E-Book, Deutsch, Band 1, 100 Seiten
Reihe: Theologische Studien NF
E-Book, Deutsch, Band 1, 100 Seiten
Reihe: Theologische Studien NF
ISBN: 978-3-290-17653-2
Verlag: Theologischer Verlag Zürich
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
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|27| 2. Rechtfertigung heute
Die neuzeitliche Infragestellung der Rechtfertigungslehre
Als Nietzsche im Jahre 1873 seine Kritik an David Friedrich Strauß veröffentlichte, gab er ihr den Titel »Unzeitgemäße Betrachtungen« Es scheint, als sei dies heutzutage eine passende Überschrift auch für die paulinische und die reformatorische Rechfertigungslehre. Deren Unzeitgemäßheit gilt nicht nur nachchristlichen Zeitgenossen, sondern vielerorts selbst innerhalb von Theologie und Kirche als ausgemacht. Einige Beispiele seien in Erinnerung gerufen. So erklärte die vierte Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes 1963 in Helsinki in ihrer oft zitierten Botschaft: »Der Mensch von heute fragt nicht mehr: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Er fragt radikaler, elementarer, er fragt nach Gott schlechthin: Wo bist Du, Gott? Er leidet nicht mehr unter dem Zorn Gottes, sondern unter dem Eindruck von Gottes Abwesenheit, er leidet nicht mehr unter seiner Sünde, sondern unter der Sinnlosigkeit seines Daseins, er fragt nicht mehr nach dem gnädigen Gott, sondern ob Gott wirklich ist.«49 In der Diskussion zum Thema der Versammlung »Christus heute« wurde eingeräumt: »Heute […] befindet sich die Kirche in Verlegenheit, wie sie das Evangelium verkündigt – ob sie es nun unter dem Bild der Rechtfertigung oder in anderen Begriffen tut.«50 Sieht man vom damaligen Hauptreferat Gerhard Gloeges zum Thema »Gnade für die Welt« ab, das die zeitgenössische Diskussion zur Rechtfertigungslehre stark belebte51, so droht diese Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes geradezu als Fiasko der Rechtfertigungslehre in die Kirchengeschichte einzugehen.52 Die Zeitgemäßheit der Rechtfertigungslehre war freilich nicht |28| erst in der Nachkriegszeit fraglich. Schon 1928 beklagte Paul Tillich einen Traditionsabbruch in Sachen Rechtfertigungslehre.53 Dagegen wende man nicht ein, die Rechtfertigungslehre erfreue sich doch seit mehr als zwei Jahrzehnten im ökumenischen Dialog höchster Aufmerksamkeit und intensivster theologischer Bemühungen.54 Dass derart schillernde Texte wie die Gemeinsame Erklärung (GER) und die »Gemeinsame offizielle Feststellung« (GOF) allen Ernstes für eine tragfähige Basis künftiger ökumenischer Arbeit und einer weiteren Annäherung der Kirchen gehalten werden können, zeugt meines Erachtens nicht von echten theologischen Fortschritten, sondern ist eher ein Indiz dafür, »daß Lehren wie die zur Rechtfertigung, Eucharistie und Amt schon deswegen ihre kirchentrennende Wirkung verloren haben, weil sie – allen feierlichen Beteuerungen zum Trotz – doch faktisch die Bedeutung verloren haben, die ihnen vom Wesen des Christlichen her zukäme«55. Für die moderne Infragestellung der Lehre von der Rechtfertigung und ihres theologischen Stellenwertes gibt es eine Reihe von Gründen. Die Verdrängung der Frage nach dem uns Menschen im Gericht gnädigen Gott durch diejenige nach der Existenz Gottes wurde bereits angesprochen. Sie ist seit der Aufklärung eng verwoben mit dem Theodizeeproblem. Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes hat sich radikal umgekehrt. Statt dass der Mensch sich noch länger vor Gott rechtfertigen muss, ist es nun Gott, der sich vor dem Tribunal des nach Gerechtigkeit in der Welt verlangenden Menschen zu rechtfertigen hat. An die Stelle der Rechtfertigung des Menschen durch Gott tritt die Rechtfertigung Gottes durch den Menschen. So lautet die derjenigen nach der Existenz Gottes innewohnende Frage: Wie kriegt Gott einen gnädigen Menschen, der sich seiner erbarmt? Anders formuliert lautet als ein wiederkehrender Einwand gegen die Rechtfertigungslehre, sie frage nicht radikal genug nach Gott. Weiter lässt sich gegen sie einwenden, in ihrer reformatorischen Fassung handele es sich lediglich um ein Beispiel theologischer Polemik, um eine kontroverstheologische Kampflehre also, deren Bedeutung |29| mit zunehmender Überwindung konfessioneller Differenzen im ökumenischen Dialog schwindet. Die »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre«, so die bereits zitierte These des katholischen Theologen Richard Schenk, ist dafür der beste Beweis. Paradoxerweise will es scheinen, als verliere die Rechtfertigungslehre nicht nur gerade durch die ökumenische Annäherung an Relevanz, sondern als komme das Bemühen um ökumenische Verständigung über die Rechtfertigungslehre ohnehin geistesgeschichtlich zu spät: Auch die Rechtfertigungslehre, urteilt Albrecht Peters, »wird unerbittlich hineingezogen in jenen alles verschlingenden Strudel der Moderne«56. Wie die reformatorische, ist aber auch schon die paulinische Rechtfertigungslehre verschiedentlich als polemische Kampflehre von theologisch untergeordneter Bedeutung abgewertet worden. Ich verweise nur auf William Wrede57 und Albert Schweitzer. Letzterer hat die Rechtfertigungslehre als etwas »Unselbständiges und Unvollständiges« oder auch als »Nebenkrater« beschrieben, »der sich im Hauptkrater der Erlösungslehre der Mystik des Seins in Christo« gebildet habe.58 Was aber die Kritik des Paulus am Judentum betrifft, so bildet die exegetische Auseinandersetzung um ihre Legitimität ein Gegenstück zur Debatte über den antikatholischen Charakter der Rechtfertigungslehre Luthers. Wie nämlich Joseph Lortz Luther vorgehalten hat, er habe einen Katholizismus bekämpft, der in Wahrheit gar nicht katholisch war59, so hat der jüdische Religionswissenschaftler Hans-Joachim Schoeps Paulus nachgesagt, seine Theologie beruhe auf einem ungeheuren Missverständnis und habe eine jüdische Gesetzesauffassung angegriffen, die für das Judentum seiner Zeit gar nicht repräsentativ war.60 Dieselben Fragestellungen begegnen uns in der heutigen Paulusexegese und im christlich-jüdischen Dialog. Interpretationen, wonach die scharfe Gesetzeskritik des Paulus das Judentum in Wahrheit gar nicht treffe, stehen solchen gegenüber, welche in Abrede stellen, dass es bei Paulus überhaupt eine derartige Kritik des Gesetzes gibt, und den bleibenden jüdischen Charakter paulinischer Theologie behaupten. Paulinismus und Antipaulinismus speisen sich seit den Anfängen |30| des Christentums aus recht unterschiedlichen Motiven61, die sich sowohl in der Exegese also auch im christlich-jüdischen Dialog und dem ökumenischen Gespräch der Kirchen überlagern.62 Auch die Ethisierung der Theologie seit der Aufklärung, d. h. die Transformation dogmatischer in ethische Gehalte ist sowohl eine Folge wie auch eine Ursache der heutigen Schwierigkeiten beim Verständnis der klassischen Rechtfertigungslehre. Die Ethisierung der Theologie im Neuprotestantismus ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die Fragwürdigkeit der Eschatologie in der Moderne. Hier schließt sich der Kreis: Mit dem Verblassen des in der Reformationszeit durch die spätmittelalterliche Buß- und Beichtpraxis allgegenwärtigen Gerichtsgedankens hat die Frage nach dem gnädigen Gott ebenso wie diejenige nach dem ewigen Heil zunehmend ihre Bedeutung eingebüßt. An die Stelle der Frage nach dem Heil als unverfügbarem Geschenk Gottes ist diejenige nach dem machbaren Heil getreten. Im Zuge des Glaubens an die Herstellbarkeit des Heils aber ist mit der überkommenen Heilserwartung auch die Rede von Gott problematisch geworden. Das Entstehen dieses neuen Glaubens ist freilich nur vordergründig auf den Fortschrittsoptimismus des frühneuzeitlichen Humanismus und der Aufklärung zurückzuführen. Dieser muss vielmehr seinerseits als Symptom einer Krise der christlichen Heilsbotschaft begriffen werden, die Vittorio Subilia in unserer Gegenwart kulminieren sieht. »Es handelt sich um eine tausendjährige Krise der Müdigkeit, der Frustration und der Auflehnung wegen einer nicht verwirklichten Erfahrung. Wo ist das Versprechen Seines Kommens, Seines Reiches und Seiner Gerechtigkeit? Hat man seit der zweiten christlichen Generation [!] angefangen zu flüstern (2Petr 3,4), und das Flüstern wurde durch die Jahrhunderte zu einem Schrei und in unserer Generation zu einem Geheul, Orkan und Sturm.«63 Und Subilia fügt hinzu: »In einer Welt, in der man durch die Schnelligkeit und Fülle der Informationen und Statistiken bestürzt gelernt hat, daß zwei von drei Menschen nicht in einem biologisch erträglichen Maße essen, wagt man nicht mehr ernsthaft und überzeugend die Worte des Evangeliums zu wiederholen: ›Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; … |31| Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. […]‹.«64 Anders gesagt: »Die Menschen haben sich auf der Spur der christlichen Unterweisung jahrhundertelang gut oder schlecht angestrengt, zuerst die Gerechtigkeit Gottes zu suchen. Aber die menschliche Gerechtigkeit ist nicht unerwartet dazugekommen. Jetzt sind sie müde, vergeblich dieser Werthierarchie zu folgen, und wollen sie umkehren. Sie denken und sprechen folgendermaßen: zuerst suchen und richten wir die menschliche Gerechtigkeit auf, dann werden wir gelegentlich die göttliche Gerechtigkeit suchen«65. Zum Orkan, um in Subilias Bild zu bleiben, wurde das anfängliche Flüstern (2Petr 3,4: »Wo ist die Verheißung seiner Wiederkunft? Seitdem die Väter entschlafen sind, bleibt ja alles so wie von Anfang der Schöpfung an.«) im heraufziehenden Nihilismus. Im Zeichen des Nihilismus ist, wie Gerhard Ebeling bemerkt hat, der einstige eschatologische Horizont der paulinisch-reformatorischen...