Ein Prenzlauer Berg Krimi
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-8393-6132-0
Verlag: BeBra Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Berlin und seine Kieze - ob Neukölln, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg - Sie alle bieten in unserer Reihe "Kiezkrimis" eine spannende Kulisse, vor welcher die zum Teil kauzig-symphatischen Kommissare ermitteln. Lesen Sie doch mal rein: Thomas Knauf "Prenzlauer Berg Krimis", Krause und Winckelkopf "Friedrichshain Krimis" oder Christoph Spielbergs "Neuköllnkrimi"
Berliner Weiße mit Schuss
Autoren/Hrsg.
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Die Tage kamen und gingen. Noch vergaß sie nicht, welches Jahr war und dass ihr Geburtstag diesmal mit Jesus Auferstehung zusammenfiel. Ein Grund mehr für die überzeugte Atheistin, ihn zu vergessen. Alles, woran sie einmal geglaubt hatte, war sang- und klanglos untergegangen, aus und vorbei. Ein abgeschlossenes Kapitel für die Geschichtsbücher, in denen ihr Name nicht vorkam. Zwar hieß es bei Bertolt Brecht: »Wenn die Wunde nicht mehr schmerzt, schmerzt die Narbe«, doch Wehleidigkeit war noch nie ihre Sache gewesen. Sie hielt mehr aus als ihre Ehemänner, die so jämmerlich gestorben waren wie das Land, für das sie sich kaputt gemacht hatten. Doch wozu war sie noch am Leben, wenn jeder neue Tag wie ein Abziehbild des gestrigen war; wenn niemand mehr die alten Lieder sang, ausgenommen »Vorwärts und nicht vergessen …« – der blanke Hohn, wenn der Seniorenverein ihrer Partei es anstimmte. Darum hörte sie lieber das Lied vom Leiermann aus Schuberts Winterreise und machte sich jeden Tag schön für das Rendezvous mit dem, der irgendwann an ihre Tür klopfen würde. Sie würde ihn willkommen heißen und eine Partie Hölle mit ihm spielen, bevor er sie zur Braut nahm. Seit Jahren wartete sie vergebens auf den Herrn, den sie einen Meister aus Deutschland nannten, obwohl Pünktlichkeit nicht seine Tugend war. Entweder kam er zu früh oder zu spät und nie, so man ihn rief. Selbst wenn er sich ankündigte, gab er sich oft launisch aus Respekt vor den Errungenschaften der Medizin oder er ließ sich grundlos entschuldigen. Ihm auf die Sprünge zu helfen, kam für sie nicht in Frage, denn weder fühlte sie sich enttäuscht noch einsam oder sterbenskrank, nur tödlich gelangweilt. Die tägliche Wiederholung des Immerselben, Rituale statt Ereignisse, Wohlfühlatmosphäre ohne Gehirntraining – zum Verrücktwerden. Ihr Leben lang hatte sie gern im Kollektiv gearbeitet und gefeiert, jetzt wollte sie allein sein und konnte es nicht, weil sie es nie gelernt hatte. Ins Heim zu gehen war eine Entscheidung, die ihr aufgezwungen wurde. Deshalb hasste sie es, unter Leuten zu sein, die gern hier waren oder wie sie keine Wahl hatten. Ein alter Mensch im Haus ist ein Segen. Zumindest war es so, als Jung und Alt noch unter einem Dach wohnten, aufeinander angewiesen waren und einander wenn schon nicht wirklich verstanden, so doch respektierten. Als das Wissen und die Erfahrung eines langen Lebens noch einen Wert an sich darstellte, der durch mündliche Weitergabe erfolgte und nicht durch Ratgeber, Fernsehen oder Internet, waren die Alten so etwas wie eine geschätzte Hausbibliothek und obendrein nützliche, weil unbezahlte Hilfe im Alltag. Ein Haus, in dem nur Alte leben, ist ein verfluchtes Haus. Man soll es tunlichst meiden, Fenster und Türen verbarrikadieren, um den Modergeruch des schleichenden Todes von sich fernzuhalten, es am besten niederbrennen. Edith Jacobi wusste, wovon sie redete. Sie lebte in einem Altersheim in Mitte mit zweihundert mehr oder weniger munteren Greisen, die, anstatt auf ihren Zimmern zu bleiben, sich der Gnade sorgenfreien Daseins hinzugeben und das Alleinsein mit sich als höchst unterhaltsamen Film zu genießen, den ganzen Tag wie aufgezogene Roboter umhertrippelten, Pirouetten im Rollstuhl drehten oder auf den Fluren herumstanden wie bestellt und nicht abgeholt. Anstatt höflich schweigend der Sisyphusarbeit des Personals zuzusehen und nur zu reden, wenn man gefragt wird, nervten manche, längst nicht nur Frauen, mit endlosem Geschwätz, vorgetäuschten Beschwerden oder bloßer Anwesenheit, die ihnen umso unerträglicher erschien, je weniger sie sich damit abfinden konnten, alt und nutzlos zu sein. Diejenigen, die beizeiten gelernt hatten, sich selbst zu genügen und die Gemeinschaft der anderen nicht zum Teilhaber ihrer Langeweile zu machen, wurden als unsozial, eingebildet und den kollektiven Geist des Hauses vergiftende Einzelgänger gescholten, mitunter regelrecht gehasst und durch Gemeinheiten wie das Verweigern eines Sitzplatzes beim Essen, Stehlen ihrer Zeitung aus dem Postfach, grundlose Beschwerden bei der Heimleitung und ähnliche Kindereien gemobbt. Sie ertrug die tägliche Zumutung, als unnütze Person unter Nutzlosen zu leben, mit preußischer Disziplin und Würde. Sie hielt sich aus dem Theater der Grausamkeit heraus, spielte die Rolle der stummen Kattrin im Krieg der Veteranen um ständige Aufmerksamkeit, falsches Mitleid, treue Gefolgschaft oder eine höhere Pflegestufe und zog sich zurück, sobald das Greisengemurmel zum Sirenengeheul anschwoll. An kulturellen Bespaßungen wie Diavorträgen über Ostpreußen, Sudetenland und Schlesien, UFA-Filmen aus Willi Schwabes Rumpelkammer, Volksmusik zum Mitschunkeln, Lesungen zum Einschlafen nahm sie nur anfangs und widerwillig teil, an Schnupperkursen für Kreuzfahrten, Seniorenmodenschauen und Tombolas für Jubilare nie. Da schaute sie lieber auf ihrem Zimmer den neuesten Tatort oder zum hundertsten Mal eine Doku über Galapagos-Schildkröten. Mit sich ist man nie allein, sagte sie sich, doch immer öfter kam ihr der Verdacht, dass Fernsehen nicht bildet, sondern dumm macht, weil Sehen und Hören ohne Mittun doch nur reine Beschäftigungstherapie ist. Eine andere, nicht weniger schlimme Form von Folter, die dem zur Untätigkeit Verdammten bewusst macht, dass er zum alten Eisen gehört, aber nicht rosten soll, um ihn als Zuzahler der Pflegekosten zu behalten. Um dieser letzten Bürgerpflicht zu entgehen, hatte Edith sich lange geweigert, ins Heim zu ziehen. Doch die Miete für ihre Zweiraumwohnung am Pankower Bürgerpark war zuletzt schneller gestiegen als ihre Rente und die Bank ihres Vertrauens hatte ihre gesamten Ersparnisse mit Aktien der Telekom verzockt. Die promovierte Chemikerin wusste, der Mensch ist zu sechzig Prozent aus Wasser gemacht. Das Grundelement des Lebens besitzt ein Gedächtnis und die Kraft, Berge zu versetzen. Wenn das Wasser sich in den Beinen sammelt und im Herzen staut, wird es zum Elixier des Teufels. An ihn glaubte Edith Jacobi so wenig wie an Gott, seit ihre beiden Brüder noch in den letzten Tagen des Krieges den Heldentod starben, der Vater als vermisst galt und die Mutter den Verstand verlor. Damit nie wieder solch Unheil über Deutschland kommt, trat sie in die FDJ ein, studierte an der Arbeiter- und Bauernfakultät und baute die DDR-Chemieindustrie mit auf. Bis zuletzt forschte sie vergebens nach der Zauberformel für Wohlstand durch Chemie ohne Erdöl. Mit dem Ende der DDR begann für sie die Zeit des Nachdenkens über die Formel des Glücks. Sie fand sie als Großmutter zweier Enkel, auf die sie stolz war. Doch aus Kindern werden Erwachsene, die in die Welt hinausziehen und keine Zeit mehr für Oma haben. So blieb sie nach dem Tod ihres letzten Mannes für sich und kämpfte seitdem mit chemischen Keulen gegen Altersdepression. Ansonsten war sie mit ihren achtzig Jahren kerngesund. Sie hörte alles, was über sie getuschelt wurde, und sah mehr, als ihr lieb war. Ihr Verstand litt nicht, wie bei den meisten Heiminsassen, unter schleichender Amnesie, im Gegenteil. Sie konnte nichts vergessen, keine noch so kleine Niedertracht des Personals vom Vortag, kein böses Wort von Kollegen, das vor Jahrzehnten fiel, erst recht nicht die Schreckensbilder der Kindheit. Wie beneidete sie jene, die mit der Gnade der Vergesslichkeit gesegnet waren. Für Edith Jacobi war das Leben ein Film, dessen Szenen sie nach Belieben abspulen konnte, obwohl die Chemie der Erinnerung die Dinge in ständig neuem Licht erschienen ließ, monströser und geheimnisvoller, als sie tatsächlich gewesen waren. Die Gegenwart hatte für Edith nichts zu bieten als tägliche Wiederholung eingeübter Rituale, eine Endlosschleife an Banalitäten, deren größte Demütigung die allmorgendliche Frage des Pflegepersonals war: »Na, wie geht es uns heute?« Kurz vor dem Aufwachen hatte John Klein einen seltsamen Traum. Er war in Paris und aß mit seinem Vater im La Coupole. »Lass uns gehen! Die Preise sind hier höher als die Kuppel im Invalidendom«, sagte John, als er die Speisekarte durchblätterte. »Du wolltest unbedingt mit mir nach Paris und wissen, wo es mir damals am besten gefallen hat«, erwiderte der Vater und bestellte zweimal Cordon Bleu, dazu eine Flasche Gigondas Jahrgang 2001. Worüber sie beim Essen sprachen, daran erinnerte sich John nicht. Vermutlich schwiegen sie, wie meistens, wenn sie einander gegenübersaßen. Als der Kellner die Rechnung brachte, sagte der Vater: »C’est pour moi, Monsieur«, schob seine Brille in die Stirn und wurde blass. Dann krempelte er seinen linken Ärmel hoch, um dem Kellner zu zeigen, dass dort keine Blutgruppe eintätowiert war. »Je n’étais pas chez le SS, j’étais soldat de la Wehrmacht«, stotterte der Vater und zog seine Kreditkarte aus der Brieftasche. Der Kellner änderte die Summe auf der Rechnung und zog die Karte durch das Lesegerät. John warf einen Blick auf den Beleg. Dort stand eine Abbuchung von glatten 500.000 Euro. Als sie das Lokal verließen, wollte John wissen, wieso er diese unverschämte Summe ohne zu murren beglichen und sich auch noch bedankt hatte. »Sei doch froh!«, meinte der Vater. »Wäre ich damals zur SS eingezogen worden,...