E-Book, Deutsch, 259 Seiten, E-Book
Reihe: Haufe Fachbuch
Einvernehmliche Lösungen finden bei Gewerbeansiedlung, Nachverdichtung, Sanierungsvorhaben
E-Book, Deutsch, 259 Seiten, E-Book
Reihe: Haufe Fachbuch
ISBN: 978-3-648-13031-5
Verlag: Haufe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Mario H. Kraus ist Mediator und Publizist. Unter anderem veröffentlichte er das Lehrbuch 'Mediation - wie geht denn das?'. Als Mediator betreute er unter anderem die landeseigene HOWOGE Wohnungsbaugesellschaft Berlin und lehrte Mediation an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Rostock.
Autoren/Hrsg.
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
- Wohnungs- und Grundstückswirtschaft in Deutschland
- Entwicklungen in Siedlungsräumen
- Ereignisdichten und Streitaufkommen
Streitfälle in Wohnungsbeständen
- Streitgegenstände und Beschwerdegründe
- Exkurs: Lärmbelästigung
- Rechtsprechung zu Streitfällen im Wohnumfeld
- Exkurs: Gerüchte
- Kultur(en) und Konflikt
Grundlagen der Streitbeilegung
- Exkurs: Konflikttheorie
- Rechtsgrundlagen und Einrichtungen
- Mediation
- Streitbeilegung und Rechtsweg im Vergleich
- Exkurs: Dualismen
Vermittlung in Streitfällen
- Fallentwicklung und Vorbereitung (5 Checklisten)
- Phasen der Mediation
- Exkurs: Verhandlungen
- Sprachliche Mittel
- Exkurs: Problem
- Ergebnisse und Vereinbarungen
Einbindung in das Tagesgeschäft
- Qualitätssysteme und Prozessroutinen
- Bestandsentwicklung und Gemeinwesenarbeit
- Stadtentwicklung als Spannungsfeld
- Risikopotenziale und Konfliktprävention
- Beispiele aus dem Tagesgeschäft
- Abschluss
Anhang
- European Code of Conduct for Mediators
- Mediationsgesetz
- Schlichtungsordnung einer Wohnungsgenossenschaft (Auszug).
- AGB für Mediatoren in der Wohnungswirtschaft (Muster)
Quellen/Literatur
Stichwortverzeichnis
Danksagung
Der Autor
1 Einleitung
1.1 Wohnungs- und Grundstückswirtschaft in Deutschland
Die Wohnungs- und Grundstückswirtschaft ist in Deutschland – neben beispielsweise dem Gesundheitswesen, dem Bildungswesen oder der Rechtspflege – eines der großen Funktionssysteme. Dies sind nach der Lehre des »Herrn der Zettelkästen« und Begründers der gesellschaftlichen Systemtheorie, Niklas Luhmann, nicht ausschließlich staatliche Einrichtungen; der Begriff umfasst vielmehr alle Sozialsysteme mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung (Datenbasis aus Destatis 2018a, 2018b, Deutscher Bundestag 2017, Kofner 2010).
Hauptzweck ist die Versorgung der Bevölkerung, in diesem Fall mit Wohnraum: In Deutschland leben > 82,5 Millionen Menschen in etwa 41,3 Millionen Haushalten. Von diesen beruhen knapp 22,5 Millionen auf Mietverhältnissen (in Berlin sechs von sieben, in den Flächenländern drei bis fünf von sieben). Es gibt etwa 42 Millionen Wohnungen, davon knapp 19 Millionen in Gebäuden mit 1–2 Wohnungen (einschließlich selbstgenutzter Eigenheime und vermieteter Einliegerwohnungen). Die durchschnittliche Wohnungsgröße beträgt knapp 92 m2, die Wohnungsfläche je Haushaltsmitglied 46,5 m2 (in Großstädten oft deutlich weniger).
Es geschehen ständige Veränderungen als Teil gesamtgesellschaftlicher Entwicklung, die sich in der Differenzierung örtlicher Wohnlagen und der Segmentierung des Wohnungsmarktes zeigt. Ein knappes Viertel der Haushalte bestand in Gemeinden mit < 10.000, gut 41 % in Gemeinden mit 10.000–100.000, 16 % in Gemeinden mit 100.000–500.000 und 18,5 % in Großstädten und Ballungsräumen mit > 500.000 Menschen; die Bevölkerungsdichte verschiebt sich weiterhin von Ersteren zu Letzteren. Deutschland ist nach der Schweiz der zweitgrößte europäische Mietwohnungsmarkt. Tatsächlich gibt es nicht den einen Markt, sondern eine Vielzahl örtlicher, sehr unterschiedlicher Teilmärkte; Berlin ist der größte von ihnen.
Dies ist begleitet von einer Verrechtlichung als einem Charakteristikum der Moderne: Die immer weitere Durchdringung aller Lebensbereiche mit Rechtsnormen ist im Mietrecht Jahr für Jahr gut zu verfolgen.
Ursprüngliche Nebenzwecke gewinnen immer größere Bedeutung. So ist die Wohnungs- und Grundstückwirtschaft ein wichtiger Arbeitsmarkt (die Branche hat etwa eine halbe Million Erwerbstätige) und verbunden mit mehreren Wertschöpfungsketten und Wirtschaftskreisläufen: Erwerb und Veräußerung von Grundstücken und Liegenschaften, die Vermögensbildung oder die Beteiligung an Maßnahmen der Stadt- und Raumentwicklung sind Beispiele. Gebäude (8 Billionen Euro) sowie Grund und Boden (3,8 Billionen Euro) bilden 87 % des volkswirtschaftlichen Sachvermögens in Deutschland. Etwa 32,3 Millionen Wohnungen befinden sich in Einzeleigentum – davon 17,3 Millionen zur Selbstnutzung, 13,5 Millionen zur Vermietung. Die Bruttowertschöpfung der Wohnungs- und Grundstückswirtschaft beträgt derzeit jährlich > 300 Milliarden Euro.
Wichtig ist die Vernetzung von Funktionssystemen untereinander: Die Wohnungs- und Grundstückswirtschaft hat, teils aufgrund zwingender gesetzlicher Vorschriften, Schnittmengen mit der Rechtspflege (Mietrecht, Arbeitsrecht, Vertragsrecht bei Bau, Kauf, Vermietung, Verpachtung …), dem Banken- und Versicherungswesen (Zahlungsverkehr, Gebäudeversicherung, Kreditwesen, …) oder den öffentlichen Verwaltungen (Steuererhebung, Überwachung von »Fehlbelegung«, Gewährung von Wohngeld, …).
Da Funktionssysteme in Privatsphären hineinwirken, sie teils erst ermöglichen, sind Spannungen nicht vermeidbar: Die Passgenauigkeit von Angeboten lässt sich nicht immer garantieren, weder mit Rechtsansprüchen noch über Marktbewegungen; es gibt nicht »die« Wohnung für jeden. Und gerade die Unternehmen der Wohnungs- und Grundstückswirtschaft erfahren im Tagesgeschäft sehr viel über die Befindlichkeiten und Bedürfnisse der Bevölkerung in den jeweiligen Einzugsgebieten.
1863 notierte Adolph Wagner (* 1835, † 1917), Professor an der heutigen Humboldt-Universität zu Berlin, erstmals das Gesetz der wachsenden Staatsausgaben, heute als Wagner’sches Gesetz bekannt: Zunehmender Wohlstand einer Gesellschaft bewirkt immer stärkere staatliche Regelungsbemühungen; so entstehen nach und nach der allzuständige Wohlfahrtsstaat und mit ihm die Verrechtlichung. Diese Gesetzmäßigkeit wurde – bemerkenswert – noch vor den Bismarck’schen Reformen entdeckt und hat sich bis heute als gültig erwiesen. In der Wohnungswirtschaft geschah dies bald darauf, in der Regierungszeit Bismarcks, vor allem durch die neuen Ansätze von Stadtplanung und Baurecht, die damalige staatliche Förderung genossenschaftlichen Wohnens oder die in Unternehmen ausgelagerte Erschließungen von Siedlungsräumen zur Erweiterung der Städte (Parzellierung und Vermarktung von Bauland durch Terraingesellschaften; Versorgung mit Wasser, Strom und Gas; Nahverkehr): Public Private Partnership ist kein wirklich neuer Ansatz. Mögen heutige Wohnungsunternehmen auch marktwirtschaftlich aufgestellt sein, die Verbindungen zu Staat und Rechtspflege sind in Deutschland vom Beginn der Moderne bis heute immer stärker geworden. Dies ist letztlich auch notwendig, denn kein Funktionssystem kann sich hinreichend selbst begrenzend steuern; es neigt zur Expansion durch Differenzierung und regelt sich nur über die Schnittmengen zu anderen Sozialsystemen.
Das ist bei der Bearbeitung von Streitfällen zu beachten, wie noch gezeigt wird. Schon die skizzierten Größenordnungen lassen es verständlich erscheinen, dass Streitigkeiten in Wohnungsbeständen nicht vermeidbar sind. Sie geschehen heute in zwei Maßstäben: So gibt es seit jeher »kleine«, alltägliche Streitigkeiten mit überwiegender Nahwirkung zwischen
- Mietparteien im Wohnungsbestand,
- Wohnungsunternehmen/Hausverwaltungen und Mietparteien,
- Mietparteien und Beteiligten im weiteren Wohnumfeld,
- Beschäftigten eines Wohnungsunternehmens oder auch
- Wohnungsunternehmen und Dienstleistern (Bau, Handwerk, Gebäudereinigung).
Solche Fälle entfalten über die Rechtsprechung oder Gesetzgebung eine sachlich begrenzte Fernwirkung, zumal wenn es um verbreitete Streitgegenstände geht (Stichworte: Lärmbelästigung, Schäden an der Mietsache, Instandsetzung, Mieterhöhungen, Nebenkosten, …). Doch zunehmend wirken in Siedlungsräumen Spannungsfelder, die schon von Anfang an Fernwirkung haben: Der Wandel deutscher Städte beeinflusst alle Lebensbereiche der Bevölkerung. Streitträchtig sind dabei insbesondere
- Übernachfragen in örtlichen Wohnungsmärkten, verbunden mit Mietsteigerungen, die zum Bevölkerungswandel beitragen,
- Konzentrationsprozesse in der Wohnungswirtschaft (Aufkauf von Wohnungsbeständen durch bundesweit tätige, teils börsennotierte Wohnungsunternehmen),
- Nachverdichtungen von Siedlungsräumen, mitunter begleitet durch umfassende Sanierungsmaßnahmen an Bestandsbauten,
- Neuordnungen und Umwandlungen von Gewerbe- und Verkehrsflächen (auch Umwidmung von Kleingartenanlagen), ggf. mit weiträumigen Erschließungen, oder die
- Ansiedlung von Unternehmen und Schaffung neuer Verkehrswege.
Nun obliegt es Unternehmen der Wohnungswirtschaft im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht, der Fürsorgepflicht und der Vertragserfüllung, die Mietsache in einem vertragsgemäßen und nutzungsfähigen Zustand zu erhalten und überdies ihre jeweiligen wirtschaftlichen Ziele zu erfüllen. Streitaufkommen und Störungen im Tagesgeschäft laufen dem zuwider und müssen daher mit sinnvollen Mitteln behoben werden. Das führt nicht selten an die Grenzen der wohnungswirtschaftlichen Zuständigkeiten – einerseits wenn es um die Privatsphären von Mietern geht, andererseits um die genannten Entwicklungen, die ganze Siedlungsgebiete betreffen. Frühzeitiges und geplantes Vorgehen ist angezeigt.
In den letzten 20–30 Jahren wurden in Deutschland verschiedene Anwendungsbereiche für Mediation erschlossen; von einem Trend, den es mitzumachen gilt, kann also nicht mehr gesprochen werden. Zahlreiche Wohnungsunternehmen haben Verfahren zur einvernehmlichen Streitbeilegung erprobt. Langfristig sinnvoll sind diese nur mit klaren betrieblichen und unternehmerischen Zielen wie
- dem Erarbeiten einer sachgerechten, umsetzbaren und rechtssicheren Lösung für den einzelnen Streitfall, damit der Verbesserung des nachbarschaftlichen Miteinander (Stichwort: Hausfrieden),
- dem Aufrechterhalten von Mietverhältnissen, um streitbedingtem Leerstand und Mietausfall vorzubeugen (was im Einzelfall nicht die Kündigung eines Vertrags...