Ein Prenzlauer Berg Krimi
E-Book, Deutsch, 270 Seiten
ISBN: 978-3-8393-6127-6
Verlag: BeBra Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Berlin und seine Kieze - ob Neukölln, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg - Sie alle bieten in unserer Reihe "Kiezkrimis" eine spannende Kulisse, vor welcher die zum Teil kauzig-symphatischen Kommissare ermitteln. Lesen Sie doch mal rein: Thomas Knauf "Prenzlauer Berg Krimis", Krause und Winckelkopf "Friedrichshain Krimis" oder Christoph Spielbergs "Neuköllnkrimi"
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1
Eine halbe Stunde vor Mitternacht verließ Touré Kibala mit hunderten glücklichen Konzertbesuchern die Max-Schmeling-Halle. Auch er strahlte nach der dreistündigen Show, die Peter Gabriel wie immer mit der Anti-Apartheid-Hymne Biko beendet hatte. Wiegenden Schrittes ging Touré in Richtung Mauerpark. Obwohl es dort um die Zeit für Afrikaner nicht sicher war, wo war es das schon nachts in Berlin, wollte er lieber zu Fuß gehen als Samstagnacht auf der Schönhauser Allee mit besoffenen, bekifften oder normal bescheuerten Deutschen auf die letzte U-Bahn warten. Außerdem war er nicht der Einzige, der den Weg zur Bernauer Straße durch den Park nahm, nur der einzige Schwarze, so schien es ihm im matten Licht des Halbmondes, der wie eine zusammengefaltete Laterne am Himmel hing. Nachdem er ein gutes Stück gegangen war und dabei immer wieder leise »Biko, Biko, because Biko … the man is dead« vor sich hin sang, musste er pinkeln. Weit und breit kein Baum, kein Strauch, also entleerte er seine Blase auf der Wiese unterhalb des Cantian-Stadions. Er hatte die Hose noch nicht zugeknöpft, da hörte er hinter sich Stimmen. »Guck dir die Negersau an. Wagt es, in einen deutschen Park zu schiffen.« »Wo deutsche Kinder spielen und Deutsche sich sonnen.« »Müssen wir dem Affen wohl einen Knoten in den Schniepel machen …« »Damit er sich merkt, dass Neger hier nicht pissen dürfen.« Touré versuchte nicht, mit den beiden Jugendlichen zu diskutieren, er verließ sich auf seine schnellen Beine und rannte los. Hinter sich vernahm er das Getrappel von schweren Springerstiefeln, doch sie würden ihn nicht einholen und bald schlappmachen, denn Touré war Kenianer, Ausdauerlaufen war ihm quasi in die Wiege gelegt. Auf der Bernauer Straße konnte er in ein Taxi springen oder, wenn keins vorbeikam, ins Polizeirevier flüchten. Was er nur im äußersten Notfall tun würde, denn seine Aufenthaltsgenehmigung war seit einem Monat abgelaufen. Wäre ich bloß mit der U-Bahn gefahren, dachte Touré und drehte sich im Laufen nach seinen Verfolgern um. Dabei übersah er das Plastikband vor einer Baugrube und riss es im Fallen mit sich. Das fliehende Tier spürt keinen Schmerz, doch Touré schrie auf, als das Sprunggelenk seines linken Fußes brach. Er versuchte sich aufzurichten und hörte den kurzatmigen Gesang: »Häschen in der Grube, sahaß und schlief …« Einer der beiden Jugendlichen fuchtelte mit einem Butterflymesser vor seiner Nase herum. Der Afrikaner tastete mit den Händen in der Erde nach einem Stein oder Knüppel, um sich zu verteidigen, und stieß auf einen harten, länglichen, leicht gebogenen Gegenstand. Er zog ihn heraus und hielt ihn den Angreifern entgegen, erntete aber nur höhnisches Gelächter, als der Knochen knapp über seiner Faust brach. Touré grub weiter im Erdreich und förderte etwas Rundes hervor. Seine Angreifer ließen entsetzt von ihm ab, als er den Totenschädel hochhielt und etwas auf Suaheli rief, das wie ein böser Fluch klang. Der Kenianer hob den Kopf und blickte über den Rand der Baugrube. Seine Verfolger waren verschwunden. Er schaute auf den Totenschädel in seiner Hand und murmelte auf Französisch die Worte Hamlets, seiner Lieblingsrolle, die er vor Jahren in Paris bei Peter Brook gespielt hatte: »Sein oder nicht sein. Das ist hier die Frage … Sterben, schlafen, nichts weiter! Und zu wissen, dass ein Schlaf das Herzweh und die tausend Stöße endet.« Als er das erste Mal erwachte, war es noch dunkel. Er zog die Decke über den Kopf und dachte: Dieser Tag kann auch ohne mich auskommen. Zwei Stunden später kroch John Klein aus seinem Bett und fühlte sich wie der aufs Rad geflochtene Dieb auf dem Gemälde von Pieter Breughel. Das Bild passte weder in die Zeit noch gab es Auskunft darüber, wieso er diese Nacht wieder von Lea geträumt hatte. Seit zehn Jahren war seine Frau tot, seit zehn Jahren suchte sie ihn nachts heim, wenn er sich miserabel fühlte. Ging’s ihm gut, hielt sie sich fern, erschien nicht mal, wenn er ihren Namen rief. Typisch Frau. Sie mögen es nicht, dass der Mann zufrieden ist, weil sie es nie sind, am wenigstens mit sich selbst. Am Anfang ihrer Ehe kümmerte sie sich um ihn, wenn es ihm schlecht ging. Weil das öfter der Fall war, wurde sie misstrauisch, sobald er sich besser fühlte, und ließ nicht locker, bis der letzte Funke Selbstzufriedenheit in ihm erlosch. Sie mochte es nicht, wenn er Spaß an einem Vergnügen hatte, an dem sie nicht beteiligt war. Bis er nicht mehr wagte, von Vergnüglichem zu berichten, zumindest wenn dabei zufällig auch Frauen vorkamen. Mit und ohne ihre Eifersucht wäre es ihm nie eingefallen, fremdzugehen. Dazu war er zu beschäftigt, und er konnte die Frau, die er liebte, kein bisschen belügen. Sie hielt ihn trotzdem für einen Hallenser Schlingel, der ohne rot zu werden log, jedem Rock hinterherlief und zu Hause den Schoßhund gab. Einbildung ist eine Brille, die mehr sieht als da ist. Dass Lea eine schlechte Autofahrerin war, wusste er. Trotzdem ließ er sie allein in einem Gebrauchtwagen mit defekter Vorderachse Probe fahren und konnte sich bis heute nicht verzeihen, dass sie ohne ihn in den Tod raste. Deshalb war er zufrieden, dass sie nachts mit ihm Schlitten fuhr, und untröstlich, wenn sie es nicht tat. »Wir müssen raus und auf andere Gedanken kommen«, sagte John zu Seneca, seinem Border Collie, der mit einem Satz vom Bett sprang und ungeduldig an der Wohnungstür kratzte. Auf der Diedenhofer Straße morgens um neun kam John Klein sich vor wie in Ghost Town Berlin, der verlassenen Goldgräberstadt in Nevada. Die Gegend um den Wasserturm strotzte auch früher nicht vor Geschäftigkeit, doch seit die hippen, ökologisch bewussten Kleinstädter hier Einzug hielten, war Ruhe die erste Bürgerpflicht. Ihn störten die überängstlichen, dauergestressten, uncharmanten Mütter und Väter kaum, solange sie ihn und seinen Hund nicht anbellten. Kinderspielplätze mied Seneca, ging lieber im Pasternak und Gagarin ein und aus, um sich vom Küchenpersonal abspeisen zu lassen. Jeder im Kiez kannte den Vierbeiner, und niemand wunderte sich, dass er allein um die Ecken zog und die Straßen überquerte, ohne überfahren zu werden. Manchmal fühlte ein Oberlehrer aus der deutschen Provinz sich provoziert und pochte lautstark auf Leinenzwang, der in der Hauptstadt Vorschrift war, aber von den meisten Hundehaltern ignoriert und von der Polizei selten als Vergehen geahndet wurde. Auf der Kollwitzstraße überlegte John, ob er nicht umkehren und den Rest des Tages im Bett verbringen sollte. An seinen Beinen hingen schwere Gewichte, und im Kopf hörte er noch den Crash scheppern, den er mit Lea im Traum übererlebt hatte. So sehr er sich bemühte, es gelang ihm nicht, den Vorhang zwischen Traum und Wirklichkeit herunterzulassen. Sein Cortex nahm die Außenwelt wahr, schickte die Sinnesreize aber nicht ans Kleinhirn und schaute zu, wie das limbische System mit sich selbst spielte – eine Matrjoschka, in deren Innerem lauter kleine Matrjoschkas verborgen waren. Traum in einem anderen Traum, zog die Realität vorbei, und es hätte ihn nicht überrascht, wenn vorm Restaurant Gugelhof Leas Opel Vectra parken und Kohlen-Kutte auf seinem klapprigen Pferdewagen über die Kollwitzstraße zuckeln würde. Die City-Toilette gegenüber schien auch kein Beweis, dass er nicht träumte, seit er eine Person hineingehen sah und, als die Toilette nach fünf Minuten automatisch aufging, niemand herauskam. John hätte es als Sinnestrübung wegen Alkohols abgetan, hätten nicht andere dasselbe berichtet. Obwohl der Detektiv im nüchternen Zustand dem Realitätsprinzip vertraute, wusste er, dass auf dünnem Eis wandelt, wer ein Gewichtsproblem hat und zu viel darüber nachdenkt, warum Dinge verschwinden und nie mehr auftauchen, oder plötzlich auftauchen, nachdem sie für immer verschwunden schienen. Heute war so ein Tag, der alles möglich machte, auch das Unmögliche. Darum bog er an der Kulturbrauerei links und nicht wie sonst rechts in die Sredzkistraße ab, um beim Kollwitz-Bäcker seinen Morgenkaffee zu nehmen, wo jeden Tag der Film Und täglich grüßt das Murmeltier ablief mit den immer selben Leuten und immer selben Gesprächen. Sein Ziel war der Mauerpark. Der letzte Ort in Prenzlauer Berg, der zwischen Trümmerlandschaft und Townhouses ein gemeinsames Berlingefühl erzeugt. Die Gegend zwischen Bornholmer und Bernauer Straße auf Höhe Gleimtunnel und Cantian-Stadion war achtundzwanzig Jahre lang eine No-Go-Area aus Beton, Stacheldraht und Flutlicht gewesen, in der nur Grenzer und Lebensmüde herumspazierten. Nach dem Fall der Mauer und ihrer rasanten Demontage wurde das ehemalige Bahngelände zur Must-Go-Area mit Trödelmarkt, Karaoke-Show, Hundeauslaufgebiet. Normalerweise scheute er den Ort sonntags wegen zu starken Befalls von homo sapiens sapiens. Doch John war eingefallen, dass sein Partner morgen Geburtstag hatte und sich eine Platte von Zarah...