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E-Book

E-Book, Deutsch, 318 Seiten

Kluger Die Gehilfin

Roman

E-Book, Deutsch, 318 Seiten

ISBN: 978-3-8321-8667-8
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Berlin im Taumel der Gründerzeit: In der Frauenabteilung der Charité kommt ein Kind zur Welt, die Mutter stirbt bei der Geburt. Henrietta Mahlow wächst bei ihrem trunksüchtigen Vater auf, der sich in der Klinik als Krankenwärter durchschlägt. An seiner Seite verbringt das neugierige Mädchen ihre Kindertage zwischen Präparaten und Reagenzgläsern.
Hier in der Charité, dem Zentrum der medizinischen Welt, versammeln sich in diesen Jahren die großen Forscher: Rudolf Virchow, Robert Koch, Paul Ehrlich, Emil Behring – und wie selbstverständlich bewegt sich die aufgeweckte Henrietta zwischen ihnen. In den Sezierstuben und Labors wird sie zur Zeugin, wie die Entdeckung des Tuberkulose-Erregers die Vorstellungen von Krankheit revolutioniert. Je deutlicher jedoch Henriettas eigene Begabung wird, desto unüberwindlicher stellen sich die Schranken von Herkunft und Geschlecht in ihren Weg. Sie nimmt in Männerkleidern ein Medizinstudium auf – es kommt zum Skandal. So nimmt Henrietta als Frau den Kampf auf, sich in der Männerdomäne der Wissenschaft zu behaupten.
Spannend und anrührend erzählt ›Die Gehilfin‹ die fiktive Lebens- und Liebesgeschichte einer außergewöhnlichen Frau, einer »Olivia Twist«, die das Unmögliche versucht. Dabei entwirft Martin Klugers lebensvoller Roman ein Panorama vom goldenen Zeitalter der Medizin zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik – und zeigt auch die Schattenseiten des menschlichen Forscherdrangs.
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1 Darf ich diese Tür öffnen? Henriettas Vater war Tischler, er besaß eine eigene kleine Werkstatt in der Langen Straße. Kein glücklicher Name für eine Straße, meinte er, sie ist am Ende so lang, daß kein Kunde zu mir findet. Doch die Leute wollten seine Stühle und Schränke, und besonders seine Tische, denn er stand in dem Ruf, einen Tisch für jeden Gebrauch und jeden Geschmack binnen eines Tages und einer Nacht anzufertigen. Warum warten?, dachten die Leute, wenn es in der Langen Straße so fix geht und auch nicht mehr kostet als bei Tischlern in kürzeren Straßen. Paul mußte sich gar nicht groß anstrengen, seine Hände arbeiteten wie von allein, und er sang dabei: ›Ist dein Herz noch ledig, schick es nach Venedig.‹ Sein Herz war aber nicht ledig, es gehörte Luise, der Zigeunerin aus dem Havelland. Luise war keine echte Zigeunerin, für so eine hätte Paul Mahlow auch keine Verwendung gehabt, aber sie hatte schwarze Augen und gekräuseltes schwarzes Haar, in dem sie rote und gelbe Bänder trug, und war von ihrer Familie verstoßen worden, wegen Träumerei, fortwährendem Singen und Aufmüpfigkeit. Der Dorfschullehrer hatte ihr schwiemelige Augen gemacht, und sie hatte ihn mit einem Buch erschlagen, wovon er nur allmählich genesen wollte, er fühlte sich in seiner Ehre gekränkt, Bücher waren ihm heilig. Luise wanderte also los und war tagelang von Wiesen und Nebel umgeben, bis sie irgendwann am Horizont das Häusermeer der Stadt sah. Auch wer das Meer noch nie gesehen hat und gar nichts davon weiß, verspürt Sehnsucht danach, will hin und hinein und nie mehr hinaus. Luise ernährte sich ihren Hals als Korbmachergehilfin, aber der Korbmacher war unmusikalisch und setzte sie bald auf die Straße. Sie fand Arbeit als Bedienung in einer Eßhalle, da ging es so lärmend zu, daß ihre Lieder gar nicht gehört wurden und man sie in Ruhe ließ. Und in jeder freien Minute sang Luise mit den Leierkastenmännern in den Höfen und auf den Brücken, aus reiner Freude am Singen, was eigentlich verboten war, denn zum öffentlichen Singen brauchte man Lizenz vom Amt. Ein Blauer wollte sie an der Jannowitzbrücke in Gewahrsam nehmen, Luise riß sich los, glitt auf den regennassen Bohlen der Brücke aus und wäre um ein Haar von einem Pferdekarren überrollt worden, der eine Ladung Holz in die Lange Straße lieferte, vielleicht geradewegs zu Paul, aber das konnte sie nicht wissen, niemand weiß das. Eines Wintermorgens schaute Paul von seiner Arbeit auf und sah die singende Luise im stockdunklen, verschneiten Hof der Werkstatt. Sie sang ›Ist dein Herz noch ledig, schick es nach Venedig‹, und Pauls lediges Herz machte sich postwendend auf den Weg zu ihr. Zwar hatte Paul seiner Mutter auf dem Sterbebett versprechen müssen, nie eine Rothaarige oder Schwarzhaarige zu heiraten oder, schlimmer noch, eine rothaarige oder schwarzhaarige Katholische, denn sie waren alle falsche Katzen, doch er konnte sein Herz nicht mehr aufhalten, es war schon unterwegs. Paul und Luise gehen im Tiergarten spazieren, es ist Sonntag, Paul trägt Hut, den er lüftet und schwenkt, als der Kaiser mit seinen Kindern in der kaiserlichen Schlittenkutsche vorbeifährt, der Schnee fällt von den Bäumen, und Schnee bleibt an Luises Wimpern hängen. Schon den ganzen Nachmittag sucht Paul einen Baum, hinter dem er Luise vielleicht küssen könnte, jetzt ist, dem Kaiser sei Dank, ein Notfall eingetreten. Paul zieht Luise hinter einen Ahornbaum und haucht ihre Wimpern an, die Schneekrumen schmelzen und rutschen ihre Wangen hinab, es ist nicht weit zu ihrem Mund. Vor dem ersten Kuß sagt Luise: Das wußte ich. Paul versteht nicht, wie sie etwas wissen kann, bevor es geschieht. Luise dreht und wendet einen Tannzapfen im letzten Licht des Tages, schau doch mal, es sind hundert kleine Tische. Paul sieht keine Tische an dem Zapfen. Hundert kleine Dächer, hundert kleine Dachziegel, hundert Schuhlöffel. Alles, was wir für neu halten und heutig, ist vielleicht immer schon dagewesen, sagt Luise, auch wir beide, es mischt sich, aber es ist immer das gleiche. Das sind ihre überkandidelten Gedanken, und Paul läßt sie ihr, so sind Frauen eben, sie müssen geheiratet werden. Weil ihre Familie sie verstoßen hat, bringt Luise keine Aussteuer in die Ehe, dafür hat sie ein süßes Geheimnis. Als frisch Vermählte lassen sich Paul und Luise im Atelier Noack vor einem römischen Panorama photographieren, auf der Photographie ist das süße Geheimnis noch nicht zu sehen. Paul, der in seiner Werkstatt unter der Hobelbank geschlafen hat, übernimmt die Wohnung der säumigen Zahler über der Werkstatt, zwei Zimmer und ein halbes, die säumigen Zahler ziehen ihren Karren durch den Regenmatsch der Langen Straße, irgendwann sind sie nur noch kleine Flecken am Horizont. Paul hat ihnen zwei Zuckerstangen gegeben, für einen Spiegel mit Entenornamenten. Paul zimmert Tisch, Spind, Schrank, Stühle und Bettstelle aus Mahagoni und eine Wiege aus Birke, er schnitzt einen Spielmann der Gardeinfanterie für seinen ersten Sohn, den er Wilhelm nennen will, aus Dankbarkeit für den Schnee und dafür, daß der Kaiser ihn nicht zum Krieg bestellt hat. Der nächste wird dann Paul heißen. Luise fegt singend die Späne zusammen, kocht, wäscht und schaut ihrem Mann aus den Augenwinkeln bei der Arbeit zu. Eines Nachts, als er von welkem Laub begleitet aus der Kutscherkneipe geweht kommt, überrascht sie ihn mit technischen Zeichnungen. Sie hat seine Handgriffe und Arbeitsschritte aus dem Kopf aufgezeichnet und numeriert. Sie hat eine Idee, wie Paul seine Kunst des Tischemachens verbessern, die Natur des Holzes wirksamer nutzen kann. Es ist alles im Holz, es ist alles schon da, du mußt es dir nur nutzbar machen, sagt sie. Paul ist müde und gereizt, in der Kneipe hat er beim Würfeln verloren, die Würfelaugen verfolgen ihn, ihm wird ganz schwindelig, als Luise ihm nun auch noch mit Zahlen kommt und vorschlägt, er möge den sechsten vor dem fünften Schritt machen. Paul zerreißt die Zeichnungen, sie streiten, Luise klaubt die Papierschnipsel vom Fußboden, Paul sperrt Luise aus, soll das Weibsbild im Hof beim Köter schlafen. Luise legt sich neben den Kettenhund, der sie aus Augenschlitzen beobachtet. Weihnachten soll Wilhelm auf die Welt kommen, aber er will noch nicht, und Paul lädt die Hebamme zu Nüssen und Wein ein. Neujahr ist sie wieder da und läßt Paul und Luise wieder mit einer leeren Wiege zurück. Als Paul sie fünf Tage später holen will, weil Luise vor Schmerzen nicht aufhört zu schreien und ihr Gesicht blau anläuft, ist die Hebamme zu einer anderen Geburt unterwegs. Die Hebamme der Großen Frankfurter Straße ist unbekannt verzogen, ihre Nachbarn munkeln, sie erwarte selbst ein Kind, von unbekanntem Vater. Paul eilt zurück in die Lange Straße, spannt ein geliehenes Pferd und Wagen an und bringt die schreiende Luise in die Königliche Charité. Dort steht er nur im Weg, also geht er in die nächste Kneipe. Seine Havelländerin mit den wilden Augen und den überkandidelten Ideen wird das schon schaffen. Die nächste Kneipe heißt Zum Siechen, hier stemmen Kranke und Medizinstudenten brüderlich vereint die Biere und singen im Chor: ›Das ist der Doktor Dieffenbach, der Doktor der Doktoren, er schneidet Arm und Beine ab, macht neue Nas und Ohren‹. Die Stimmung aus Todesnähe, Trotz und Traum ist ansteckend, es wird spät und später. Ein Bursche des Stabsarztes muß Paul aus der Kneipe holen, auf der Frauenabteilung kommen ihnen der junge dujour-Arzt und eine Diakonisse entgegen. ›Gestatten, von Leyden‹, sagt der junge Arzt, ›sie ist tot. Beileid.‹ ›Sie lebt‹, sagt die Diakonisse Mariechen Baltuttis, deren Oberlippe ein Milchbärtchen ziert, ›Glückwunsch.‹ Die Diakonisse öffnet ein Fenster. Die Nacht ist eiskalt und schwarzweiß, kein Sternbild ist zu sehen. Im Schein der Blendlaterne und im Zustand der Biertrance nimmt Paul Abschied. Was kann ich tun, mein Herz, ich konnte nichts tun. Luises toter Mund ist weit aufgerissen. So kann Paul ihr nicht den letzten Kuß geben. Doktor von Leyden versucht, Luises Lippen zu schließen, es ist nicht leicht, schließlich muß er den Mund mit einem Riemen zubinden. Aber das Kind lebte. Luises süßes Geheimnis, ihre letzte überkandidelte Idee bestand darin, daß es ein Mädchen war. Was nun, fragte Paul das Bierglas, das ihm ein Medizinstudent im Siechen unter die gerötete Nase gestellt hatte, was sollte er mit dem Wurm, ohne Frau? Der Medizinstudent, der Pauls Schmerz auf Pauls Rechnung teilte, verschaffte für eine Summe Geldes dem Wurm eine Amme auf der Frauenabteilung der Charité, es war die Herzogin von Polen oder Italien, jedenfalls eine hochgestellte Ausländerin oder ausländische Hochstaplerin, die unter falschem Namen ihr Kind geboren hatte und nur eines einzigen deutschen Wortes mächtig war: warum? Es half nichts, irgendwann mußte Paul von seinem Tisch im Siechen aufstehen, wo man sich so rührend um ihn kümmerte und die Siechen ihre traurigen, trotzigen Geschichten erzählten, und unter den schneebeladenen, erinnerungsbeladenen Bäumen zum Amt laufen, das Wurm zu melden. An der Jannowitzbrücke schreckte ihn ein Affe aus seinen Gedanken an frühere Tage. Der Affe sprang von Passant zu Passant, erst jetzt bemerkte Paul, daß es ein Kind im Affenkostüm war, es wollte die Leute animieren, einen kleinen Jahrmarkt zu besuchen, der die Feiertage überdauert hatte. In einem verluderten Höllenloch zwischen zwei rußigen Häusern drehte sich im trüben Licht einer Gasfunzel das leere Pferdchenkarussell, die Bude bot bröcklige Brezeln und Zuckerwerk an, das löchrige Zelt verhieß eine Begegnung mit den heiligen drei Königen aus dem Morgenland, ein Pierrot...


Kluger, Martin
Martin Kluger wurde 1948 in Berlin geboren. Er arbeitete als Übersetzer (u.a. Malcolm Lowry, Donald Barthelme, Iris Murdoch, Aharon Appelfeld) und schrieb Drehbücher für Film und Fernsehen. Bei DuMont erschienen der Erzählungsband ›Der Koch, der nicht ganz richtig war‹ (2006) sowie seine Romane ›Abwesende Tiere‹ (2002) und ›Die Gehilfin‹ (2006). Martin Kluger wurde 2008 mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet sowie mit dem Candide-Preis der Stadt Minden. Er starb 2021 im Alter von 73 Jahren.


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