E-Book, Deutsch, 8096 Seiten
ISBN: 978-80-268-0851-0
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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II. Eine japanische Mysterie.
Inhaltsverzeichnis
Von dem bleigrauen Himmel, welcher an einem Wintermorgen über London hing, fiel ein feiner, kalter Regen herab, aber er vermochte nicht die Tausende und Abertausende von Menschen zu zerstreuen, welche sich in den engen Straßen der City um ein altes, finsteres Gebäude zusammendrängten. Dieses, von hohen Mauern umringt, schon mehr eine kleine Stadt für sich, ist das sogenannte Newgate, die uralte Hinrichtungsstätte der englischen Hauptstadt. »Jetzt wird er gehenkt, Keigo Kiyotaki, der freche Japaner, der den alten Loftus Deacon ermordet hat!« So geht es murmelnd durch die ungeheure Menge, und aller Augen sind starr auf die Flaggenstange gerichtet, welche, in der Mitte des Häuserkomplexes stehend, über den Mauern noch allen sichtbar ist. Und plötzlich verstummt in der tausendköpfigen Menge auch das Flüstern und Murmeln, es ist, als ob sich der Flügel des stummen Todes auf die ganze Riesenstadt herabsenke – denn jetzt steigt an der Flaggenstange eine kleine, schwarze Fahne empor, und in demselben Augenblicke, da sie die Spitze erreicht hat, ertönt ein durchdringender Glockenton. Es ist das Armesünderglöcklein, bei dessen zwölftem Tone das Fallbrett unter den Füßen des am Galgen Stehenden weicht. So war es schon vor hundert, vielleicht vor Hunderten von Jahren, so wird es noch heute in England gehandhabt. Diesmal ist es ein brauner, schlitzäugiger Sohn aus dem Reiche der aufgehenden Sonne, welcher jetzt unter dem Galgen, den Strick um den Hals, mit festgeschnallten Armen auf dem Fallbrett steht. Fern von seiner schönen Heimat, hier in London ist er zum Mörder geworden. Nicht um sich zu bereichern, nicht aus Rachsucht hat er die wohlüberlegte Tat begangen, sondern aus einem für uns Europäer schier unbegreiflichen Grunde, aus Aberglauben, aus treuer Anhänglichkeit an eine ihm heilige Sitte seiner Väter. Aber die englischen Richter konnten auf die religiösen Ansichten eines heidnischen Volkes im fernen Osten keine Rücksicht nehmen – jetzt läutet das Armesünderglöcklein für diesen jungen, vornehmen Japaner, für den letzten Sproß eines edlen Geschlechtes. »Bim!!« erschallt es zum zweiten Male, und es ist, als ob das Sterbeglöcklein für jeden einzelnen dieser zahllosen Menschen bestimmt sei, so zucken stets alle bei dem durch Mark und Bein gehenden Tone zusammen. Drei Sekunden liegen zwischen jedem Glockenschlage. Für die atemlos Wartenden erscheinen sie stets eine Ewigkeit. Fürwahr, dieses Warten innerhalb der 36 Sekunden auf die 12 Glockenschläge, das muß für den zum Tode Verurteilten die furchtbarste Strafe sein! Da endlich, endlich zum dritten Male: bim!! Und wieder bricht eine neue Ewigkeit an. Jetzt, jetzt ...aber jetzt muß doch der vierte Schlag kommen ... Nein, immer noch nicht. Aber jetzt ... Jetzt wird wahrhaftig eine Ewigkeit daraus! »Es muß doch schon eine halbe Minute vergangen sein?« »Die Glocke wird nicht funktionieren.« Dieses Warten auf den vierten Glockenschlag ist so gräßlich, daß in der zusammengepreßten Menge schon überall Ohnmachtsanfälle vorkommen. Und da plötzlich schrickt alles tödlich zusammen, denn mit einem Male erfüllt ein gellendes Geheul die Luft, die ganze Hölle scheint entfesselt zu sein, und wirklich sind es kleine Teufel, welche sich rücksichtslos mit den Ellenbogen zwischen den Menschen Bahn zu machen wissen, unter dem einen Arm hat jeder einen großen Pack Papier, in der anderen Hand schwingt er ein einzelnes Blatt Papier, und dabei heult diese kleine Teufelsbande abwechselnd in allen Tonarten: »Worlds Magazine, drei Pence die Nummer!!! – Keigu Kiyotaki ist unschuldig!!! – Worlds Magazine, sechs Pence die Nummer!!! – Der amerikanische Detektiv Nobody hat den wahren Mörder von Loftus Deacon gefaßt!!! – Worlds Magazine, einen Schilling die Nummer!!!« Wie? Was? Hört man denn recht? Ist das nicht nur ein Trug der Hölle? Wie soll denn eine schon gedruckte Zeitung, noch dazu diese amerikanische Schwindelzeitung ... »Die weiße Flagge! Die weiße Flagge!!!« erschallt da der Ruf, und aller Blicke wenden sich wieder der Flaggenstange zu. Und da klettert an dieser schnell ein weißes Tuch empor, und wie die Flagge der Unschuld die Spitze erreicht hat, wird die schwarze der Schuld und des Todes herabgerissen – und da brach der Tumult los!! Wollte man sagen, die Nummern dieser amerikanischen Zeitschrift wären wie warme Semmeln abgegangen, so würde das noch gar nichts andeuten. Man balgte sich darum, und glücklich der, welcher für solch ein Blättchen Papier nur einen Schilling zu bezahlen brauchte, der las es und konnte es eine Viertelstunde später für ein Goldstück weiterverkaufen. Und dabei konnte sich noch kein einziger erklären, wie dieses Blatt, welches doch in New-York erschien und gedruckt wurde, plötzlich hierher kam. – Und die Nummer trug doch das heutige Datum! ... und überhaupt, das war ja gerade, als ob dieses Blatt allwissend sei! ... hier las man schon klipp und klar, wer der Mörder und daß er festgenommen sei! ... und dort oben auf dem Galgenbrett stand noch der wegen dieses Mordes Verurteilte ... Kurz und gut, hier lag ein so großes Rätsel vor, daß sie alle im Augenblick gar kein Rätsel sahen, ungefähr so, wie mancher vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Dann freilich, als man darüber nachdachte und die Lösung des Rätsels erfuhr, da brummte mancher John Bull mit neidischer Bewunderung: »Diese verdammten Yankees! Das war wieder so ein echt amerikanischer Trick! Ja, so etwas können wir ihnen doch nicht nachmachen!« Ehe wir uns hinter die Mauern in das Innere von Newgate versetzen, um zu sehen, weshalb die Hinrichtung unterbrochen wurde, und was sich dort sonst noch zutrug, müssen wir erst den Kriminalfall und seine Vorgeschichte kennen lernen. Loftus Deacon war schon mit jungen Jahren als Vertreter des väterlichen Geschäftes nach Japan gegangen, er verbrachte fast ein Menschenalter dort. Wohl kam er ab und zu einmal nach England, aber erst nach dem Tode seines Vaters kehrte er, selbst schon vorgerückten Alters, für immer zurück, ließ sich in London nieder. Das väterliche Geschäft verkaufte er. Er hatte aus dem fernen Osten eine große Sammlung von indischen und japanischen Raritäten mitgebracht, und nun war sein ganzes Leben ausschließlich dem Zwecke gewidmet, diese Sammlung ständig zu vermehren. Er war ein schwerreicher Mann, was am besten daraus erhellt, daß er für solche Antiquitäten im Durchschnitt jährlich 15 000 Pfund Sterling, das sind 300 000 Mark, ausgab. Loftus Deacon war Junggeselle geblieben. Er bewohnte im Westend ein sehr großes, vierstöckiges Haus, richtiger gleich drei – Bedford Mansions, Nummer 1, 2 und 3, das Gebäude steht noch heute, ist aber jetzt ein Lagerhaus – in diesem hauste er ganz allein mit nur fünf männlichen Dienern. Er war, wenn nicht ein ängstlicher, so doch ein sehr vorsichtiger und sogar mißtrauischer Mensch, und man konnte ihm auch nicht verdenken, wenn er sich gegen einen Einbruch möglichst zu schützen suchte. Denn in seinem Hause waren Millionen angehäuft, und zwar nicht nur an wissenschaftlichem und Liebhaberwert, sondern auch an direktem, an Gold und an Juwelen, nicht zum mindesten auch an kostbarem Porzellan und asiatischen Seidenstoffen. Sämtliche Fenster waren stark vergittert, alle Türen von Eisen oder doch eisenbeschlagen und mit den besten Sicherheitsschlössern versehen, Tag und Nacht mußte in der Hausflur ein Portier sitzen. Deacon allein hatte in der Tasche einen Schlüssel von kompliziertester Konstruktion, welcher von den Korridoren aus sämtliche Türen der Schatzkammern öffnete. Außerdem gab es noch einen zweiten ebensolchen Schlüssel, welcher an einem Orte hing, der nur den Dienern bekannt war, und zwar in einem Glaskasten, und um ihn vom Nagel zu nehmen, mußte die Glasscheibe eingeschlagen und eine Plombe entfernt werden. So ging das ganze Leben des alten Herrn in diesen Raritäten auf. Da gab es immer zu putzen, Staub zu wischen, auszuklopfen und wieder zu ordnen, wobei ihm besonders ein Diener, Namens Jensy behilflich war, der Katalog war zu führen, Loftus Deacon hatte auch eine große Korrespondenz mit den Agenten, welche er zum Ankauf von solchen ethnographischen Gegenständen in aller Welt unterhielt. Gern empfing er Besuch, Gelehrte und Sammler, denen er mit stolzer Freude seine Schätze zeigte und erklärte. Außerdem ging er manchmal auch selbst auf Entdeckungen von Antiquitäten aus, schnüffelte in dem großen London bei den Raritätenhändlern und Trödlern herum und hatte auf diese Weise schon manche Seltenheit billig erstanden. Auf einer solchen Entdeckungsreise sollte Loftus Deacon etwas finden, was ihn zum glücklichsten Menschen machte und ... ihm das Leben kostete. Im Fenster eines kleinen Trödlerladens sieht er ein altes, unscheinbares Schwert liegen. Der Waffenkenner stutzt sofort, tritt ein, läßt sich das Schwert zeigen, der Trödler schwatzt ihm, der seine Aufregung zu bemeistern weiß, etwas von einer arabischen Klinge vor, sie werden handelseinig, und während der Trödler glaubt, er habe den Mann mit einem wertlosen Stahl angeschmiert, hat Deacon für zwei Goldstücke ein echtes japanisches Katana von dem berühmten Schwertfeger Masamune erstanden! – Hier muß eine Erläuterung eingeschaltet werden, wie sie auch in Nobodys Tagebuch...