E-Book, Deutsch, 217 Seiten
Kpao Sarè Tschinku im Gastland
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7485-5500-1
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Meine Heimat - deine Heimat
E-Book, Deutsch, 217 Seiten
ISBN: 978-3-7485-5500-1
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kann ein zugewanderter Afrikaner Deutschland seine Heimat nennen?
Tschinku und Barka, zwei ehemalige Schulfreunde aus Afrika, haben in Deutschland studiert. Tschinku bleibt in Deutschland und gründet eine Familie. Barka kehrt zurück nach Afrika, gründet auch eine Familie und wird später Minister. Während einer Dienstreise in Deutschland begegnet Barka seinem ehemaligen Freund. Daraus entstehen zuerst ein fruchtbarer Gedankenaustausch und später ein Briefwechsel über Fragen wie Heimat.
Der eine fühlt sich in Deutschland beheimatet, der andere in Afrika. Daraus entstehen intensive und spannende Diskussionen über die Probleme der Weltpolitik, wobei jeder versucht die soziale Lage des anderen Wohnortes aus seiner eigenen Perspektive zu beurteilen. Besprochen werden Themen wie Ausländerfeindlichkeit, Individualismus oder Solidarität in der Gesellschaft, Terrorismus, Gewalt, Armut, Perspektivlosigkeit usw.
Das Buch plädiert dafür, das Wort 'Heimat' neu zu kodifizieren. Zuhause ist man da, wo man sich wohl fühlt.
Der Autor über sein Werk:
'Ich glaube, dass die Leser (nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund) auch verstehen wollen, warum die Welt immer bunter wird. Bis zum Ende der Erzählung versucht der Leser, in der Argumentation der Hauptfigur Tschinku herauszufinden, ob und warum er sich für seine neue Heimat entscheidet. Gleichzeitig erfährt er einiges über die afrikanischen Realitäten.'
Geboren 1974 in Djougou (Bénin), Maître de Confé-rences am Département d'Etudes Germaniques (DEG) an der Université d'Abomey-Calavi in Benin (UAC). Studium der deutschen Literatur und Sprache an der Université Nationale du Bénin, Universität des Saarlan-des (Deutschland) und Université Paul-Verlaine de Metz (Frankreich), sowie der Verwaltungswissenschaften an der deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaf-ten Speyer. Promotion in Germanistik (2006). Seine Forschungen widmen sich u.a. der Postkolonialen Erin-nerungskultur in der zeitgenössischen deutschsprachi-gen Afrika-Literatur, wozu er auch zahlreich publiziert.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
&&& Das Treffen
Am Abend dachte ich extra daran, das Zimmermädchen darum zu bitten, einen zweiten Stuhl in mein Hotelzimmer zu bringen und zwei Teller Dibbelabbes, eine saarländische Kartoffelspezialität, zu bestellen. Ich wollte Jakubu nicht im Gemeinschaftsraum empfangen, weil ich einerseits wusste, dass wir uns viel zu erzählen hatten, und weil mir andererseits bewusst war, dass eine ruhige Umgebung der geeignetere Ort dafür war. Jakubu aber meinte, etwas Anderes hinter meinen Gedanken entdeckt zu haben. Als ich ihm mitteilte, dass wir es uns in meinem überwiegend in Türkis gehaltenen Zimmer gemütlich machen würden, sagte er laut und ganz hörbar, ohne auf die Hotelgäste in der Halle zu achten, wo ich ihm entgegenkam: - Du hast Recht, Herr Minister! Es dient unserem Bild nicht, wenn du dich mit mir in der Öffentlichkeit zeigst. Ohne mir die Gelegenheit zu geben, etwas zu meiner Verteidigung zu sagen, fragte er übereilt: - Bist du eigentlich hier von Amts wegen oder hast du an uns gedacht? - „Beides“ antwortete ich, ohne zu vergessen, seinen schmächtigen Körper zu umarmen und ihn gegen meinen Bierbauch zu drücken. Mit diesem Verführungsmanöver wollte ich es ihm bequemer und vertraulicher machen, damit sein erster Eindruck von mir verschwand. Dann nahm ich seine Hand und führte ihn in mein Zimmer. Dort demonstrierte ich ihm meine ganzen Kenntnisse in Farbensymbolik. Ich erklärte, dass der grünlich-blaue Farbton der Tapeten, Vorhänge und Möbel für fruchtbare gedankliche Kreativität stehen würden. Obwohl ich nichts mit dieser Zimmergestaltung zu tun hatte, dachte ich dadurch, meine Präferenz für unsere Unterhaltung in meinem Schlafraum verständlich zu machen. Als wir am Tisch waren, vergaß ich nicht, auf die Frage von Jakubu noch einmal explizit zu antworten: - Mein Lieber, ich schlage zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich bin nach Hannover gekommen, um an der offiziellen Eröffnung der Weltausstellung teilzunehmen, und ich habe an euch gedacht. Weißt du? Aus dem Land der Eichhörnchen haben wir bei dieser Messe unsere geschätzten Grasnager (Agoutis) ausgestellt. Ich weiß, Ihr Europäer glaubt immer, wir könnten nur tanzen und singen. Aber wir sind auch gut in Viehzucht, nämlich der Grasnagerzucht. Ich bleibe hier eine Woche und dann kehre ich verrichteter Dinge in mein Ministerium zurück. Dort wartet schon jetzt viel zu viel Arbeit auf mich.“ Da Jakubu auf meine Provokation nicht einging, formulierte ich bewusst eine neue Herausforderung, bevor wir mit dem Essen fertig waren. Ich konnte nämlich feststellen, dass mein Freund die Kunst unseres Hotelkochs zu schätzen wusste, da er offensichtlich mit viel Appetit dieses Gericht schlemmte, das ich geschmacklos, zu mild, nicht genug gewürzt und nicht scharf fand. - „Jakob, schieß los!“ brüskierte ich. Da kein Wort aus seinem Mund kam, weil er mit Kauen beschäftigt war, nutzte ich die Gelegenheit, um ihn ein bisschen aufzuziehen: - Jakubu, du bist ja Saarländer geworden. Schau mal, mit wie viel Appetit du dein Gericht genießt! - „Nein, nein! Um Gotteswillen beleidige mich nicht, mein Bruder. Ich bin kein Deutscher, geschweige denn Saarländer. Ich bin nur Deutscher auf dem Papier. Ich kann nie Deutscher werden. Ich habe eine deutsche Frau und zwei deutsche Kinder. Aber ich! Ich werde nie Deutscher. Ich bin und bleibe Afrikaner von Kultur“, erwiderte er mit vollem Mund und übertriebener Unerbittlichkeit, als hätte ich ihn „Sklave“ oder „Neger“ genannt. - „Deutscher auf dem Papier, das weiß ich genau“, sprach er weiter. Und deswegen gehe ich niemals ohne meinen Ausweis aus dem Haus. Ich weiß, dass ich ohne Ausweis verloren bin. Keiner, mich eingeschlossen, würde daran glauben, dass ich Deutscher bin, wenn ich mich nicht ausweisen könnte. Ja, beweisen können, das muss ich immer und überall. Vom ersten Tag als ich hier ankam wusste ich schon, dass ich hier nicht zu Hause sein würde. Das brauchte mir auch übrigens niemand zu erzählen. Das habe ich selber täglich, geduldig und Schritt für Schritt herausfinden müssen. Ich musste verstehen, dass das hiesige Zusammenleben nicht mit der Absicht aufgebaut wurde, damit irgendwann ein gewisser Tschinku hier leben kann. Hierzulande als richtiger Tschinku fortzuleben, das war nicht vorgesehen. Ich musste vieles neu lernen. Sogar das Essen musste ich nochmal einstudieren. Während die Kinder schon mit vier die Kunst des Gabelns, des Löffelns und des Messerschneidens beherrschten, musste ich mich, als Erwachsener, immer wieder lächerlich am Tisch machen. Wie du sicher weißt, wird in unserer Tradition Ungeschicklichkeit beim Essen nicht toleriert. Ich persönlich erinnere mich immer noch sehr genau an die Ohrfeigen, die ich mir von meinen älteren Geschwistern einfing, wenn ich mir beim Essen beispielsweise die Rotznase putzte, wenn ich versuchte das Tagesgericht zu beschnuppern und dabei den appetitanregenden Geruch von brühheißem Palmöl abschätzte, oder wenn ich als erster satt war und versuchte, mich vom Tisch zu entfernen, ohne nach der Zustimmung des Ältesten am Tisch zu fragen. Hier scheinen die Leute doch Verständnis für unbeachtete Tischmanieren zu haben. Es wird keine Tracht Prügel verabreicht, wenn der Tischherr rechts von seiner Tischdame sitzt oder wenn der Gast seinen Teller Suppe auslöffelt, ohne auf seinen Gastgeber zu warten. Das alles wird meistens toleriert. Aber man versteht beim besten Willen nicht, dass ein Erwachsener eine so einfache Technik wie Messer in der rechten und Gabel in der linken Hand halten nicht beherrscht. Und ich musste trotzdem immer mit voller Aufmerksamkeit am Tisch sitzen, um dieses banale Verfahren nicht zu vergessen, um die Finger der rechten Hand nicht aus Versehen im Teller landen zu lassen oder um das Besteck nicht fallen zu lassen. Ich musste verstehen, dass es für den richtigen Tschinku keinen Platz hier gibt. Dass es für mich keinen Friseur gibt, weil kein Haarschneider gelernt hat, wie man meine gekräuselten Haare schneidet. Dass das Leitungswasser für meine Haut nicht geeignet ist. Dass es nicht normal ist, einfach auf der Straße Tanzschritte ohne Grund aufzuführen. Dass es unhöflich ist, wegen einer Kleinigkeit zu lachen oder zu grinsen, und dass man stattdessen unauffällig lächeln sollte. Dass das Lächeln als Ausdruck der Sympathie und der Berührung eines anderen gilt, während das Lachen in der Öffentlichkeit meistens als nicht manierlich eingestuft wird. Dass es unangebracht ist, sich einfach zu Unbekannten in einem Café oder Restaurant zu setzen. Ich verstand ganz schnell, dass ich den Lehrsatz meiner Mutter „dem Alter den Vortritt!“ per Luftpost zurückschicken konnte. Dass ich hier keine Anstalten zu machen brauche, um den Älteren meinen Sitz in den öffentlichen Verkehrsmitteln zu überlassen, weil sie bestimmt ablehnen würden. Dass man Leute nicht begrüßt, die man gar nicht kennt; ansonsten müsse man sich nicht wundern, wenn man gefragt wird: „Kennen wir uns?“. Und zu guter Letzt, dass man ausschließlich auf sich selbst zählen sollte. Weil ich gewiss kein wahres Tischleindeckdich erwartet hatte, habe ich das alles ohne große Mühe gelernt. Dann wurde ich Deutscher. Trotzdem muss ich immer meinen Ausweis dabeihaben, um zu beweisen, dass ich auch wirklich Deutscher bin. Also, mein Freund, ich bitte dich, komm nicht wieder mit Anspielungen in der Art, ich sei ein Saarländer.“ Ich verstand, dass ich es mit einem verbitterten und einem mit allzu vielen Komplexen lebenden Menschen zu tun hatte, und riskierte kein Wort mehr. Ich fürchtete, ich könnte nochmal etwas Deplatziertes und Unangenehmes äußern. Jakubu aber sprach weiter: - „Mein Freund, ich bleibe nur wegen meiner Tochter Conni und wegen meines Sohnes Uwe in Deutschland. Und nicht etwa wegen des Studiums oder wegen meiner neuen Staatsangehörigkeit. Hätte ich keine Verantwortung hier, wäre ich ebenfalls schon längst unverrichteter Dinge nach Hause zurückgekehrt. Stell dir vor, seit zwanzig Jahren bin ich in Deutschland und seitdem bin ich nicht mehr zu Hause gewesen. Meine Eltern! ... Die sind beide gestorben. Gott hab’ sie selig! Ich hatte von ihrem Tod erfahren, aber das Einzige, was ich wirklich tun konnte, war ihn zu beklagen. Ich habe mir tagelang die Seele aus dem Leib geweint. Es ist mir allerdings nicht gelungen, nach Hause zu fliegen, um sie zu begraben, um die Zeremonien zu organisieren und die Toten ruhen zu lassen ... Ich weiß! Du denkst jetzt, ich kenne sicherlich unsere Bräuche, Rituale und Riten nicht mehr. Aber das stimmt nicht. Ich weiß alles. Jede Nacht träume ich davon, endlich mal meine Heimat, mein Dorf, meine Familie - besser gesagt, das was davon übrig blieb - wiederzusehen: meine fünfzehn Geschwister, die noch jung waren, als ich nach Deutschland kam. Die haben seit Jahren keine Nachricht mehr von mir bekommen. Dennoch weiß ich alles über sie. Ich weiß, was sie alle jetzt tun, wie es ihnen geht. Ich habe mich immer danach erkundigt. Aber von mir wissen sie nichts. Ich kann ihnen nichts von mir erzählen. Es gibt nichts zu erzählen. Es ist ein Loch. Ja, ein Loch in der Zeit. Zwanzig Jahre, leer ...“ Jakubu schwieg eine Weile, als wäre er in seinen einsamen Gedanken verloren, als würde er anfangen zu weinen, als würde er aufstehen und von mir weglaufen. Was sollte ich machen? Ihn Umarmen? Mit ihm sprechen? Und was genau sollte ich sagen? Sollte ich von der Zukunft, von der Gegenwart oder eher von der Vergangenheit sprechen? Vielleicht brauchte er auch nichts anderes als nur Ruhe. Vielleicht versuchte er eben, eine Gedenkminute für seine verstorbenen Eltern einzulegen. Ich beschloss, nicht zu sprechen, nicht zu reagieren. Ich wollte...