Wege aus der doppelten Überbevölkerung
E-Book, Deutsch, 360 Seiten
ISBN: 978-3-89684-584-9
Verlag: Edition Einwurf GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Unsere Welt ist in doppeltem Sinne überbevölkert, analysiert der Demografie-Experte Reiner Klingholz. In den reichen Ländern verbrauchen wir zu viele Rohstoffe, in den armen Teilen der Welt leben zu viele Menschen im Elend. Doch Klingholz bleibt nicht bei der Analyse stehen: Er entwickelt Szenarien und stellt konkrete Maßnahmen vor, wie wir dieser doppelten Überbevölkerung erfolgreich begegnen können. Dabei appelliert er gleichermaßen an uns als politische Menschen wie auch als Konsumenten. Wenn wir endlich beginnen, zukunftsorientierter zu handeln, ist nicht nur genug für alle da, sondern wir erreichen sogar das Klimaziel für 2050.
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KAPITEL 1 Die doppelte Überbevölkerung Zwischen Bonga und Bielefeld Die 28-köpfige Großfamilie lebt irgendwo im Waldgebiet nördlich der Straße von Bonga nach Mizan Teferi in Äthiopiens Südwesten. Kaffa heißt die Gegend, sie war einst ein unabhängiges Königreich und von dort stammt der Kaffee. Nur in den Hochland-Regenwäldern Äthiopiens stand einst die wild wachsende Pflanze des Coffea arabica, bis arabische Händler im 11. Jahrhundert auf sie aufmerksam wurden und ein paar Exemplare in den heutigen Jemen entführten, um sie dort in bewässerten Gärten zu kultivieren. Sie bauten ein Monopol für Kaffee auf, exportierten das kostbare Handelsgut über den Hafen von Mokka und wurden steinreich. Ein früher Akt der Biopiraterie. Später kamen die Holländer, klauten ein paar Pflanzen aus den jemenitischen Kaffeegärten und brachten sie in ihre Kolonie nach Indonesien. Von dort aus ging die Reise weiter. Jeder einzelne Kaffeebusch auf sämtlichen Arabica-Plantagen der Welt ist letztlich ein Abkömmling der entführten Urpflanzen aus dem Kaffa-Hochland, wo sich einst dichter Wald ausdehnte. Heute ist der Forst ein Flickenteppich. Die Bevölkerung wächst rasch und sie hat seit Jahrzehnten Säge und Feuer an die Bäume angelegt. Die äthiopische Regierung hat nach Dürren und Hungersnöten im Norden und Osten des Landes immer wieder Tausende Familien in die fruchtbaren Hochlandgebiete im Südwesten umgesiedelt. Die Zuzügler kamen aus Trockenzonen und Wald war ihnen fremd. Also weg damit und Platz schaffen für Mais und Hirse. Heute stehen noch ein paar Prozent des einstigen Grüns, das ein Paradies sein könnte, mit regelmäßigen Niederschlägen und angenehmem Klima trotz Äquatornähe. Tesfaye aus Kaffa In dem verloren gegangenen Paradies hat sich Tesfaye mit seiner Familie niedergelassen: ein Mann, drei Frauen, 24 Kinder. Ungefähr. So genau kann Tesfaye seine Nachkommen nicht auflisten. Das jüngste Kind ist ein paar Monate alt, das älteste 14 Jahre. Viel Zeit zwischen den Schwangerschaften blieb den Frauen nicht. Sie sind nicht älter als 30 Jahre. Die Kinder sind in schmutzige Tücher gehüllt, stecken in zerschlissenen T-Shirts, eines hat sich einen rosa-schwarzen Ski-Anorak mit Kunstfellkapuze übergeworfen, den vermutlich einmal ein europäisches Kind eine Wintersaison lang getragen hat. Jede der Frauen lebt mit ihren Kindern in einer Hütte, aus dicken Ästen und Bambusstangen grob zusammengezimmert, mit Stroh gedeckt. Diese bietet einen einzigen Raum, ohne Bett und irgendein Möbelstück. Geschlafen wird auf dem nackten Erdboden oder ein paar schmutzigen Bastmatten. Kein Stromanschluss, keine Wasserleitung. In der Ecke brennt ein Holzfeuer, hüllt den einzigen Raum in beißenden Qualm und hält die Mücken fern. Immerhin. Ein paar der Mädchen schleppen Wasser in Plastikeimern aus dem einige Kilometer entfernten Bach heran, danach geht es zum Brennholzsammeln. Keines der Kinder lacht oder tobt herum. Hühner scharren zwischen den Bananenstauden. Auf einer abgebrannten Fläche hinter den Hütten wachsen ein paar Maispflanzen, Hirse, Bohnen, Kartoffeln. Die Menschen bekommen das, was die Schädlinge ihnen übrig lassen. Viel bleibt nicht für die Kinder, sie sind schmal und klein für ihr Alter, einige haben aufgeblähte Bäuche. Geld spielt praktisch keine Rolle im Leben von Tesfaye, denn er hätte kaum etwas, was er verkaufen könnte. Manchmal bringt er etwas Mais in die nächste Stadt, verdient ein paar Birr und kann dann vielleicht ein Stück Seife oder eine Flasche Öl zum Kochen mitbringen. Tesfaye hat nie eine Schule besucht, er hatte nie einen Job, höchstens mal als Tagelöhner. Er und die Seinen sind notgedrungen Selbstversorger, sie autark zu nennen, wäre zynisch. Sie leben mehr schlecht als recht von dem, was das Stückchen Land hergibt, das sie bewirtschaften. Sie kommen eben so durch. Sie fahren kein Auto, haben nie ein Flugzeug aus der Nähe gesehen, kennen keinen Supermarkt und verfügen weder über Radio noch Laptop. Ihnen fehlen die Mittel, größeren Schaden anzurichten. Ihre Treibhausgasbilanz ist praktisch null. Ökologischer Fußabdruck dito. Würden alle Menschen auf der Welt so leben, gäbe es keinen menschengemachten Klimawandel, keine havarierten Öltanker, keine internationalen Müllexporte, keine Plastikstrudel in den Ozeanen. Aber ist diese Bilanz korrekt? Schon die Generation von Tesfayes Kindern kann dieses Leben nicht mehr führen. Dazu fehlt das Land, um sie und ihre Familien zu ernähren. Sie sitzen in der Falle der armen Subsistenzbauern. Sie haben kaum genug zum Leben, sind aber reich an Kindern. Für sie bedeutet Kinderreichtum Armut – und umgekehrt. Sie haben nicht das Wissen, produktiver zu wirtschaften, kein Kapital, um sich gutes Saatgut oder gar eine einfache Landmaschine zu kaufen. Spielt das Wetter nicht mit und bleibt der Regen aus, fehlt jede Reserve, um die Krise zu überstehen. Die Perspektiven für Tesfayes Kinder sind schlecht. Die Armut pflanzt sich fort und trifft in der nächsten Generation noch mehr Menschen. Und Tesfaye gehört zu den besonders armen. Tesfaye hätte gerne mehr Kinder. »Wo es keine ökonomische Sicherheit gibt, bedeuten Kinder Sicherheit, Status und Prestige«, sagt die amerikanische Anthropologin Nina Jablonski von der Pennsylvania State University, »und die zeigt man gerne vor. Genau wie der Börsenhändler in New York seine zwei Ferraris gerne vorzeigt«1. Für Tesfaye sind Kinder das Einzige, was er hat: »Wer soll sonst bei der Ernte helfen?« Aber die ist so dürftig, dass sie sich auch mit halb so vielen Händen einbringen ließe. Warum so viel Nachwuchs, der vor allem den Frauen zu schaffen macht? »Sie werden mich im Alter versorgen. Und wenn ich einmal sterbe, sollen viele an meinem Grab stehen.« Meine Begegnung mit Tesfaye ist ein paar Jahre her. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht. Kaum eines der Kinder dürfte je zur Schule gegangen sein, sie werden irgendwann in die nächste Stadt abgewandert sein, um dort ihr Glück zu suchen. Die wenigsten jungen Menschen in Afrika lassen sich noch für das Leben eines armen Subsistenzbauern begeistern. Sie haben am eigenen Leib erlebt, was das bedeutet. Und sie haben von Alternativen gehört. Gerade in Äthiopien, einem Land, das zwar noch immer zu den ärmsten der Welt gehört, sich aber in den letzten Jahren besser entwickelt hat als die meisten anderen in Afrika. Ob die Kinder je zurückkommen werden, wenn der Vater einmal das Zeitliche segnet, ob sie überhaupt jemals von seinem Tod erfahren? Tesfaye ist ein Beispiel für Überbevölkerung. Sein Verhalten trägt dazu bei, dass in Äthiopien mehr Menschen heranwachsen, als ausreichend versorgt werden können. Es fehlt an Arbeitsplätzen, an Perspektiven, an Potenzialen für ein menschenwürdiges Dasein. Die vielen Menschen überschreiten die Tragfähigkeit der regionalen Naturräume. Der einstige Urwald schwindet weiter, die landwirtschaftlichen Böden werden überstrapaziert. Annette aus Bielefeld Annette* lebt in einer 75-Quadratmeter-Altbauwohnung in Bielefeld, minimalistisch eingerichtet, eine große Ahornplatte auf Stahlgestell als Tisch, schwarze Thonet-Freischwinger, weiße, hohe Wände. Die 38-jährige Wirtschaftsjuristin arbeitet in einer Anwaltskanzlei, verdient gut, hat ein Abo im Flower-Fitnessstudio für Yoga und Pilates, ist Stammkundin im Biomarkt und würde nie einen Kaffee im Pappbecher kaufen, geschweige denn ihn nach Gebrauch in die Natur schmeißen. Annette wählt die Grünen, wie elf Prozent der Bielefelder bei der letzten Bundestagswahl 2017. Sie braucht selten ein Auto, und wenn, dann findet sie schnell einen sparsamen Elektroflitzer bei Share Now. Ihren Partner, einen Software-Entwickler, der im 80 Kilometer entfernten Münster wohnt, sieht sie öfter mal am Abend oder am Wochenende. Mit dem Zug sind es 62 Minuten dorthin. Oft kochen sie zusammen, meistens vegetarisch, auch wenn sie der Meinung ist, vegan sei nachhaltiger, aber auf Käse möchte sie nicht verzichten. Urlaub, na ja, machen sie schon einmal, am liebsten Städtereisen, Barcelona, Lissabon oder London. Auch New York und Sydney haben sie schon besucht. * Name wurde geändert Annette will keine Kinder. Der Umwelt zuliebe. Sie mag Kinder, kümmert sich manchmal um den Nachwuchs ihrer Schwester, aber in ihrer Lebensplanung finden eigene Kinder keinen Platz. Die Ökosysteme sind überlastet, das Klima spielt verrückt, der Regenwald geht vor die Hunde und jetzt noch Corona. Von allem viel zu viel, vor allem an Menschen. Das sagt auch Verena Brunschweiger, eine Gymnasiallehrerin aus Regensburg, gut 40 Jahre alt, nach eigenem Bekunden Antinatalistin und Radikalfeministin.2 Sie findet Familien mit sechs Kindern »nicht besonders ökologisch« und hat gegen die »Fortpflanzungswut« der Menschen zwei Bücher geschrieben.3 Darin führt sie ethische Argumente für eine Nachwuchsverweigerung auf.4 Die Entscheidung für ein Kind in der Welt, in der wir heute leben, sei faktisch nicht mehr mit gutem Gewissen zu unterstützen. Ein Kind bedeute pro Jahr 58,6 Tonnen mehr Kohlendioxid (CO2) in der Atmosphäre, und dieses Zeug sei schließlich hauptverantwortlich für den menschengemachten oder anthropogenen Klimawandel. Deshalb sollte man jeder Frau, die kein Kind bekommt, zu ihrem 50. Geburtstag zur Belohnung 50 000 Euro in die Hand drücken. Ein Kind sei das Schlimmste, was man der Umwelt antun könne....