrhaft zu erweisen.
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Einleitung
Zu der umgreifenden Verunsicherung, die die Corona-Pandemie in der Gesellschaft auslöste, kam schon bald eine massive politische Irritation hinzu. Von Stuttgart aus traten seit dem Frühjahr 2020 Gegner der staatlichen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz in Erscheinung, die sich Querdenker nennen und seitdem bundesweit Protestaktionen organisieren. Der anfangs sträflich unterschätzten Bewegung gelang es nach nur wenigen Wochen eine Mobilisierung zustande zu bringen, wie man sie sich in der Bundesrepublik unter den Rahmenbedingungen der Covid19-Krise nicht hatte vorstellen können. Das öffentliche Echo war von Anfang an tief gespalten. Während Kritiker, darunter auch Linke und Liberale, die Demonstrationen zumeist unter Berufung auf verschiedene Grundrechte mit dem Argument zu verteidigen suchten, dass es in Zeiten eines Ausnahmezustandes möglich sein müsse, die von der Bundesregierung verhängten Anordnungen in Frage zu stellen, reagierten konservative, liberale und zum Teil auch sozialdemokratische Kritiker abwehrend und meinten, dass mit derartigen Protesten die Solidarität in der Bevölkerung untergraben und durch den mangelnden Infektionsschutz zudem deren Gesundheit unnötig gefährdet werde.1 Die versuchte Reichstagserstürmung durch Querdenker
Bemerkenswerterweise erreichte die Beteiligung an den Anti-Corona-Protesten genau in jenen Wochen ihren Höhepunkt, als die Inzidenzzahlen noch am niedrigsten waren und sich nicht wenige in der Illusion bewegten, dass die Pandemie bereits im Verschwinden begriffen sein könnte. Am 1. und am 29. August 2020 versammelten sich jeweils Hunderttausende in Berlin.2 Die zweite Manifestation konnte nur stattfinden, weil das zuständige Verwaltungsgericht ein vom Berliner Innensenator verhängtes Demonstrationsverbot aufgehoben hatte und diese Entscheidung vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in zweiter Instanz bestätigt worden war. Der SPD-Politiker Andreas Geisel hatte den Veranstaltern zum Vorwurf gemacht, dass sie bei ihrer ersten Großdemonstration die mit der Polizei zuvor vereinbarten Abstands- und Mund-Nasen-Schutzregelungen bewusst gebrochen hätten. Den aus Stuttgart stammenden Organisatoren Initiative Querdenken 711 ginge es gar nicht um die Ablehnung der Corona-Maßnahmen. In Wirklichkeit richteten sich ihre Protestaktionen gegen die Verfassung; „unter dem Deckmantel der Versammlungs- und Meinungsfreiheit“ versuchten sie, das demokratische System „verächtlich zu machen“. Und nur zu bald stellte sich heraus, dass Geisel mit seiner Prognose wohl nicht so ganz verkehrt gelegen hatte. Denn bei einer Protestversammlung vor der Unter den Linden gelegenen Botschaft der Russischen Föderation, in deren Verlauf es wegen militanter Übergriffe auf die Polizei zu 200 Festnahmen gekommen war, erklärte der Gründer der Querdenken 711-Gruppierung Michael Ballweg, dass das Grundgesetz ausgehöhlt sei. Nicht der Bundestag, sondern der Souverän müsse die Macht übernehmen. Man wolle deshalb „an einer neuen Verfassung“ arbeiten. Von den rund 3000 dort Versammelten wurde der Abschluss eines „Friedensvertrages mit Deutschland“ gefordert. Dieser Appell konnte als ein Hinweis darauf verstanden werden, dass es sich um ein programmatisches Ziel der Reichsbürger handelte, in deren Ideologie die Vorstellung, dass Deutschland immer noch von den Alliierten besetzt und kein souveräner Staat sei, die zentrale Rolle spielt. Als sich dann am Abend des 29. August rund 500 Demonstrierende vor dem Reichstagsgebäude formierten, musste das wie eine Bestätigung dieser Vermutung wirken. Denn der dort versammelte Pulk wurde nicht nur von Reichsflaggen, dem Symbol der gleichnamigen Bewegung, dominiert. Die Kundgebung war zuvor auch von einer Reichsbürger-Gruppe mit dem bezeichnenden Namen „Staatenlos“ angemeldet worden. Die Rolle einer Aufwieglerin spielte in dieser Situation eine aus der Eifel stammende Heilpraktikerin. Sie rief die Menge von einer Bühne herab kurzerhand dazu auf, sich in Richtung Reichstagstreppe in Bewegung zu setzen. Dabei schlug sie einen Ton an, der ganz den Anschein erweckte, als handle es sich um einen Moment von welthistorischer Bedeutung. Voller Inbrunst rief sie aus: „Wir schreiben heute hier in Berlin Weltgeschichte. Guckt euch um, die Polizei hat die Helme abgesetzt. Vor diesem Gebäude und Trump ist in Berlin. Die ganze Botschaft ist hermetisch abgeriegelt, wir haben fast gewonnen. Wir brauchen Masse. Wir müssen jetzt beweisen, dass wir alle hier sind. Wir gehen da drauf und holen uns heute, hier und jetzt unser Hausrecht. Wir werden gleich diese komischen kleinen Dinger brav niederlegen und gehen da hoch und setzen uns friedlich auf die Treppe und zeigen Präsident Trump, dass wir den Weltfrieden wollen und dass wir die Schnauze gestrichen voll haben. Wir haben gewonnen.“3 Im Anschluss setzte sich der Tross tatsächlich in Bewegung und erklomm eine Stufe nach der anderen. Im Gegensatz zur Aufforderung, sich „friedlich auf die Treppe“ zu setzen, hatte zumindest die an der Spitze des Vorstoßes Beteiligten andere Ambitionen. Sie marschierten fest entschlossen auf den Eingang zu, ohne auf ein unüberwindliches Hindernis zu treffen. Denn dort befanden sich lediglich drei Polizisten, die allerdings entschieden genug waren, ihnen den Zugang zu verwehren. Nach einer kurzen Rangelei ließen die Reichstagsstürmer im Geiste tatsächlich von ihrem Vorhaben ab.4 Was wäre eigentlich geschehen, wenn es den Demonstranten gelungen wäre, ins Innere des Gebäudes – und damit tatsächlich in die Herzkammer der Demokratie – vorzudringen? Sie hätten in den Fluren demokratiefeindliche Parolen anbringen, in die Büros der Abgeordneten oder gar in den Plenarsaal eindringen und das Inventar beschädigen können. Mehr noch als der physische Schaden wäre der symbolische beträchtlich gewesen. Nicht dass ein paar hundert Rechtsradikale auch nur im Ansatz einen Umsturz hätten herbeiführen können, das gewiss nicht. Aber sie hätten ein Bedrohungsszenario in Szene setzen können, das auch über die Grenzen hinaus heftige Irritationen ausgelöst und bestimmt den Beifall der Unverbesserlichen gefunden hätte. Gewiss, die Aktion auf der Reichstagstreppe war eine Farce, aber eine, die eine Fratze gezeigt hat – die eines Umsturzes, des Sturzes der parlamentarischen Demokratie. Diese Absicht hatte die besagte Heilpraktikerin bereits am Tag zuvor bei einem anderen Aufruf zumindest anklingen lassen. Sie war im Rahmen einer Kundgebung der Gelbwesten Berlin aufgetreten, die ebenfalls vor der Russischen Botschaft stattgefunden hatte, und dort angekündigt, am Tag darauf werde „vereint dafür gesorgt“, dass „diese BRD-Fake-Regierung abgewickelt“ werden würde. Demnach dürfte es sich um nichts anderes als die Insinuierung einer Machtergreifung gehandelt haben.5 Zu den von der Heilpraktikerin aus der Eifel in die Welt gesetzten Phantastereien gehörte auch die von ihr vertretene Behauptung, dass US-Präsident Donald Trump, der von der Reichsbürger-Bewegung wie ein Bruder im Geiste angesehen wird, in Berlin sei. Einige Mit-Demonstrierende waren konkreter geworden und hatten an dieser Legende mit der Bemerkung weiter zu stricken versucht, dass er kurz zuvor auf dem Flughafen Schönefeld gelandet sei und sich inzwischen in der direkt hinter dem Brandenburger Tor gelegenen US-Botschaft befände. Also ganz in der Nähe und in gewisser Weise zum Eingreifen bereit. Später bekräftigte die Heilpraktikerin auf kritische Nachfragen von Journalisten diese Wahnvorstellung und fand sich durch zwei „Beweise“ bestätigt – durch die Beleuchtung der US-Botschaft und an der Position, mit der die amerikanische Flagge am dort befindlichen Fahnenmast angebracht sei. Mehrere Monate später melden die Berliner Polizei und Staatsanwaltschaft, dass wegen der versuchten Erstürmung des Reichstagsgebäudes 34 Ermittlungsverfahren in Gang gesetzt worden wären, die insgesamt 40 Tatverdächtige beträfen.6 Dabei gehe es in 18 Fällen um den Vorwurf des Landfriedensbruchs, ein Delikt, das immerhin mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe geahndet werden kann. Bemerkenswert ist auch das Spektrum der anderen Delikte, wegen denen ermittelt wird. Untersucht werde wegen des Verdachts der Gefangenenbefreiung, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, tätlicher Angriffe auf die Betreffenden, der einfachen wie der schweren Körperverletzung, der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen sowie des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz. Die Bundestagsabgeordnete Irene Mihalic, die als innenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion fungierte, begrüßte die Ermittlungen und verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass es auch zu Verurteilungen komme.7 Sie meinte, dass sich die Ermittler nicht auf einzelne Tatverdächtige allein beschränken, sondern auch auf mögliche Vernetzungen der Rechtsbrecher und Gewalttäter ein besonderes...