E-Book, Deutsch, 168 Seiten
ISBN: 978-3-374-07424-2
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Karl-May-Biograf Thomas Kramer, der seit Jahrzehnten zu May forscht und arbeitet, ist diesen Vorwürfen sachlich und unaufgeregt, dafür mit viel Humor nachgegangen. Sein Urteil fällt eindeutig aus.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Einzelne Autoren: Monographien & Biographien
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Ethische Themen & Debatten: Zensur
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Deutsche Literatur
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politik: Sachbuch, Politikerveröffentlichungen
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften: Allgemeines Volksglaube & Umstrittenes Wissen
Weitere Infos & Material
Antisemit! Antisemit?
War er, oder war er nicht? Die Frage, ob Karl May Antisemit war, beschäftigt seit Langem Freunde, Bewunderer und – neuerdings natürlich wieder – seine Kritiker und Feinde. Und da ist noch die Sache mit dem „Führer“. Angeblich war Karl May doch der Lieblingsautor Adolf Hitlers. Das genügt noch Jahrzehnte nach dessen allzu später Höllenfahrt als Autoritätsbeweis. Hat er doch bei uns und anderswo längst wieder eine zunehmende Anhängerschaft. Und als Totschlagargument ist er allemal von Nutzen. Doch was kann ein Künstler oder Autor für seine Bewunderer? John Lennon wurde von einem seiner größten Fans auf offener Straße erschossen – sollte man „Give Peace a Chance“ oder „Imagine“ nicht besser auf den Index setzen, da die Titel augenscheinlich unterschwellig Mörderinstinkte wecken? Und was wird aus „Rheingold“ und „Parsifal“? Woody Allen meinte einmal: „Immer, wenn ich Wagner höre, habe ich das Bedürfnis, in Polen einzumarschieren.“ Da liegt der Fall einfacher: Spätestens mit der Lektüre von „Das Judentum in der Musik“ des Komponisten mit Welterlösungswahn muss auch dem größten Bayreuth-Aficionado klar werden, warum gerade Mays sächsischer Landsmann zum Lieblingskomponisten Hitlers avancierte. Ähnlich liegt der Fall bei drei anderen Zeitgenossen des laut DDR-Autor Hermann Kant „herrlichen sächsischen Lügenbolds“: Karl Marx, Friedrich Engels und Sir John Retcliffe. Im Unterschied zu May entwarfen alle drei bis heute nachwirkende Weltverschwörungstheorien mit Völkermordpotential. Doch davon später. Im Jahr 1919 erschien unter dem damit zu meinem Leidwesen bereits vergebenen Titel „Eine Lanze für Karl May“ eine Streitschrift des Verlegers Euchar A. Schmid. Darin verteidigt der Herausgeber von „Karl Mays gesammelten Werken“ den 1912 verstorbenen Autor gegen einen diskreditierenden Nachruf. Einleitend bemerkt Schmid: „Durch die Presse gingen während des letzten Halbjahrs zahlreiche mehr oder weniger ausführliche Mitteilungen über eine neue Hetze gegen Karl May, und zwar wurden darin die Angreifer fast einstimmig verurteilt, obwohl der Öffentlichkeit bisher noch nicht das gesamte Material zugänglich war.“ 103 Jahre später, 2022, ging wieder einmal vieles für und noch mehr wider Karl May und seine Romane durch die Presse. Zum Geleit der zweiten Auflage bemerkte Schmid Ende 1925: „Vieles hat sich seither geändert. Die Zeit, in der Karl Mays Name schutzlos jeder Verunglimpfung ausgesetzt war, ist vorüber.“ Da hatte er sich aber gründlich geirrt. Der 1951 Verstorbene kannte die sozialen Medien noch nicht. Nun überfallen Anti-Karl-May-Diskussionen den deutschen Menschen jeglicher politischer Couleur periodisch wie die Grippe. Die erste Welle überrollte den bis dahin erfolgsverwöhnten Autor bereits zu Lebzeiten und gefror zu einem eisigen Sargnagel. Damals ging es vor allem um seine angeblich moralisch fragwürdigen Kolportageromane und die „Old Shatterhand-Legende“, also die Behauptung des Autors, er wäre mit seinen Superhelden identisch. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus verlagerte sich die Kritik in die politische Sphäre. Rechte kritisieren seine Texte als christlich-humanitätsduselnd, bigott, pazifistisch, kosmopolitisch und rassenverbrüdernd. Linke wiederum halten ihm die Vermittlung von kolonialistischem, nationalistischem, imperialistischem, rassistischem und – eher neuerdings – explizit antisemitischem Gedankengut vor. Thomas Manns Sohn Klaus prägte den gängigen Slogan vom „Cowboy-Mentor of the Führer.“ Spätestens seit dem Skandal um die Hitler-Tagebücher des STERN – inzwischen schon wieder selbst zweimal erfolgreich verfilmt – ist offensichtlich, wie öffentlichkeitswirksam alles ist, was in Zusammenhang mit dem bekanntesten Sohn Braunaus in Verbindung gebracht wird. FÜHRER SELLS! Stets brodelt dieser Aspekt auch in der Auseinandersetzung mit Karl Mays Werk braunsoßig mit. Selbst ansonsten Literaturbegeisterte, die eigentlich postmoderne Vexierspiele mögen, zeigen sich Karl May gegenüber häufig irritierend spießig: „Der war doch gar nicht selbst in Amerika“ (was noch nicht mal stimmt), „der hat Identitäten frei erfunden“ (na und?), „alles nur geklaut und abgeschrieben“ (er war ja auch Erzähler und kein Wissenschaftler). Auslöser der gesamten Debatte von 2022 war nicht einmal ein Werk des Autors. Der Verlag RAVENSBURGER hatte aufgrund von Protesten einer Reihe von Indigenen drei Begleitpublikationen zu dem Kinderfilm „Der junge Häuptling Winnetou“ zurückgezogen. Aber es bedurfte nur weniger Klicks, um bei Karl May, mit dem der Film lediglich die Namen des Titelhelden und einiger Protagonisten gemein hat, zu landen. Unter der Flagge der Karl-May-Befürworter sammelten sich schnell falsche Freunde. Karl May konnte sich ja nicht mehr wehren, hätte sich aber bestimmt nicht gerne von ihnen vereinnahmen lassen. Populisten riefen wieder einmal den Untergang des Abendlandes aus, verursacht von einer Bande woker „grünrotversiffter“ Chaoten, die sich anschickten, urdeutsches Kulturgut auf dem Altar der „political correctness“ zu opfern. Durch die sozialen Netzwerke ging das Geraune von einem bevorstehenden „Winnetou“-Verbot. Dass es dafür keinerlei Anhaltspunkte gab, spielte keine Rolle. Wahrscheinlich hatte sogar Bill Gates seine Hand im Spiel, der dem deutschen Menschen unter dem Vorwand der COVID-Impfung das Karl-May-Gen entfernt, um es durch von der CIA (und/oder Mossad) in unterirdischen Wall-Street-Laboren gezüchtete amerikanische Verblödungsviren zu ersetzen. Wie bei ähnlichen Vorgängerdebatten bis in die Weimarer Republik ging es natürlich nur vordergründig um den kulturellen Gegenstand; man prügelte den Sack und meinte den Esel. Rechtsaußen nutzte die Debatte für einen Rundumschlag auf das verhasste politische System. An einer sachlichen, gar kritischen, Auseinandersetzung mit Karl Mays Texten ist man in diesem Spektrum nicht interessiert. Doch auch jenseits dieser Klientel kochte man durchsichtige politische Süppchen. Unvergesslich bleibt in diesem Zusammenhang der Auftritt Hubert Aiwangers, zum Zeitpunkt der Diskussion immerhin stellvertretender Ministerpräsident von Bayern. Bei einem Volksfest posierte er im Bierzelt neben dem kostümierten Winnetou-Darsteller der Westernstadt Pullmann City. Der Freie Wähler-Chef schloss seine Philippika mit dem Ruf „Es lebe Bayern, Deutschland, Winnetou und die Meinungsfreiheit“. Nun machte ich mir tatsächlich Sorgen um die Zukunft des Abenlandes … Und schon war auch – in Anlehnung an den Titel eines Bestsellers – ER „wieder da“. O-Ton aus einem Interview: „Es ist kein Zufall, dass Adolf Hitler und SS-Chef Himmler große Karl-May-Fans waren. Teile ihrer Ostbesatzungspolitik, die Vorstellung wie dort deutsche Kolonialist*innen angesiedelt werden, orientiert sich an Vorstellungen von der ‚Eroberung des Wilden Westens‘, wie sie sie aus den Büchern Karl Mays entnommen haben. Das ist eingeschrieben in das Werk von Karl May. Das ändert nichts an seiner Person.“ Das meint der Hamburger Historiker, Professor für die Geschichte Afrikas, Jürgen Zimmerer. Nachdem er einst jugendlicher Karl-May-Begeisterung frönte, schaute er nun kürzlich wieder in diese Objekte adoleszenter Lektüre: „Es war eine deutliche Enttäuschung, nach dem Motto, wie konnte ich in meiner Jugend begeistert sein und das nicht merken, den Antisemitismus, den Rassismus in den Werken.“ Jürgen Zimmerer stieg am 23. August 2022 via Twitter in die Debatte um Karl May ein: „Da #Winnetou und #KarlMay trendet. Hier ein kurzer Thread, warum ich diese Romane für zutiefst kolonial halte, vom enthaltenen #Rassismus und #Antisemitismus ganz zu schweigen. Das Setting ist die genozidale Eroberung der nordamerikanischen Frontier.“ Am 12. September 2022 legte er in einem Interview mit der Zeitung NEUES DEUTSCHLAND nach: „Dabei ist Karl May nicht nur voller rassistischer Beschreibungen, sondern auch mit antisemitischen Klischees durchsetzt.“ Jürgen Zimmerer, Jahrgang 1965, hat Karl May also Mitte der Siebzigerjahre gelesen. Es handelte sich dabei zweifellos um die allerdings stark bearbeiteten „grünen Bände“ des Karl May-Verlages. Karl Mays Originaltexte, auf die ich mich beziehe, werden seit 1987 in Gestalt einer historisch-kritischen Ausgabe als Grundlage jeder ernsthaften wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Werk editiert. In erwähntem Interview mit dem NEUEN DEUTSCHLAND behauptet er beispielsweise: „In ‚Winnetou III‘ wird er [Winnetou] erschossen. Er schützt seinen Blutsbruder und in seinen letzten Worten konvertiert er zum Christentum.“ Allerdings: Nur im Film „Winnetou III“ von 1965, der mit der literarischen Vorlage kaum noch etwas gemein hat, rettet der Häuptling seinen Blutsbruder, indem er sich in die Schussbahn der für Old Shatterhand bestimmten Kugel wirft. Im Buch registriert der lediglich entsetzt Winnetous tödliche...