Koenen | Die Farbe Rot | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 1150 Seiten

Koenen Die Farbe Rot

Ursprünge und Geschichte des Kommunismus

E-Book, Deutsch, 1150 Seiten

ISBN: 978-3-406-71427-6
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Du schließt die Augen und schaust in die Sonne, und durch deine Lider hindurch siehst du die Farbe deines Blutes – ein Karminrot. Dies ist die Farbe deiner leiblichen Existenz. Grün ist die Farbe der äußeren Vegetation. Gelb ist die Farbe der Sonne. Blau ist der Himmel über dir."

Mit diesen Sätzen beginnt Gerd Koenen seine epische Geschichte des Kommunismus, die von der alten in die moderne Welt und bis heute reicht. In seiner meisterhaften Darstellung holt er den Kommunismus aus dem Reich der reinen 'Ideen' auf den Boden der wirklichen menschlichen Geschichte zurück. Er macht auf neue Weise plausibel, warum Marxismus, Sozialismus und Kommunismus eine naheliegende Antwort auf die vom modernen Kapitalismus erzeugten Umwälzungen waren – aber ebenso, wie und weshalb der 'Kommunismus' als politisches System in Russland wie in China und anderswo in Terror und Paranoia endete.

Gerd Koenen schildert in seinem großen Buch die Geschichte des Kommunismus als untrennbaren Teil der Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Weit entfernt, nur eine exzentrische Idee des 19. Jahrhunderts zu sein, hat der Kommunismus tiefe Wurzeln in den religiösen Erzählungen, philosophischen Lehren, gelebten Sozialformen oder literarischen Utopien, gerade auch Europas. Marx war der erste, der im Moment des Durchbruchs eines industriellen Kapitalismus die darin schlummernden neuen Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Höherentwicklung und zugleich einer maßlosen menschlichen Degradation zusammengedacht hat. Das im "Kommunistischen Manifest" formulierte Postulat einer "Assoziation, worin die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung der freien Entfaltung Aller" wäre, beschreibt bis heute gültig, wie weit wir von einer menschenwürdigen Gesellschaft entfernt sind. In der Katastrophe des Ersten Weltkriegs trennten sich die Wege eines emanzipativen, aber geschwächten westlichen Sozialismus und eines vom Führer der russischen Bolschewiki, Lenin, ideologisch und praktisch völlig neu formatierten, machtvoll agierenden "Kommunismus" des 20. Jahrhunderts. Gerd Koenen analysiert als Erzähler mit großem Atem die Stationen dieser gewaltigen Geschichte, in der Humanismus und Terror, Kunst und Propaganda, Aufbau und Abbruch, Sieg und Niederlage so nahe beieinander gelegen haben wie nirgends sonst. Und die Metamorphosen seit 1989, allen voran Chinas, stellen viele Fragen noch einmal ganz neu.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1;Cover;1
2;Titel;3
3;Zum Buch;1150
4;Über den Autor;1150
5;Impressum;4
6;Prolog: Die Farbe Rot;13
7;Inhalt;5
8;Erstes Buch: Kommunismus als Weltgeschichte;15
8.1;Teil I: Ex Occidente – Von den Ursprüngen;17
8.1.1;1. Die Spur der roten Fahne;18
8.1.1.1;Rouge et Bleu;18
8.1.1.2;Russisch Rot;21
8.1.1.3;Chinas rote Sonnen;24
8.1.1.4;Rotes Leuchten, schwarze Schatten;26
8.1.2;2. Kommunismus als Weltgeschichte;34
8.1.2.1;Am Anfang war – das Wort?;34
8.1.2.2;Weltgeschichte und Universalgeschichte;43
8.1.2.3;«Die Menschheit kehrt heim»;48
8.2;Teil II: Die Alte Welt des Kommunismus;55
8.2.1;1. Revolutionen der alten Welt;56
8.2.1.1;Wann ist der Mensch ein Mensch?;56
8.2.1.2;Urgemeinschaft und Stamm;58
8.2.1.3;Staaten, Kriege, Religionen;64
8.2.2;2. Die Großen Erzählungen;70
8.2.2.1;Das verstörende Erbe der Alten;70
8.2.2.2;Die absteigenden Weltzeitalter;77
8.2.2.3;Verloren ist das große Dau;81
8.2.3;3. Von Platons Staat zum Reich Christi;84
8.2.3.1;Athen und Atlantis – und Sparta;84
8.2.3.2;Christliche Armutspredigt und Reichtumsproduktion;91
8.3;Teil III: Die Entdeckung der Zukunft;101
8.3.1;1. Millenarismus und Moderne;102
8.3.1.1;«Vorläufer des neueren Sozialismus»?;102
8.3.1.2;Religiöser Kommunismus und Kapitalismus;109
8.3.2;2. Die eine Welt und ihre Schrecken;116
8.3.2.1;Der Raum der Zukunft;116
8.3.2.2;Revolutio, Renovatio, Restauratio;118
8.3.2.3;Die enge Welt Utopias;121
8.3.3;3. The Pursuit of Happiness;131
8.3.3.1;Interest will not lie;131
8.3.3.2;Vom Reichtum der Nationen;135
8.3.3.3;Das Ich unter der Tatarenmütze;141
8.4;Teil IV: Das Zeitalter der Revolution;147
8.4.1;1. Die Furien des Verschwindens;148
8.4.1.1;Geschichtliche Rückversicherungen;148
8.4.1.2;Die Macht des Irreversiblen;152
8.4.1.3;Terror und Moral;158
8.4.2;2. Der Traum der Großen Kommunion;165
8.4.2.1;Kommunismus und Eros;165
8.4.2.2;Eine kurze Geschichte der «Intelligenz»;167
8.4.2.3;Vom Höllensturz zur Großen Gemeinschaft;171
8.4.2.4;Eine Diktatur der Aufgeklärten;176
8.4.3;3. Phantome der Freiheit;186
8.4.3.1;Friede den Hütten, Krieg den Palästen;186
8.4.3.2;Nachkrieg, Jugend, «Julisonne»;193
8.4.3.3;Das magische Medium der Presse;197
8.4.3.4;Religionen, Nationen, Massen, Klassen;200
8.4.4;4. Eine Neue Welt;203
8.4.4.1;Der Fortschritt und sein Preis;203
8.4.4.2;Die Gärten des Frühsozialismus;207
8.4.4.3;Auftritt der «Communisten»;218
9;Zweites Buch: Das Marx’sche Momentum;225
9.1;Teil V: Die Geburt der Modernen Welt;227
9.1.1;1. Die Wahrheit des Diesseits;228
9.1.1.1;Der gefallene Vorhang;228
9.1.1.2;Der kurze Weg zum «Communismus»;235
9.1.1.3;Hegel und der moderne Geschichtsbegriff;239
9.1.1.4;Der «Proletarier» als philosophische Figur;246
9.1.2;2. Der große Bruch;249
9.1.2.1;Wege in die industrielle Moderne;249
9.1.2.2;Die malthusianische Falle;257
9.1.2.3;Der Schwindel des Aufschwungs;263
9.1.3;3. Das Gespenst des Proletariats;269
9.1.3.1;Vom Pauper zum Proletarier;269
9.1.3.2;Vom Barbaren zum Prometheus;274
9.1.3.3;Auf der Suche nach der «Arbeiterklasse»;279
9.2;Teil VI: Sozialistische Gründerzeit;285
9.2.1;1. Ein neuer Horizont;286
9.2.1.1;Das schwierige Einfache: der Kommunismus;286
9.2.1.2;Der ungemütliche Fortschritt;296
9.2.2;2. Die Partei Marx;303
9.2.2.1;Soziologisches und Biografisches;303
9.2.2.2;Marx, Engels und die «Knoten»;308
9.2.2.3;Revolutionsstrategien;312
9.2.2.4;«Diktatur des Proletariats» und Weltwirtschaft;319
9.2.3;3. Vom Anstoß zur Bewegung;327
9.2.3.1;Der unwahrscheinliche Gründer: Lassalle;327
9.2.3.2;Das freie Subjekt in seiner Larve;332
9.2.3.3;Der Kongenius als treuer Jünger;338
9.2.3.4;Ruf und Berufung;342
9.2.3.5;Bonapartismus à deux;349
9.2.4;4. Fülle des Lebens;356
9.2.4.1;Traum und Schrecken der Emanzipation;356
9.2.4.2;Liebesschlachten, Lebenskämpfe;360
9.2.4.3;Frauen-, Arbeits- und Familienleben;369
9.2.4.4;«Die Frau und der Sozialismus»;376
9.3;Teil VII: Age of Empire;383
9.3.1;1. Freier Handel, schwarze Haut;384
9.3.1.1;Wettermaschinen der Weltwirtschaft;384
9.3.1.2;Gebrandmarkt in schwarzer Haut;386
9.3.1.3;Das neue Atlantis;398
9.3.2;2. Staaten, Kriege, Revolutionen;404
9.3.2.1;Revolutionen von oben;404
9.3.2.2;Krieg als Revolution, Revolution als Krieg;410
9.3.2.3;Leviathan 2.0;417
9.3.3;3. Der europäische Sozialismus;422
9.3.3.1;Weltkongresse von Kapital und Arbeit;422
9.3.3.2;Das bewegte Feld der Politik;430
9.3.3.3;Bebels lichte, umdüsterte Welt;437
9.3.4;4. Das Marx’sche Momentum;453
9.3.4.1;Die zwei Unvollendeten;453
9.3.4.2;Von Marx zum Marxismus;459
9.3.4.3;Lost in Translations;466
9.3.4.4;Marx im Westen, Marx im Osten;469
10;Drittes Buch: Warum Russland?;477
10.1;Teil VIII: In Oriente – Der Osten Wird Rot;479
10.1.1;1. Das entgrenzte Imperium;480
10.1.1.1;Völker und Räume;480
10.1.1.2;Ein «sich selbst kolonisierendes Imperium»;490
10.1.1.3;Das unendlich wachsende Reich;493
10.1.1.4;Die deformierte Gesellschaft;500
10.1.1.5;Das neue Subjekt;510
10.1.2;2. Die Dämonen der Intelligenzija;514
10.1.2.1;Die Welt der Uljanows;514
10.1.2.2;Die Profile des Terrorismus;519
10.1.2.3;Der sich fortschreibende Roman;527
10.1.2.4;Moralisch-literarische Initiationen;532
10.1.3;3. Marx in Russland;539
10.1.3.1;Das kaudinische Joch des Kapitalismus;539
10.1.3.2;Wechsel der Wegzeichen;549
10.1.3.3;Die Welt der Kampfbünde;559
10.1.4;4. Das Korn und die Gerste;565
10.1.4.1;Der seltsame Führer;565
10.1.4.2;Eine Generation Revolution;569
10.1.4.3;Durch Spaltung zur Verschmelzung;579
10.2;Teil IX: Vom Weltkrieg zur Weltrevolution;595
10.2.1;1. Wetterleuchten – Das Jahr 1905;596
10.2.1.1;Ein Tag, der alles veränderte;596
10.2.1.2;Vor dem Sturm;603
10.2.1.3;Revolution und Niederlage;607
10.2.1.4;Die Furien von Terror und Gegenterror;618
10.2.2;2. Sturmvögel;626
10.2.2.1;Die Leere nach dem Tumult;626
10.2.2.2;Russland als geistiger Generator;630
10.2.2.3;Philosophische Schlachten;633
10.2.2.4;Sektenkriege als Weichenstellung;643
10.2.2.5;Bolschewismus und Internationale;647
10.2.2.6;«The commening revolution»;651
10.2.3;3. Menschheitsdämmerung – August 1914;656
10.2.3.1;Im Kraftfeld des Weltkriegs;656
10.2.3.2;Gegen die Strömung;659
10.2.3.3;Deutsch-bolschewistische Kollusionen;666
10.2.3.4;Imperialismustheorie als Realpolitik;673
10.2.4;4. Auferstehung – März 1917;678
10.2.4.1;Russlands Zusammenbruch;678
10.2.4.2;Mobilisierung und «Verrat»;687
10.2.4.3;Auferstehung in Rot;696
10.3;Teil X: Marsch ins Niemandsland;713
10.3.1;1. Elementarkräfte – Juli 1917;714
10.3.1.1;Über den Rubikon;714
10.3.1.2;Von der Revolution zur Involution;725
10.3.1.3;Der gestrandete Leviathan;732
10.3.1.4;Der «Agent» und der «Diktator»;739
10.3.2;2. «Es schwindelt» – November 1917;744
10.3.2.1;Zwei, drei Tage des Kampfes;744
10.3.2.2;Der unsichtbare Aufstand;752
10.3.2.3;Die Logik der Totalisierung;758
10.3.3;3. Russland in Blut gewaschen;777
10.3.3.1;Krieg aller gegen alle;777
10.3.3.2;Der Separatfrieden als Kriegsakt;785
10.3.3.3;«Lerne beim Deutschen»;794
10.3.4;4. Phönix und Asche;800
10.3.4.1;Wahnsinn und Methode;800
10.3.4.2;Das Ende der Klassen;806
10.3.4.3;Der letzte Akt;817
10.3.5;5. Das neue alte Reich;826
10.3.5.1;Stalin, der Gründer;826
10.3.5.2;Das neue, rote Imperium;837
10.3.5.3;Der multinationale Machtkader;841
10.3.5.4;Das ungreifbare Russland;847
11;Viertes Buch: Der Kommunismus in seinem Zeitalter;853
11.1;Teil XI: Der Rote Planet;855
11.1.1;1. Phantome einer Weltrevolution;856
11.1.1.1;Eine Moskauer Weltpartei;856
11.1.1.2;Nach Westen, marsch, marsch!;863
11.1.1.3;Vom Rhein an den Jangtse;874
11.1.1.4;Nationalrevolutionäre und Faschisten;876
11.1.2;2. Das kommunistische Momentum;884
11.1.2.1;Ein Weltkriegskader;884
11.1.2.2;Sowjetrussland als U-topos;892
11.1.2.3;Kapitalistische Weltkrise und Internationale;900
11.1.2.4;Die irreversible Zäsur;902
11.1.3;3. Im Gehäuse des Wahns;909
11.1.3.1;Die Mysterien des Terrors;909
11.1.3.2;Zur Psychologie totalitärer Entgrenzung;917
11.1.3.3;Antifaschismus und Antitrotzkismus;927
11.1.3.4;Der Vater der Völker;937
11.1.4;4. A Tale of Two Empires;941
11.1.4.1;Von der Elbe bis zum Jangtse;941
11.1.4.2;Dialektiken des Kalten Kriegs;950
11.1.4.3;Chinas großer Sprung ins Chaos;959
11.1.4.4;Von der Stagnation zum «Umbau»;971
11.2;Teil XII: Die Postkommunistische Situation;981
11.2.1;1. Wege der Auflösung;982
11.2.1.1;Politische Ökonomie des «realen Sozialismus»;982
11.2.1.2;Humanismus und Terror;989
11.2.1.3;Condition totalitaire;995
11.2.2;2. Das Gespenst des Kapitals;1003
11.2.2.1;Ende des Kommunismus?;1003
11.2.2.2;Die Welt von 2017;1006
11.2.2.3;Kommunismus 4.0;1015
11.2.2.4;Glanz und Schrecken der einen Welt;1023
12;Epilog: Das weiße Rauschen;1029
13;Nachwort;1035
14;Anmerkungen;1039
15;Bildnachweis;1120
16;Personenregister;1121
17;Tafelteil;1134


1. Die Spur der roten Fahne
Rouge et Bleu «Im Sozialismus ist alles rot, die Fahnen, die Banderolen, die Draperien, die Leichentücher und Sargbedeckungen, die Blumengebinde, Kränze … und Strohblumen, die Krawatten, Halstücher, Armbinden usw.» Rote Ritualobjekte wurden obligater Teil eines jeden feierlichen Zeremoniells, dessen Suggestivität gerade in seiner ständigen Wiederholung lag. Das waren Manifestationen in betont getragenem Duktus und Schritt, unterbrochen nicht selten von Attacken der Polizei, die das Zeigen verbotener Embleme zu verhindern suchte. Die rote Fahne bildete darin das zentrale Symbol: als Fahne «der revolutionären Einheit», «des internationalen Sozialismus», «der künftigen Universalrepublik», als «Symbol der Brüderlichkeit der Völker» und «der vom Blut der Arbeiter gefärbte Fetzen». Immer wieder waren es diese aus einem langen historischen Gedächtnis, das immer «länger» wurde, geschöpften Assoziationen, die die begleitenden Invokationen durchzogen.[1] So wurde etwa im Lied des ehemaligen Kommunarden Paul Brousse «Le Drapeau Rouge» (Die rote Fahne) eine imaginäre Tradition entrollt, welche von den Barrikaden der Commune 1871 über die Revolutionsjahre 1848, 1830 und 1789 zurück bis zu den «Aufständischen des Mittelalters» reichen sollte, die einst «die rote Fahne auf alle Türme pflanzten» und die «Könige erbleichen ließen»[2]. In den rituellen Formeln einer sozialistischen Festtagsrhetorik hieß es schließlich sogar: «Zu allen Zeiten wurde die rote Farbe von den Leidenden und Unterdrückten gewählt. War das so, weil sie dem immer erneut vergossenen Blut des Volkes glich?» Aber wie zuverlässig war diese Genealogie? Der französische Syndikalist und Privatgelehrte Maurice Dommanget, der sich in den 1960er Jahren daran machte, alle legendären Aufstände und Rebellionen, die zur Vorgeschichte des modernen Sozialismus gezählt wurden, auf ihre Farbwahl hin zu untersuchen, sah sich jedenfalls eins um andere Mal in seinen Erwartungen enttäuscht.[3] Stattdessen geriet er in ein verwirrendes Wechselspiel der Bedeutungen, das selbst höchst bezeichnend ist. Seine Suche nach der revolutionären Symbolfarbe Rot beginnt mit einer Szene, in welcher der (vielleicht adelige) thrakische Kriegsgefangene und versklavte Gladiator Spartacus sich nach dem Sieg über eine römische Armee ein purpurnes Tuch umlegte, das paludamentum. Das war das Rangabzeichen eines römischen Kommandeurs im Felde, eines Praetors oder Konsuls, als welchen die aufständische Sklavenarmee ihren Führer somit proklamierte. Für die Kommunisten des 20. Jahrhunderts hat Spartacus bekanntlich eine emblematische Rolle gespielt, von den «Spartakisten» in Deutschland bis zu den «Spartakiaden», den sozialistischen Sport- und Jugendfesten. Tatsächlich war das Rot für Spartacus und seine Heerhaufen entlaufener Sklaven aber kein spezifisches Symbol sozialer Auflehnung, sondern das einer unbedingten militärischen Autorität. Das war eine Bedeutung, die die Farbe Rot die längste Zeit behielt. Flammend rot (und golden bestickt) war das große Reichs- und Kriegsbanner, die «Oriflamme», unter der die Aufgebote des Königs von Frankreich im späten Mittelalter kämpften. Die eigentliche Königsfarbe war indessen das Weiß – neben einem lichten Blau, in welches Ludwig der Heilige (1214–1270) zum Zeichen seiner Treue zur Jungfrau Maria, die man seit dem 12. Jahrhundert im Rahmen eines neuen Marienkultes in einen blauen Mantel der Unschuld zu hüllen begonnen hatte, sich nun selbst zu kleiden begann. Erst damit trat das Blau in den Kanon der europäischen Grundfarben ein.[4] Die aufständischen Bauern der Jacquerie von 1358 sollen sich dagegen noch mit weißen Königslilien geschmückt haben, zum Zeichen, dass sie gegen die feudale Adelswillkür an die Gerechtigkeit des Herrschers appellierten. Nach derselben Logik trugen die aufständischen Handwerker und Bauern in England in der Revolte von Wat Tyler und John Ball 1381 weiße Mützen und königliche Insignien, um ihr Recht beim König zu finden (der sie heimtückisch hinterging). Auch die Fahne des süddeutschen «Bundschuh» war weiß, mit einem aufgemalten Schuh als Zeichen des «gemeinen Mannes». Die aufrührerischen Bauern und Städter, die Thomas Müntzer in seinem chiliastischen Gottesreich um Mühlhausen versammelte, trugen auf ihrer Fahne einen farbigen Regenbogen zum Zeichen des «Ewigen Bundes» mit Gott, ebenfalls auf weißem Grund. In Purpur und Scharlachrot gehüllt prunkte dagegen in der Bildsprache aller Reformatoren, aufständischen Bauern, Handwerker und Ritter die «große Hure Babylon» – das römische Papsttum. Dieses Rot war die Farbe der Hölle, der Verderbnis, der Unzucht. Das Zeitalter der Reformationen und Religionskriege eröffnete überhaupt eine erhebliche erste Verschiebung der symbolischen und sozialen Farbgebungen – die uns hier nur deshalb und insoweit interessieren, als Farben «kulturelle Gebilde» sind, die sich bei aller Ambivalenz deuten und entziffern lassen. So stand zum Beispiel das puritanische oder geschäftsmäßige Schwarz, in das die städtischen Bürger und vor allem die Protestanten sich jetzt zunehmend kleideten, in einem betonten Gegensatz zum Kunterbunt der Höfe, des Adels und des hohen Klerus. Unterhalb von alledem lag die Sphäre der physischen Arbeit, in der seit dem Mittelalter ein verwaschenes Bleu aus Weid (als dem billigsten Färbemittel) dominierte, während das vornehmere und seltenere Azurblau aus dem teuren, importierten Lapislazuli gewonnen wurde, also dem Adel und Patriziat vorbehalten blieb.[5] Ab dem 17. Jahrhundert eroberte dann jedoch Indigo, ein koloniales Plantagenprodukt, die Märkte und machte das Blau zur Uniformfarbe von Soldaten und Matrosen wie zur textilen Massenfarbe des beginnenden Manufaktur- und Industriezeitalters. Parallel zu all diesen Alltagsverwendungen war das Blau seit der frühen Neuzeit in der europäischen Malerei entdeckt worden. Waren es im Hochmittelalter nur die Abbildungen der Maria sowie einige berühmte Kirchenfenster (wie in der Kathedrale von Chartres), in denen ein sakrales Blau dominierte, so wurden auf den Gemälden der Renaissance-Zeit auch die irdischen Himmel immer blauer (statt grünlich, rötlich oder sogar golden), und mit ihnen die Meere. Das ging mit der Entdeckung von Licht und Schatten, von Perspektive und räumlicher Tiefe einher. Das Blau als die Farbe der Tiefe und Innerlichkeit wurde schließlich auch zur Farbe der Melancholie. Dies war der Humus, aus dem die «blaue Blume» der Romantik wuchs und noch ein Jahrhundert später der «Blaue Reiter» seine Spiritualität schöpfte oder auch der «Blues» der schwarzen Musik seine Trauer bezog.[6] Hätte eine Geschichte der Farben irgendeine Triftigkeit für die Fragen, um die es uns in diesem Buch geht? Einige Verbindungslinien sind unschwer zu erkennen, gerade in der Entgegensetzung der Urfarbe Rot zur Spätfarbe Blau, die wir vage mit der Lebenswelt eines westlichen (atlantischen) Stadtbürgertums und von da aus sogar mit dem «Geist des Kapitalismus» in Verbindung bringen könnten – in einem ambivalenten Bedeutungsspektrum, das von Methodik, Arbeitsdisziplin und neutraler Sachlichkeit über maritime Weltläufigkeit bis zur Romantik, der Melancholie, dem Blues oder dem «Cool» reichte. Die Farbe Rot würde sich dagegen in einem deutlich unterschiedenen Bedeutungsspektrum bewegen, das historisch tiefer reicht, sich als kämpferische, politische Gegenfarbe zum modernen Blau aber erst mit diesem parallel und also recht spät entwickelt hat. Klar ist andererseits, dass dort, wo politisch und emblematisch wirklich «alles rot» wurde, nämlich in der Welt der östlichen Sozialismen des 20. Jahrhunderts, noch ganz eigene Bedeutungen ins Spiel gekommen sein müssen, die in dieser abendländischen Farbenlehre nicht aufgehen. Russisch Rot Als die Partei der Bolschewiki, der radikale Flügel der russischen Sozialdemokratie, sich im März 1918, kurz nach ihrem erfolgreichen,...


Gerd Koenen ist Historiker und Publizist. Er war bis 1982 ein führendes Mitglied des KBW, danach u. a. Redakteur der Zeitschrift „“ und Mitarbeiter von Lew Kopelew. Seine Bücher waren Bestseller. 2007 erhielt er den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.


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