Führung, Organisation, Planung und Steuerung
E-Book, Deutsch, 446 Seiten
ISBN: 978-3-95466-545-7
Verlag: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Anforderungen an Leitungspersonal in der Intensivmedizin reduzieren sich nicht mehr auf eine optimale Patientenversorgung. Gutes Management in der Intensivmedizin erfordert auch ein breites Spektrum an Führungskompetenzen, betriebswirtschaftliches Wissen und nicht zuletzt das optimale Planen und Steuern der häufig knappen Ressourcen Personal, Raum, Zeit und Finanzmittel.
Zielgruppe
Leitungs- und Führungspersonal in der Intensivmedizin aus Medizin, Pflege und Management; Chefärzte, Oberärzte und leitende Pflegekräfte; Verwaltungsdirektoren, Managementebene, Führungskräfte im technischen Bereich (Funktionsdienste) im Krankenhaus
Autoren/Hrsg.
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I
Intensivmedizin im Kontext von Gesellschaft und Gesundheitsversorgung
1Die Intensivmedizin im Unternehmen Krankenhaus: Strategie im Kontext von Ökonomie und Versorgungsmanagement
Jürgen Graf und Jürgen Hinkelmann 1.1 Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens
Die jährlichen Gesundheitsausgaben in Deutschland betragen ca. 350 Mrd. EUR. Die Krankenhäuser sind einer der wichtigsten Teilbereiche der Gesundheitswirtschaft mit etwa 20% der Gesamtwertschöpfung. Es sind hier ca. 1,16 Millionen Erwerbstätige der verschiedenen Berufsgruppen beschäftigt, in der gesamten Gesundheitswirtschaft sind es ca. 7 Millionen Erwerbstätige (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2017). In den letzten 25 Jahren hat es erhebliche Änderungen wichtiger Krankenhausindikatoren in Deutschland gegeben. Das Refinanzierungssystem wurde von den tagegleichen Pflegesätzen im Jahr 2003 auf ein Fallpauschalsystem (DRG-System) umgestellt. Seit 2005, also zwei Jahre nach der Einführung des DRG-Systems in Deutschland, veränderten sich im Wesentlichen zwei Parameter: die stationäre Fallzahl stieg kontinuierlich bis zuletzt auf 19,5 Millionen Fälle pro Jahr, bei gleichzeitiger Senkung der durchschnittlichen stationären Verweildauer (Statistisches Bundesamt 2017). Analog angestiegen ist im gleichen Zeitraum die Zahl der im Krankenhaus beschäftigten Ärztinnen und Ärzte, wohingegen die Anzahl der Pflegekräfte insbesondere zwischen 2003 und 2007 um ca. 10% im Vergleich zum Bezugspunkt im Jahr 2003 gesunken ist. Seit 2008 ist ein leichter Anstieg der Anzahl der Pflegekräfte zu verzeichnen, ohne, dass das Niveau von 2003 wieder erreicht worden wäre (Bertelsmann Stiftung 2017). Einem durch mehr behandelte Fälle entstandenen personellen Ressourcenbedarf wurde offensichtlich auf ärztlicher Seite durch einen Stellenzuwachs Rechnung getragen, wohingegen im Bereich der Pflegekräfte kein analoger Zuwachs zu verzeichnen war. Im Gegenteil, zeitweise wurde die Zahl der Pflegekräfte sogar reduziert. Bei gleicher Bettenzahl, Bettenauslastung und konstanten Berechnungs- bzw. Belegungstagen wurde die Fallzahlsteigerung infrastrukturell über die Senkung der Verweildauer kompensiert. Die finanzielle Lage der Krankenhäuser in Deutschland ist trotz steigender Umsätze und teilweise positiver Jahresergebnisse kritisch: dem jährlich bestehenden Investitionsbedarf von ca. 5,4 Mrd. Euro (ohne Universitätsklinika) steht keine adäquate Kapitalausstattung der Krankenhäuser gegenüber. Trotz Fördermittel der Länder in 2015 in Höhe von ca. 2,8 Mrd. Euro verbleibt eine Finanzierungslücke von 2,6 Mrd. Euro – bei Berücksichtigung des vor- und fortbestehendem Investitionsstau sogar noch deutlich darüber (Augurzky et al. 2017). Gesellschaftspolitisch wird die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Handelns in der Gesundheitsversorgung und insbesondere in den Krankenhäusern angemahnt, strukturpolitisch aber z.B. zur Schließung ineffizienter oder sogar überflüssiger Strukturen kein Beitrag geleistet. Jüngst wurde in Osthessen ein kleines Herzzentrum zum zweiten Mal nach 2001 vor der Insolvenz gerettet – unter tatkräftiger bundes- und landespolitischer Beteiligung (Hessen-Nassauische Allgemeine vom 25.10.2016; Hersfelder Zeitung vom 26.10.2016). Ein Mangel an kardiochirurgischer Versorgung ist in Deutschland und in Hessen nicht erkennbar. Der Mangel an Fachkräften im ärztlichen und nicht-ärztlichen Bereich wird schon seit vielen Jahren als eine der größten Herausforderungen im Rahmen von prognostischen Betrachtungen für die Jahre 2020 und 2030 angesehen. Der prognostizierte Mangel an Pflegekräften und Ärzten im stationären Sektor geht hierbei in die Zehntausende (PricewaterhouseCoopers AG 2010). Die weiteren Entwicklungen des stationären Gesundheitswesen werden wesentlich von der Qualifikation und Anzahl der pflegerischen, ärztlichen und anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abhängen. 1.2 Krankenhaus und Intensivmedizin
Im direkten Vergleich mit anderen Einrichtungen oder Fachabteilungen in Krankenhäusern besitzt die Intensivmedizin eine Reihe von besonderen Merkmalen, die aus struktureller, organisatorischer und strategischer Sicht von Bedeutung sind: Intensivmedizin ist isoliert nicht handlungsfähig. Die Intensivmedizin kann nur im Kontext eines Krankenhauses und seiner vielfältigen diagnostischen und therapeutischen Aufgaben und Möglichkeiten realisiert werden (Angus u. Carlet 2003). Auch in Bezug auf die ärztliche Weiterbildung ist die Intensivmedizin als Zusatzweiterbildung angewiesen auf eine zuvor erfolgte Facharztausbildung, häufig in der Inneren Medizin, Anästhesie, Chirurgie, Neurologie oder Pädiatrie. Eigenständige Kliniken für Intensivmedizin sind in Deutschland selten. Intensivmedizin besitzt kein „ambulantes Substitutionspotenzial“. Intensivmedizinische Patienten sind (gegenwärtig noch regelhaft) auf eine stationäre Versorgung angewiesen – auch in Gesundheitswesen mit deutlich höherer Ambulantisierungsquote als bei uns, wie z.B. in den Niederlanden. Lediglich in sog. Weaning-Zentren (Beatmungs-Entwöhnungskliniken) ist – oft im Kontext von Rehabilitationseinrichtungen mit v.a. neurologischem Behandlungsspektrum – eine intensivmedizinische Betreuung außerhalb von „klassischen“ Krankenhäusern oder auch zu Hause gelegentlich anzutreffen. Intensivmedizin ist (häufig) nicht planbar. Mit Ausnahme einiger operativer Eingriffe insbesondere im Bereich der Herzchirurgie, Thorax- und Aortenchirurgie sowie der intrakraniellen Neurochirurgie und Leberchirurgie erfolgen intensivmedizinische Aufnahmen überwiegend nicht elektiv und damit ungeplant. Intensivmedizinische Behandlungsverläufe sind überdies in Dauer und Ressourcenbedarf sehr unterschiedlich. Nicht planbare Leistungserbringung mit hohem Fixkostenanteil bergen im fallpauschalierten Refinanzierungswesen grundsätzlich wirtschaftliche Risiken. Intensivmedizin ist 24/7 und bindet qualifiziertes Personal. Die Intensivmedizin muss per definitionem für die betreuten Patienten immer, d.h. „rund um die Uhr“ verfügbar sein. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heißt dies zum weit überwiegenden Teil Wechsel- bzw. Schichtdienst mit nicht selten einer Beeinträchtigung der Freizeit an drei von vier Wochenenden im Monat. Es gelten für einige Erkrankungen und spezifische Erlösziffern seitens des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), Zertifizierungen oder andere Strukturvorgaben in Bezug auf die Qualifikation und/oder die Anzahl des ärztlichen und pflegerischen Personals auf Intensivstationen (Deutsches Krankenhausinstitut e.V. 2017). Zudem werden Aufwandsdaten (sog. Scores) für die Erstattungsfähigkeit bestimmter Leistungen zugrunde gelegt. Teilweise treffen die genannten Aspekte naturgemäß auch für andere Fachgebiete bzw. Einrichtungen innerhalb von Krankenhäusern zu – dann sind entsprechend auch die strategischen Ableitungen vergleichbar. In der Summe der für eine strategische Ausrichtung zu berücksichtigenden Kriterien am nächsten kommen in Deutschland der Intensivmedizin noch die Notfallmedizin bzw. die Notaufnahmen in sog. maximalversorgenden Krankenhäusern und innerhalb der Universitätsmedizin. Laut Statistischem Bundesamt gab es in Deutschland im Jahr 2016 insgesamt 1.951 Krankenhäuser, in diesen wurden 1.607 Intensivstationen betrieben, wobei von diesen 1.156 Krankenhäuser Betten zur intensivmedizinischen Versorgung vorhielten und 409 Krankenhäuser eine organisatorisch abgrenzbare Fachabteilung Intensivmedizin auswiesen (Statistisches Bundesamt 2017). Von 27.441 intensivmedizinischen Betten (5,5% aller Krankenhausbetten in Deutschland) befanden sich 8.375 (31%) innerhalb einer Fachabteilung Intensivmedizin. Intensivmedizinisch behandelt wurden 2.154.152 Fälle (11% aller 19,5 Mio. stationärer Fälle) mit einer arithmetischen mittleren Liegedauer auf der Intensivstation von 3,74 Tagen. Von den intensivmedizinisch behandelten Patienten wurden 30% aller Belegungstage innerhalb einer Fachabteilung für Intensivmedizin registriert. 26,3% aller intensivmedizinischen Behandlungsfälle wurden beatmet. Der Anteil beatmeter Behandlungsfälle war in Fachabteilungen für Intensivmedizin mit 33,5% der Fälle (versus 21%) höher (Statistisches Bundesamt 2017). Kontextrelevante Daten der einzelnen Intensivstationen waren bzw. sind nicht verfügbar, Details zur Struktur- oder Ergebnisqualität der deutschen Intensivmedizin insgesamt werden nicht ausgewiesen. Im internationalen Vergleich ist festzustellen, dass die Anzahl an intensivmedizinischen Betten pro 100.000 Einwohner in Deutschland – neben Belgien, Kroatien und den USA – mit über 20 Intensivbetten mehr als viermal so hoch ist wie in Neuseeland, China, Südafrika und Großbritannien mit fünf oder weniger Intensivbetten pro 100.000 Einwohnern (Adhikari et al. 2010). Dies hat ganz offensichtlich einen relevanten Einfluss auf die Nutzung dieser Ressource (Murthy u. Wunsch 2012). 1.3 Intensivmedizin: Ökonomie und Allokation – Ökonomie der Allokation
Ökonomisch ist die Intensivmedizin ebenfalls nur sehr eingeschränkt losgelöst von den Gesamtstrukturen des Krankenhauses zu betrachten. Für viele...