E-Book, Deutsch, 928 Seiten
Knausgård Aus der Welt
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-17711-9
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 928 Seiten
ISBN: 978-3-641-17711-9
Verlag: Luchterhand Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hoch oben im Norden Norwegens spielt diese Geschichte, kurz vor der Jahrtausendwende. Der junge Henrik Vankel arbeitet hier als Aushilfslehrer. Selbsthass, Einsamkeit und Schamgefühle bestimmen sein Leben. Schon lange ist er aus der Welt gefallen, schon lange versteht er die Zeichen seiner Mitmenschen nicht mehr - schon lange verschwimmen ihm Traum und Realität. Bis ihm eines Tages klar wird, dass er sich verliebt hat. In eine seiner Schülerinnen. Eine eigentlich unmögliche Liebesgeschichte. Ist dies wirklich die Rettung - oder der Auftakt zum endgültigen Zusammenbruch? 'Aus der Welt', das gefeierte Romandebüt von Karl Ove Knausgård, hat viele Facetten. Von Sprach- und Verbindungslosigkeit ist darin die Rede, vom verzweifelten Versuch, sich einen Sinn zu erschaffen in einem rätselhaften Dasein. Es erzählt die Geschichte einer Kindheit und Jugend im Norwegen der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, in einer Familie und einer Welt, in der Scham und Schuldgefühle zu den stärksten Triebfedern überhaupt gehören. Es ist das sprachmächtige Debüt eines jungen Schriftstellers, eine erbarmungslose Erkundung des männlichen Egos und der Selbstzerstörung, aber auch eine literarische Feier von überbordender Phantasie.
Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Er lebt mit seiner Familie in London. 'Aus der Welt', 1998 in Norwegen erschienen, ist sein Debüt als Autor, das nun erstmals auf Deutsch erscheint. Der Roman wurde bei seiner Veröffentlichung in Norwegen gefeiert als eines »der wichtigsten Bücher der letzten 25 Jahre« (Dagbladet) und mit dem Norwegischen Kritikerpreis ausgezeichnet. Es war das erste Mal, dass dieser Preis einem Debütanten verliehen wurde.
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Am nächsten Tag erwachte ich von flüsternden Stimmen direkt vor dem Haus. Mit schwerem Kopf setzte ich mich auf und blickte in die Dunkelheit hinaus. Zwei Jungen starrten mich durch das Fenster an. Ihre Gesichter leuchteten vor Furcht und Überraschung, als sie mich entdeckten. Sie nahmen in dem tiefen Schnee entlang der Hauswand Reißaus, ich hörte, wie sie sich mit Mühe einen Weg zum Meeresufer bahnten, wo sie nicht länger an sich halten konnten und laut loslachten. Dann fiel mir, in einem plötzlichen Bild, wieder ein, was am Vorabend passiert war. Die wachsende Aggression. Ich trinke und trinke. Es ist Morgen, ich bin benebelt vom Alkohol, ich gehe los. Überzeugt, an einem völlig anderen Ort zu sein, folge ich dem Fjord wie eine Maschine landeinwärts, bis vor mir ein entgegenkommendes Auto hält. Mein eigener verbissener Schatten, der im Licht der Scheinwerfer über den Schnee flackert. Großer Gott. Sie müssen in dem Wagen gesessen und über mich gelacht haben, über diesen starken Willen auf Abwegen. Vielleicht haben die Kinder schon davon gehört, dachte ich und legte mich ins Bett zurück, vielleicht waren sie deshalb gekommen, um zu spionieren. Um zu schauen, wie ich war, wenn ich mich veränderte. Mehr. Da war mehr. Richard hatte mich freundlicher behandelt als nötig. Ständig wollte er mich in die Gespräche einbeziehen, ständig wollte er mit mir anstoßen, die ganze Zeit benutzte er meinen Namen, Was sagt Henrik?, und dann lachte er. Seine Wahl war an diesem Abend auf mich gefallen. Ich sah, dass es Linda quälte. Aber sie konnte nicht eingreifen. Erstens balancierte er weiter haarscharf zwischen einem freundlichen und vermeintlich freundlichen Verhalten. Zweitens würde ein Eingreifen nur seine Eifersucht schüren, ich hatte ihn regelrecht im Ohr, Henrik in Ruhe lassen? Warum denn das? Soll ich nicht freundlich zu ihm sein dürfen? Immer wieder erhob er an diesem Abend mir gegenüber sein Glas. »Prost, Henrik!«, sagte er und lachte mit Augen, die vor schwarzer Freude funkelten. »Prost«, erwiderte ich und hob mein Glas mit Wodka und Saft an die Lippen. Als ich das Glas senkte und ihn wieder ansah, war er bereits mit etwas anderem beschäftigt. Abwesend starrte er auf die wogende Menschenmenge, die sich fortwährend durch den heißen, lärmenden Festsaal bewegte, in dem wir uns aufhielten. Vergiss ihn, dachte ich und schob den Stuhl zurück, um außerhalb der Reichweite ihres Gesprächs zu sitzen. Nach mehreren Stunden in ihrer Gesellschaft, erst in Lindas und Richards Wohnung, danach hier, an einem Tisch im Gemeindehaus, hatte ich sie satt: Schließlich waren es Menschen, die ich jeden Tag in der Schule sah, und es hatte sich gezeigt, selbst wenn sie tranken und allmählich betrunken wurden, hatten sie einem nicht mehr zu bieten – sie waren wie immer. Denn der Rausch verändert uns nicht. Er bewirkt nur eins, von sämtlichen Vorbehalten abzusehen, die sonst alles umgeben, was wir sagen und anpacken. Auf diese Weise entfernen wir uns von der Wahrheit, die ja unendlich nuanciert ist, mit so vielen Schichten, dass es keinem gelingt, sie alle zu überblicken, wie eines dieser Bilder von in Spiegeln reflektierten Spiegeln, in denen die Bewegung niemals endet: Egal, wie klein das Bild ist, es gibt immer noch eins, das noch kleiner ist. Endlos. Wahrheit lässt sich nur aus der Distanz betrachten, denn wenn wir dorthin gelangen, hat sie sich schon weiterbewegt, als wären wir von einem magnetischen Feld umgeben, das wir gleichzeitig auch sind, wodurch wir die Wahrheit in dem Moment abstoßen, in dem wir uns ihr ernsthaft annähern. Dass die wenigsten sich diese Erkenntnis zu eigen machen, liegt natürlich daran, dass sie in letzter Konsequenz jedes praktische Leben lähmen und die ganze Menschheit daraufhin aussterben würde. Querulantisch säßen wir dort, die letzte Generation, und würden alles in Frage stellen, weiter und weiter würden wir gehen, näher und näher kommen: Was ist dieses Brot, eigentlich? Und das Brot? Erst würde es trocken und hart werden, dann aufweichen und sich grünblau verfärben, bis wir mit einem verfaulten Brei zwischen den Fingern dasäßen. Ausgehungert und ohne klüger geworden zu sein, sähen wir es vor unseren Augen verschwinden. Ist das nicht der Grund, aus dem wir trinken? Die einzige Möglichkeit, uns anzunähern, ist illusorisch, aber deshalb nicht weniger verführerisch: Einfachheit ist anziehend, deshalb trinken wir, und deshalb sagen wir, dass man aus dem Mund Betrunkener und Kinder die Wahrheit vernimmt. Für ein paar Stunden wird alles immer einfacher, bis du das letzte Stadium erreichst und ohne einen Gedanken im Kopf umkippst. Einfacher wird es nicht mehr. Aber wahr? Nein, nein, nein. Vorbehaltlos saßen sie um mich herum und plauderten. Irene und Enoksen unterhielten sich, sah ich, was offenbar unterhaltsam war, denn Irene lachte laut und war nicht mehr zu bremsen. Unbewusst hob sie die Hand zum Kopf und berührte flüchtig ihr hochgestecktes Haar, als wollte sie es prüfen. Sie hat sich Mühe gegeben, dachte ich, sich für diesen Anlass herausgeputzt. Im Badezimmer gestanden und sich geschminkt. Konzentriert müssen ihre Augen die Bewegungen der Hände verfolgt haben. Aus dem Wohnzimmer ein gleichmäßiges, schwaches Surren von Stimmen und Lachen, das sind ihre Eltern, die fernsehen. Hätten sie nur ausgewählt, was sie sehen wollen, dann, aber nein, sie würden alles sehen, denkt sie und hebt unwillkürlich die Augenbrauen, als sie die Lippen rundet und die Hand den feuchten Stift darüber zieht. Ja, ja. Sollten sie ruhig da herumsitzen. Sie würde jetzt ausgehen. Sie summt und bleibt sekundenlang regungslos stehen und mustert sich, bis sie die Kappe des Lippenstifts aufsetzt, ihn ins Badezimmerregal stellt und den Raum verlässt. Zufrieden zieht sie Mantel und Schuhe an und steckt den Kopf zur Tür herein, um ihnen Bescheid zu sagen, dass sie geht. Die Eltern lächeln ihre übergewichtige Tochter an und freuen sich über die Andeutung von Vorfreude, die sie vergeblich zu verbergen sucht. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, sehen sie sich an. Unterwegs zum Vorglühen in Lindas und Richards Wohnung eilt sie den Anstieg hinauf. Die Vorstellung, dass sie später jemandem leidtun könnte, ist ihr vollkommen fremd. Ich? Und warum? Sie hastet davon, ich drehe mich auf der Couch und sehe sie durch das Fenster: Die eisige Luft lässt sie eine Hand erst auf das eine, dann auf das andere Ohr legen, als sie ihren Weg im Laufschritt fortsetzt. Unmittelbar darauf hören wir sie im Flur. Die Stiefel werden aufgeschnürt, die dicken Socken ausgezogen, und mit ihren breiten Händen presst sie zierliche, hochhackige Abendschuhe um ihre Füße. Vielleicht wirft sie noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, ehe sie ins Wohnzimmer kommt, wo wir ihr entgegenblicken. Die hölzernen Schritte, die ihr die ungewohnt hohen Absätze aufzwingen, die künstlich festen Haare, die wie losgelöst vom Kopf wippen, die fast vulgär geschminkten Augen. »Hallo!«, hatte sie gesagt, uns andeutungsweise mit der Hand zugewunken und auf dem äußersten Rand der Couch Platz genommen, während wir uns nichts anmerken ließen. Oder war ich der Einzige, der es bemerkte? Verstohlen hatte ich mich umgeschaut. Alles war noch so wie vor ihrem Eintreffen. Irenes Auftritt war also wie erwartet, begriff ich, das Gespräch ging weiter, als wäre nichts passiert. Elastisch hatte es umgehend auch Irene eingeschlossen, die eine Stunde später neben mir durch den Ort ging, den ganzen Weg vom Vorglühen zum Gemeindehaus hinauf, übersprudelnd von Plaudereien, denen ich nicht folgen konnte, da mich ablenkte, was am frühen Abend passiert war. Meine Gedanken kreisten um Miriams unerwarteten Besuch und den Willen, der in diesem Besuch zum Ausdruck gekommen war. Vielleicht hatte Irene sich über meine Geistesabwesenheit geärgert, was wusste ich; jedenfalls hatte sie sich sofort mit Enoksen unterhalten, als wir in dem halb gefüllten Festsaal Platz nahmen. Nun saß sie da und lachte über etwas, das er gesagt hatte. Ich seufzte leise vor mich hin, wippte den Stuhl zurück und zog den Vorhang, der das Fenster verdeckte, zur Seite. Eine Gruppe Jugendlicher stand im Lichtkegel der einzigen Straßenlaterne und trank sich Mut an. Weiter unten lag die Schule mit dunklen Fenstern, von Leben geleert. Jetzt war dort keiner. Alles war still. Ich dachte an die Schwimmhalle, das Wasser, das glänzend und glatt dalag, das ferne Säuseln des Belüftungssystems an der Decke, vielleicht eine Dusche, die im Umkleidebereich tropfte, Dipp, dipp, dipp, dipp, ohne dass jemand da war, es zu hören. Kein williger Körper, der die Wasserfläche durchpflügte und mit langen, zähen Zügen schwamm. Niemand, der mit den Händen über dem Beckenrand hing und erschöpft durchatmete, nachdem er unter Wasser über dem Beckenboden hin und her geglitten war und die Lunge schmerzhaft nach Luft geschrien hatte. Es gab keinen, der vor dem großen Fenster an der Kopfwand stand und auf die Lichter des Orts hinausblickte, der sah, dass sie in der flutenden Dunkelheit schwach zitterten, und daran dachte, wie schön es war, sich dort nachts aufzuhalten. Mit gleichmäßigen Bewegungen durch das bläuliche Wasser des Beckens zu schwimmen, während draußen die Stürme wüteten. Nun aber wurde es von nichts gekräuselt, nun lag es da und ruhte in sich selbst, es war niemand da, der es sah und vielleicht dachte, dass die regungslose Wasserfläche hart wirkte, wie aus Glas. Ich zog den Vorhang zu und wandte mich erneut dem Tisch zu. Lindas Blick ließ mich erkennen, dass sie mich...