Kohda | Die Hungrige | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Kohda Die Hungrige

Roman

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-641-28284-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Buch des Jahres in: NEW YORKER, HARPER'S BAZAAR, DAILY MAIL, BBC, HUFFINGTON POST
»Einer der originellsten Vampirromane seit Langem.« New York Times Book Review • • Lydia hat Hunger. Seit sie denken kann, sehnt sie sich nach Sashimi, Ramen oder Onigiri mit saurer Pflaumenfüllung. Doch das einzige, was sie wirklich zu sich nehmen kann, ist Blut: Lydia ist ein Vampir und fühlt sich fremd unter den Menschen. Nach dem Auszug aus der Wohnung ihrer Mutter in ein Künstlerloft muss Lydia feststellen, dass vieles schwieriger ist als erwartet. Da sind die hippen Leute in der Galerie, in der sie ein Praktikum macht, die seltsamen Männer, die ihr Avancen machen, und Ben, ein junger Künstler, für den sie Gefühle entwickelt. Lydia weiß, dass Menschen ihre natürliche Beute sind, aber sie will ihrem Verlangen nicht nachgeben. Wie soll Lydia existieren in einer Welt, die nicht für Wesen wie sie gemacht zu sein scheint? Für welchen Weg auch immer sie sich entscheiden wird, zunächst einmal muss sie essen.

Claire Kohda ist eine japanisch-englische Violinistin und Autorin. Ihre Texte erschienen unter anderem in The Guardian, TLS, Financial Times, New York Times. Als Musikerin spielte sie mit Künstlern wie Sigur Rós, The National and Jessie Ware und wirkte bei der Filmmusik von Die zwei Päpste und Matrix Resurrections mit.
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Es gibt eine Pflanze, ein Fichtenspargelgewächs, Monotropa uniflora, auch Geisterpfeife genannt, weil sie gespenstisch weiß ist, fast bläulich. Schnitte man sie auf und untersuchte sie, man fände keinerlei Chlorophyll darin. Sie wächst im Dunkeln, unter welkem Laub im Wald, im Unterholz, sogar unter dem Erdboden. Sie braucht keine Fotosynthese, denn sie ist ein Parasit und wächst auf Pilzmycelen, und sie nutzt die Energie der fotosynthetisierenden Bäume. Ihre Wurzeln sehen aus wie Gruppen winziger Finger, die sich an die ausgedehnten weißen Mycele der Pilze klammern, die sich ihrerseits mit den robusten Wurzeln der Bäume verbinden. Ich weiß nicht, wo sich der Mensch und der Dämon in mir verbinden, ob der Dämon Wurzeln treibt und nach dem Menschen greift, oder umgekehrt. Beide leben vom jeweils anderen, der Dämon von dem Blut, das mein menschlicher Körper verdaut; er sorgt auch dafür, dass mein menschliches Herz sehr langsam pumpt – so jedenfalls hat es mir meine Mum erklärt, als ich klein war, und seither sehe ich in meiner Vorstellung ein winziges Schattenwesen, das mit Blasebalg und schwächlichen Armen das Herz aufpumpt. Dank der Arbeit des Dämons, der den Blutkreislauf aufrechterhält, lebt der Mensch in mir weiter, und ich habe einige Eigenschaften meines menschlichen Vaters geerbt. Meine leicht vornübergebeugten Schultern zum Beispiel, die sich schützend einwärts krümmen: eine Haltung, die meiner Mum zufolge von einer tiefsitzenden Unsicherheit herrührt, wie sie meinem Dad eigen war. Anscheinend denke ich auch wie er; er war ein Perfektionist, verbiss sich in Themen, die er interessant fand, und wenn ihn etwas nicht interessierte, war ihm jede Beschäftigung damit zuwider. Meine Ängstlichkeit, meine Schüchternheit, meine Tollpatschigkeit, das alles habe ich von ihm. Oft denke ich, dass meine dämonischen Merkmale – meine scharfen Zähne, meine Alterslosigkeit, die mir, seitdem ich erwachsen bin, für immer bleibt, meine Kälte und andererseits mein hitziges Temperament, meine Reizbarkeit – das Einzige sind, das ich von meiner Mutter habe. Dabei habe ich auch von ihrer Menschlichkeit etwas geerbt; es lässt sich nur schwerer vom Dämon trennen. Wenn ich träume, so deshalb, weil der Mensch in mir schläft. Währenddessen ist mein dämonischer Anteil wach, und meist spüre ich dann etwas, das jedes menschliche Gefühl, jede menschliche Gier übersteigt – doch da mein menschlicher Körper vom Schlaf paralysiert ist, kann meine dämonische Seite ihre Gefühle nicht ausleben. Stattdessen beschert sie mir Träume. Im Traum der letzten Nacht standen die Kora-Ateliers in Flammen; ich konnte es nicht sehen, wusste aber, dass auch der Rest der Welt brannte. Bäume waren zu Stumpen verkohlt, die noch aus dem Boden ragten, doch bei der leisesten Berührung in sich zusammenfielen. Ben war in mein Atelier gekommen, das dunkel und kühl war, seine Haut war gerötet von der Hitze, der Mund aufgerissen vor Schmerz. Ich nahm seine Hände, woraufhin er, an mich gelehnt, zusammensank, und ein paar Mal flüsterte er: »Ich hab so Hunger, ich hab so Hunger.« Dann aß ich ihn auf. Ich liege wach auf dem Boden meines Ateliers. Heute Nachmittag beginne ich mein Praktikum bei OTA, einer Galerie in Battersea, die den Spitznamen Otter hat, in Wirklichkeit aber steht OTA für die Gründerväter Osmund, Toth und Akagi – drei Experimentalkünstler aus den 1960ern, die der Kunstrichtung des Fluxus nahestanden. Tomoe Akagi ist in Kunstkreisen dafür bekannt, dass er als Erster, noch vor Nam June Paik, das Innere eines Wals als Ort einer Performance nutzte. Allerdings glaube ich nicht, dass Paik physisch ins Innere eines Wals eindringen wollte. Bei seinem Klassiker »Kriechen Sie in die Vagina eines lebenden Wals« ging es um ein unmögliches Kunstwerk, eine Performance, die keine faktische Existenz hat, sondern allein in den Köpfen des Publikums entsteht. Denn sobald wir diese Aufforderung lesen, erzeugt sie in uns die Zwangsvorstellung, wie wir, unbemerkt von der Walin, weiches Walfleisch zur Seite schieben, wie sich ein Korridor öffnet und wir dort eindringen, das Hymen durchqueren, in den Uterus kriechen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, als ich das erste Mal davon las; ich weiß nur, dass ich dachte: Natürlich hat er ein weibliches Tier genommen, und natürlich müssen wir in sie eindringen, ohne dass sie’s mitkriegt. Ich kam nicht dahinter, was der Sinn des Werks war. Für mich sah es so aus, als ginge es nur um die Schockwirkung. Akagi hingegen begab sich tatsächlich ins Innere eines Wals, und zwar in den Magen eines am Strand verstorbenen Wals, irgendwo in Skandinavien, wo die Leute Walfleisch essen; er nähte sich darin ein, und von da an war er der Künstler, der Nam June Paik geschlagen hat. Anders als bei anderen Fluxus-Künstlern war Akagis Werk nicht völlig nihilistisch; er schrieb dem Wal einen langen Brief, in dem er für die von seiner Generation angerichteten Schäden an der Umwelt um Verzeihung bat, und nähte ihn mit sich zusammen in den Walmagen ein. Es klopft an der Tür. Draußen ist es bestimmt noch dunkel. Ich trage die Kleidung von gestern, jetzt die einzige, die ich besitze. An meinen Schultern und Armen haftet der Schmutz vom Fußboden, und ich hole den einen Pulli, den ich noch habe, aus meinem Rucksack und ziehe ihn über das T-Shirt. Dann mache ich auf. Draußen steht Ben. »Heyyy, hallooo«, sagt er, überschwänglich, als grüßte er für uns beide. Er lächelt. Seine Lippen sind sehr rosa. »Schau, ich hab was für dich!« Bens Blick schweift durch den Raum. Wahrscheinlich wundert er sich, dass ich nichts von meinen Sachen hier habe, nachdem ich ihm doch gestern erzählt habe, ich würde noch am selben Tag mit Hab und Gut einziehen. Er schaut mir ins Gesicht und lächelt. Dann reicht er mir eine Pflanze mit braun-rosa Stängeln und samtig aussehenden dunkelroten Blättern. »Oh!«, sage ich. »Da oben ist ein Haken, siehst du?« Er deutet auf einen etwa handgroßen Metallhaken, der aus der Decke ragt. »Ach.« Der Haken war mir nicht aufgefallen. Er ist weiß gestrichen wie die Decke und daher fast unsichtbar. Ich blicke nach oben und frage mich, wozu er hier angebracht wurde. »Also, das ist sozusagen ein Willkommensgeschenk, um den Raum ein bisschen freundlicher zu machen …« Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss und taucht uns jäh in komplette Dunkelheit. »Hast du immer noch Kopfweh?« »Nein.« Ich gehe zum Schalter und drehe das Licht ein bisschen auf. »Ich bin lichtempfindlich. Ist halt so.« Ich deute vage auf mein Gesicht und überlege, was ich darüber hinaus sagen könnte. »An den Augen.« Ich blicke auf die Topfpflanze in meinen Händen. Sie ist wirklich hübsch. Lange Stängel mit kleinen Blättern schwallen kaskadenartig aus dem Topf und hängen herab wie Haar. »Aber wird sie hier überleben?«, frage ich. »Ohne Tageslicht?« »Oh, na ja, weißt du … die ist gar nicht echt.« Ben lacht in sich hinein. »Soll ich …«, fragt er und deutet zu dem Haken hinauf. Mit seinem runden weißen Gesicht, dem weichen rotblonden Haar, den sanften Augen sieht er in diesem Moment aus wie von da Vinci gemalt. Die Dargestellten, die in da Vincis Porträts himmelwärts blicken, sehen immer irgendwie engelsgleich aus, egal, wie alt sie sind. Ben verharrt ein paar Sekunden in dieser Haltung – dann zerbricht die Illusion. »Ja, danke, gern«, sage ich. Ben grinst, und seine Augen werden zu kleinen Schlitzen mit Lachfalten, die noch keine Krähenfüße in sein Gesicht gegraben haben; eines Tages aber werden sie bleiben, und die im Lauf der Jahre entstandenen Falten werden der sichtbare Ausdruck seines Wesens und seiner Persönlichkeit sein. Ich werde unterdessen immer gleich aussehen; mein Gesicht verrät nichts über meinen Charakter. »Was für ein netter Mann«, werden die Leute sagen, wenn sie Bens gealtertes Gesicht sehen. Bei meinem Anblick hingegen werden sie gar nichts sagen. Ich stelle ihm einen Stuhl hin, doch es zeigt sich, dass ein einzelner Stuhl nicht annähernd ausreicht – es braucht drei, ineinander gestapelt, und den Tisch dazu. Ich halte die Stühle, während er hinaufklettert und Mühe hat, die Schlaufe über den Haken zu stülpen, um den Topf daran aufzuhängen. »Also«, sagt er, sich reckend, »normalerweise bringe ich den neuen Künstlern …« Es entfährt ihm ein Laut der Anstrengung, während er sich, auf Zehenspitzen stehend, so groß macht, wie es geht. »… normalerweise bringe ich neuen Künstlern essbare Pflanzen … wie … Gewürzkräuter und … Tomaten … und so was, Pilze …« Er verstummt für einen Moment, während er sich konzentriert. Endlich rutscht die Schlaufe über den Haken, die Pflanze hängt und baumelt ein bisschen, die Kunstblätter fallen geschmeidig über Bens Kopf. Er lässt die Arme sinken. Sein Gesicht ist rosa. »Sorry. Also …«, sagt er und blickt mir direkt in die Augen. »Normalerweise bringe ich den neuen Künstlern essbare Pflanzen, damit jeder seine Ernte mitbringen kann, wenn wir alle zusammen in The Place essen.« »Ach, wie nett«, sage ich und lächle, und Ben lächelt zurück. Einen Augenblick sehen wir einander nur an und lächeln. »Ich sollte wohl runterkommen …«, sagt Ben, als sei es ein Genuss, dort oben zu balancieren. Beim Absteigen verliert er fast das Gleichgewicht und packt Halt suchend meinen Arm – seine Hand ist sehr warm, und ich muss an meinen Traum denken und meinen Hunger, und sofort zieht sich mein Magen zusammen, was sich ein bisschen so anfühlt, als würde er verknotet. Mein Mund öffnet sich wie von selbst. »Ha!«, sagt...


Schaden, Barbara
Barbara Schaden studierte Romanistik und Turkologie in Wien und München, arbeitete anschließend als Verlagslektorin und ist seit 1992 freiberufliche Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Sie übersetzt neben Kazuo Ishiguro unter anderem Patricia Duncker und Nadine Gordimer. Barbara Schaden lebt in München.

Kohda, Claire
Claire Kohda ist eine japanisch-englische Violinistin und Autorin. Ihre Texte erschienen unter anderem in The Guardian, TLS, Financial Times, New York Times. Als Musikerin spielte sie mit Künstlern wie Sigur Rós, The National and Jessie Ware und wirkte bei der Filmmusik von Die zwei Päpste und Matrix Resurrections mit.


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