Eine Verteidigung gegen seine Bewunderer
E-Book, Deutsch, 202 Seiten
ISBN: 978-3-86393-625-9
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sein fragmentiertes, oft enigmatisches Werk drückt eine radikale Haltung aus: die eines Gefährdeten, der die Fragilität der Moderne selbst ins Zentrum seiner Theoriebildung gestellt hatte. Diese existentielle Dimension unterschied ihn von seinen Weggefährten.
Doch dem Umgang mit seinem erst im Nachhinein legendär gewordenen Werk haftet häufig etwas Epigonenhaftes an – als ob nicht gerade Widerspruch und Kritik Treue zum Denken Benjamins ausmachten: Nur wer auch in theoretischer Hinsicht den jeweiligen "Glutkern Aktualität" einer Aufgabe zu suchen und zu bergen bereit ist, leistet ihm die Gefolgschaft, die seinem Werk angemessen ist. Insofern ist es höchste Zeit, Benjamin gegen seine Bewunderer zu verteidigen.
Autoren/Hrsg.
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„Die Kräfte des Rausches für die Revolution gewinnen“
Walter Benjamin und die Studentenbewegung
I.Personalia
Wenn hier heute Abend* über den Magnetismus der Kritischen Theorie und damit über die Faszination, die Walter Benjamin auf die Studentenbewegung ausgeübt hat, gesprochen werden soll, dann komme ich damit gleichzeitig, wenn auch mit gehöriger, ja kaum zu entschuldigender Verspätung einer Verpflichtung nach. Als vor mehr als anderthalb Jahrzehnten am Hamburger Institut für Sozialforschung eine Ausstellung über Benjamins Leben und Werk gezeigt wurde, sprach mich mit Rolf Tiedemann derjenige an, der sich als Editor zweifellos mehr als jeder andere um Benjamins Werk verdient gemacht hat. Er forderte mich auf, einen Vortrag über Walter Benjamin und die Studentenbewegung zu halten. Ich muss gestehen, dass mir bei dem Gedanken nicht ganz wohl in meiner Haut war. Schließlich war Tiedemann in seiner Loyalität gegenüber Adorno kaum zu übertreffen und wer über das konfliktbehaftete Thema sprechen wollte, konnte dies wohl kaum tun, ohne sich im Nachhinein einer Äquidistanz gegenüber Adorno und den studentischen Akteuren zu bemüßigen. Etwas ausweichend stellte ich ihm zwar die Erfüllung dieser Aufgabe in Aussicht, ließ mich jedoch nicht auf eine konkrete Verabredung ein. Tiedemann reagierte dennoch, wie ich mich zu erinnern glaube, mit den Worten: „Dann komme ich nach Hamburg.“ Dazu ist es schließlich nicht gekommen. Vielleicht hätte es nur eines äußeren Anlasses bedurft, um ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Mehr als ein solcher scheint mir gegeben zu sein, heute im Rahmen dieser kleinen, zur Begleitung der 68er-Ausstellung im Historischen Museum organisierten Reihe sprechen zu dürfen. Dabei möchte ich von vornherein den Eindruck vermeiden, dass derjenige, der Ihnen hier gegenübersteht, darüber lediglich in seiner Doppelrolle als Zeitzeuge und Historiker sprechen möchte. Dieser bin ich auch, jedoch nicht nur. Denn für mich selbst hat Benjamin – obgleich im Sinne einer gewissen Ungleichzeitigkeit – eine zentrale, ja überaus entscheidende Rolle gespielt. Als ich mich 1968 entschieden hatte, mein Studium – im Hauptfach Philosophie – in Frankfurt zu beginnen, war ich intellektuell bereits mehr oder weniger durch die edition suhrkamp sozialisiert gewesen. Auch wenn es damals das von George Steiner eingeführte Etikett noch nicht gab, so hätte ich mich wohl am ehesten – wenn mir das nicht zu geschwollen vorgekommen wäre – als Kind der „Suhrkampculture“ begreifen können. Seit 1965 hatte ich als Schüler von den vier monatlich erscheinenden es-Titeln in der Regel jeweils drei gelesen. Die 9 Mark, die das damals kostete, schienen mir die Lektüre allemal wert zu sein. Während es auf dem Kleinstadtgymnasium kaum eine Anregung gab, sich mit moderner Philosophie, Soziologie und Psychologie, gar Psychoanalyse, auseinanderzusetzen, konnte man in der es-Reihe anhand ausgewählter Texte Adorno, Marcuse, Lefèbvre, Riesman und andere mehr kennenlernen. Es war wie eine Einführung in einen geistigen Kosmos, der im Schulunterricht so gut wie keinen Niederschlag gefunden hatte. Da konnte es natürlich nicht ausbleiben, auch die Bekanntschaft des einen oder anderen Benjamin-Textes zu machen. So glaube ich etwa, mich an die Lektüre des Kunstwerk-Aufsatzes erinnern zu können1, der mich faszinierte und zugleich befremdete. Worin die Aura eines Kunstwerks bestehen sollte, erschloss sich mir nicht auf Anhieb, blieb mir eher rätselhaft und vage. War das nicht bloß der Spleen eines mir unbekannten Autors, der mit einer auf Objektivierbarkeit bedachten wissenschaftlichen Terminologie nichts zu tun hatte? Als ich dann im September 1968 in dem damals noch im 1. Stock des Hauptgebäudes gelegenen Philosophischen Seminar auf einen früheren Mitschüler stieß, der damit begonnen hatte, bei Adorno eine Dissertation über Benjamins Konzept des dialektischen Bildes zu verfassen, war mir das Anregung genug, mich während des ansonsten so turbulent verlaufenden Semesters, das als „Aktiver Streik“ in die Annalen eingegangen ist, näher mit den beiden Textsammlungen Illuminationen2 und Angelus Novus3 zu befassen, den damals wohl am weitesten verbreiteten Aufsatzsammlungen Benjamins. Doch auch diese Lektüre enttäuschte mich und ließ mich eher ratlos zurück. Ich fand die Texte von ihren Themenstellungen her zu disparat, von ihrem Aufbau und ihrer Argumentationsweise zu hermetisch, im Grunde zu abwegig und zu versponnen. Im Gegensatz zu dem, was ich von Adorno in dessen kritischen Modellen Eingriffe, Ohne Leitbild und Stichworte gewohnt war, fand ich keinen Zugang. Benjamin blieb mir vorerst verschlossen. Seine Texte waren für mich das, was man gemeinhin als ein Buch mit sieben Siegeln bezeichnet. Mich interessierte damals in erster Linie Sprachphilosophie. Ich las Wilhelm von Humboldt, Wittgenstein, Russell und de Saussure. Als die Vorlesung von Jürgen Habermas im Hörsaal VI über Sprachphilosophie durch Hans Imhoff mehrfach gestört und schließlich abgebrochen wurde, war das eine der größten Enttäuschungen, die ich zu Beginn meines Studiums erlebte. Einerseits fand ich es durchaus angemessen, unter bestimmten politischen Voraussetzungen Lehrveranstaltungen punktuell „umzufunktionieren“, wie das damals hieß, andererseits jedoch fand ich es kontraproduktiv, sich wegen der mir postpubertär erscheinenden Selbstinszenierungen eines verhinderten Happening-Künstlers vom Wichtigsten abzuschneiden, was ein Studium zu bieten hatte, theoretischer Anregung und Erkenntnisgewinn. An meiner inneren Blockade änderte sich auch nichts, als ich kurze Zeit später in der Basisgruppe Germanistik damit konfrontiert wurde, dass zwei Benjamin-Texte eine zentrale Rolle spielten – neben dem bereits erwähnten Kunstwerk-Aufsatz vor allem Der Autor als Produzent.4 Der Text war ein Generalangriff auf die sogenannte „linksbürgerliche Intelligenz“. Der Schlusssatz lautete: „[…] der revolutionäre Kampf spielt sich nicht zwischen dem Kapitalismus und dem Geist, sondern zwischen dem Kapitalismus und dem Proletariat ab.“5 Das war Wasser auf die Mühlen all derer, die ein Unbehagen am Kulturbetrieb empfanden und sich marxistisch positionieren wollten. Man war dabei, sich selbst neu zu erfinden – als Intellektueller, als Geisteswissenschaftler, als Publizist, als künftiger Klassenkämpfer, für den man sich nun zu halten können glaubte. Es ging um den Versuch einer materialistischen Bestimmung intellektueller Arbeit. Dabei war der Einfluss Bertolt Brechts auf Benjamin unübersehbar. Da mir Brecht jedoch wegen seiner ambivalenten Haltung gegenüber dem Sowjetkommunismus schon immer suspekt war, blieb ich auch weiterhin skeptisch. Es sollte schließlich – worauf noch zurückzukommen sein wird – mehr als ein halbes Jahrzehnt dauern, bis ich einen erneuten Anlauf unternahm, mich dem Benjaminschen Œuvre zu nähern. II. Kontext 1967
Um die damaligen Affinitäten Benjamin gegenüber besser begreifen zu können, bietet es sich an, eine Vergleichskonstellation herzustellen. Dafür eignet sich nichts besser als die Fokussierung auf drei Einzelereignisse im Umfeld jenes Schlüsseldatums vom 2. Juni 1967, in denen sich das Spannungsverhältnis der Studentenbewegung gegenüber Horkheimer, Adorno und Marcuse auf eine geradezu mikrologische Weise herauskristallisiert hat. Es begann am 7. Mai 1967 damit, dass es sich Max Horkheimer nicht hatte nehmen lassen wollen, zur Eröffnung der Deutsch-Amerikanischen Freundschaftswoche auf dem Römerberg auf der Ehrentribüne neben dem Kommandierenden General des V. US-Korps Platz zu nehmen. Als er dann am Abend desselben Tages im Amerikahaus die Festrede hielt und dabei meinte, die militärische Intervention der USA in Südostasien als „Verteidigung der Menschenrechte“ hinstellen zu können, war die Empörung, insbesondere im SDS, groß. In einem Offenen Brief warf der SDS Horkheimer im Grunde Verrat an den wichtigsten Zielsetzungen seiner Gesellschaftstheorie vor:6 Der einstige Chef des Instituts für Sozialforschung übe sich in Quietismus und übernehme in seiner resignativen Haltung eine weitgehend affirmative Funktion gegenüber dem Bestehenden. Zwei Monate später, am 7. Juli 1967, sollte es bei einer Veranstaltung im Audimax der Freien Universität West-Berlin noch schlimmer kommen. Bereits vor Beginn eines Vortrags von Theodor W. Adorno Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie waren Flugblätter verteilt worden, in denen gegen dessen Weigerung protestiert wurde, ein für eine Gerichtsverhandlung dienendes Gutachten zu verfassen, in dem einem von der Kommune I verfassten Text über den Brand eines Brüsseler Warenhauses der Charakter einer Persiflage attestiert werden...