Ein Prenzlauer Berg Krimi
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
ISBN: 978-3-8393-6126-9
Verlag: BeBra Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Berlin und seine Kieze - ob Neukölln, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg - Sie alle bieten in unserer Reihe "Kiezkrimis" eine spannende Kulisse, vor welcher die zum Teil kauzig-symphatischen Kommissare ermitteln. Lesen Sie doch mal rein: Thomas Knauf "Prenzlauer Berg Krimis", Krause und Winckelkopf "Friedrichshain Krimis" oder Christoph Spielbergs "Neuköllnkrimi"
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Seit längerem hatte Moshe Meirowitz das Gefühl, weder Fisch noch Fleisch zu sein, ein Jemand, den man wishy-washy nennt. Noch benahm er sich nicht wie einer dieser polnischen Nichtsnutze, die den ganzen Tag auf ihren Bauch starren und darüber nachdenken, ob Flöhe einen Nabel haben. Für solche Überlegungen hatte er keine Zeit, denn ihn quälten unaussprechliche Sorgen, zerrten an seinem Verstand. Der Rabbiner wusste, dass er weder im Tal noch auf dem Gipfel seiner manischen Depression wandelte, seit er das Wundermittel Fluotexin einnahm. Doch um welchen Preis. Bisher hatte er fest daran geglaubt, er wäre ein Auserwählter, den Ha-Kodosh, der Allerheiligste, mit der Gabe der Eindringlichkeit beschenkt hatte. Nun zweifelte er, ein Rebbe der höchsten Initiation zu sein, einer, der Wunder vollbringt. Nachdem er als Rabbiner die Gemeinde eines Kibbuz auf dem Golan an den Rand des Ruins getrieben hatte, indem er aus überzogener Mildtätigkeit die Armen reich beschenkte und die Reichen zu hochriskanten Börsengeschäften verleitete, dass auch sie arm wurden, dachte er lange nach und kam zu dem Schluss, dass nicht alle irdischen Wundertaten gelingen können, weil El Eljon, Gott der Höchste, sonst leicht Konkurrenz bekäme und seine Geschäfte verdürben. Als man ihn in die Orthodoxengemeinde nach Monsey im Staate New York sandte, um dem Messianismus der chassidim einige Reformgedanken nahezubringen, ging auch das schief. Weil er, Moshe Meirowitz, einziger Sohn des Schuhmachers Abraham Meirowitz, es nicht schicklich fand, dass die Tänzerinnen in den gemeindeeigenen Table Dance Bars von Monsey auftraten, ohne jenes zu verhüllen, für das es im Hebräischen kein Wort gibt, vielmehr den Begriff ossu makom – jener Ort –, und ihn von japanischen Touristen fotografieren ließen. Weswegen er beim Oberrabbi der Lubawitscher scharf protestierte und der ihm vorwarf, am Sabbat in einer der fensterlosen, schwarz lackierten Bars gesehen worden zu sein, was nicht den Tatsachen entsprach, weil er nie einen solchen Ort betreten hatte. Aber ein hiesiger Gerüchtemacher servierte ihm die Unappetitlichkeit ausgerechnet am Sabbat. Zu Jom Kippur, dem letzten der zehn Bußtage nach dem Neujahrsfest, wo Juden die Verantwortung für alle Missetaten und Verfehlungen der Menschheit teilen, verfiel er in tiefe Depression und begab sich auf Anraten seines Arztes in psychiatrische Behandlung. Dr. Yankel, ein New Yorker jewish shrink, diagnostizierte nach zweiundzwanzig Sitzungen à 100 Dollar bipolare Störungen und verschrieb ihm Prozac. Als seine rebbetsin sich beklagte, dass er anfangs immer seltener und zuletzt überhaupt nicht mehr mit ihr yentzen mochte, gab ihm Dr. Yankel ein Rezept für Viagra. Diese Methode, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, machte ihn nur noch depressiver, und er kam auf den Gedanken, dass sein Weib Rivka nicht die Quelle seines Unglücks war, sondern New York, dieser faule Apfel vom Stamme Israel, ihn zoreß lehrte oder, wie man hier sagte, some tsatske for your trouble gab. Deshalb bat er um eine Rabbinerstelle in der alten Welt, wo er ja herkam und hingehörte, möglichst in einer Stadt, die so viele Lubawitscher hat wie das Tote Meer weiße Wale. Doch alle Rabbinate von Whitechapel bis Cernowitz waren vergeben, und im Staat der Juden wollte man ihn, Moshe Meirowitz aus Wilna, bis zum jüngsten Gericht nicht mehr sehen. So nahm er notgedrungen eine Stelle in einer Berliner jeschiwa an. Obwohl er seiner in Sobibor und Majdanek ermordeten misch-póche geschworen hatte, nie einen Fuß nach Deutschland zu setzen, und die jeschiwa in der Synagoge Rykestraße zu den orthodoxen zählt, gewöhnte er sich schneller ein, als ihm lieb war. Von fünf Deutschen waren vier mehr oder weniger judenfreundlich oder taten so. Dagegen verachteten vier von fünf jeschíwe-bóchern alles Nichtjüdische und wünschten dem Staate Israel die Platze an den Hals. Sie warteten auf das im Talmud verheißene einzige Erez Israel, wo nur selbstgefällige Frömmigkeit und das Wort des Allerhöchsten galt, dessen Namen Adonai sie nur bedeckten Hauptes und im feierlichen Gebet aussprechen. Ansonsten nennen sie ihn Adoshem, jener, der die Welt wieder zusammenfügt. Für Moshe Meirowitz war die Welt aus den Fugen, seit sein Weib Rivka kurz nach Pessach bei einer Gallenoperation verstorben war. Der Arzt sagte, das Herz habe während der Anästhesie plötzlich zu flimmern begonnen, dann sei es wie ein abgelegter Kaftan in sich zusammengefallen. Wie eine Nadel ohne Faden ging er seither durch das Gewebe der Zeit. Das Dasein war ihm ein gehinnom, ein finsterer mit schwefligem Feuer erfüllter Ort, wie die Thermen von Pozzuoli. Ein Unglück zieht das andere an, heißt es, doch er, Moshe Meirowitz, war kein jekke, den das Tragen von Trauerpailletten kleidete. Er war ein gläubiger Mann, dem Glück und Unglück als zwei Seiten derselben Münze gleich viel wert waren. Mit keiner Seite konnte man sich die Gunst des Allmächtigen erkaufen, predigte er seinen Schülern, nur durch die Summe seines mentschseins. Fromme oder falsche Worte zahlen keinen Zoll fürs Paradies, wenn der Gebende kein fólksmentsch, sondern ein luftmentsch ist. Moshe Meirowitz brauchte lange, um zu verstehen, dass in ihm zwei Extreme wüteten, die ihn mal in die Luft, mal in den Boden stießen. Als hätte der bei der Geburt gestorbene Zwillingsbruder Mendel sich seiner Existenz halb bemächtigt, und seitdem rangen sie unversöhnlich wie Jakob und Esau um das Meirowitz’sche Erbe. Nur das Mittel Fluotexin verhinderte das Auf und Ab seiner meschugáß und dass er völlig den Verstand verlor. Doch wer war er noch in seiner Zerrissenheit? Ein nébesch, der hell und dunkel nicht unterscheiden kann und im Kunstlicht ewigen Frohsinns dahindämmert wie der Schauspieler in einer Seifenoper. Lieber zehn Russen als einen Nebbich, sagte man in Litauen. Dort war er unter lauter meschugóim einer und von seinen Leuten gern gelitten, weil sie nicht viel zu lachen hatten. In der zivilisierten Welt wiegt der Mensch so viel wie seine Nützlichkeit. Schlägt er aus der Art und zeigt Auffälligkeiten, verabreicht man ihm chemische Zwangsjacken, und wenn das nicht hilft, Elektroschocks, dass er stumm wie ein Fisch und fromm wie ein Lamm wird. Wie ein geschächtetes Tier fühlte sich Moshe Meirowitz seit dem Tod seines Weibes. Die Zunge klebte ihm an den Zähnen, und die Schwermut war ihm ein dauerhafter Gast. Aber er war ein guter Rabbiner und sorgte sich mehr um seine Schäfchen in der jewschiwa als um sein Seelenheil. Würde er auch aus diesem Amt geschasst, könnte er nur noch als bedauernswerter almonéß bei Verwandten in Oostende auf sein Ende hoffen, das bei dem ungesunden Seeklima gewiss viel schneller käme, als ihm recht war. Denn Meirowitz hing an seinem verflixten Leben wie Samson an seinen Haaren. Adoshem würde ihm seine Welt schon wieder zusammenfügen, obschon ein jüdisches Sprichwort sagt: Die Welt in die Irre zu führen war für Satan allein zu schwer, deshalb hat er sich Rabbiner geholt, die ihm dabei halfen. Moshe Meirowitz nahm die Hände vom Gesicht und betrachtete sie wie eine Seite des Talmud. In beiden Handflächen war deutlich der Buchstabe M zu lesen, der sich aus Herz-, Schicksals-, Kopf- und Lebenslinie zusammensetzte. Die Herz- und Kopflinien waren besonders kräftig ausgeprägt. Ein Zeichen, dass er sich keine allzu großen Sorgen um seinen Gemütszustand zu machen brauchte. Die lang geschwungene Lebenslinie, stetig anschwellend wie ein Fluss von der Quelle bis zur Mündung, versprach ihm ein erfülltes und hohes Alter. Wäre da nicht die abrupte Verästelung im zweiten Drittel seiner Schicksalslinie, die sich erst am Handballen wieder zu einer Geraden vereinte, könnte er getrost der Dinge harren, die da kommen. Schmonzeß, sagte sich der Rabbiner, Chiromantie war keine Wissenschaft, sondern gemátrijeß, Kaffeesatzlesen für Kabbalistiker. Zu den Erbsenzählern unter den Talmudgelehrten hatte er ein gespanntes Verhältnis. Die Berechnung des Datums der Wiederkehr des Messias aus den Buchstaben der Tora schien ihm so sinnvoll wie Lottospielen mit System. Nein, er war kein Mystiker, eher ein macher und melócher, der seine Zeit nicht mit Albernheiten vergeudete. Meirowitz trat ans Fenster und schaute hinunter auf die Rykestraße. Die Bauarbeiten an der hydraulischen Sicherheitssperre vor der Synagoge waren abgeschlossen. Lange hatte er um Senatsmittel gekämpft, weil man die Gefahr von Anschlägen auf jüdische Einrichtungen nicht hoch genug einschätzte. Erst als deutsche Touristen durch eine Bombe in der Synagoge von Djerba starben, bekam er das Geld für die Fahrzeugsperre. Zwei Jahre dauerten die Arbeiten – das Ergebnis war, dass die versenkbaren Zylinder aus Chrom-Nickel-Stahl per Knopfdruck aus dem Boden fuhren, aber nicht wieder hinein. Jedes Mal wenn die Handwerker mit Lieferwagen in den Innenhof fuhren, hüpften die Beamten des Wachschutzes wie Rumpelstilzchen auf den Pollern herum. Beim Besuch des...