E-Book, Deutsch, 322 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-531-90862-5
Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Dr. Daniela Klimke ist Geschäftsführerin am Institut für Sicherheits- und Präventionsforschung in Hamburg.
Zielgruppe
Professional/practitioner
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;5
2;Zur Einführung;7
2.1;Die Beiträge;11
3;I Theoretische Überlegungen zu Exklusion und Marktgesellschaft;17
3.1;‚Soziale Ausschließung’: Produktionsweisen und Begriffs-Konjunkturen;19
3.1.1;1 Die Karriere von ‚Soziale Ausschließung’;19
3.1.2;2 Die kapitalistische Produktion von ‚Ausschließung’;20
3.1.3;3 Fordismus und Keynesianismus;22
3.1.4;4 Erfahrungen von Neoliberalismus und ‚Soziale Ausschließung’;24
3.1.5;5 Die Zukünfte von ‚Soziale Ausschließung’;28
3.1.6;Literatur;29
3.2;Ausgrenzung, Ausschließung, Exklusion, underclass, désaffiliation oder doch Prekariat? Babylonische Vielfalt und politische Fallstricke theoretischer Begrifflichkeiten;31
3.2.1;1 Die Diagnose und ihre Geschichte;32
3.2.2;2 Theoretische Verständnisse der Begriffe;32
3.2.3;3 Politische Implikationen und Gesellschaftskritik;43
3.2.4;4 Fazit;45
3.2.5;Literatur;46
3.3;Freiheit als die Einsicht in die Notwendigkeit einer totalen Überwachung;51
3.3.1;Literatur;55
4;II Ausschluss mit Recht: Die Feinde der Marktgesellschaft;58
4.1;Wider das Feindstrafrecht – ein Plädoyer für den Rechtsstaat;59
4.1.1;1 Feindstrafrecht – ein politischer Kampfbegriff;60
4.1.2;2 Rückwirkungen auf Freundesland und auf Konfliktregionen;62
4.1.3;3 Von der Würde des Feindes;64
4.1.4;4 Alternativen zum Feindstrafrecht;65
4.1.5;Literatur;67
4.2;Sexualstrafrecht: Permanenz und Penetranz;69
4.2.1;Literatur;76
4.3;Problemgeneratoren. Bestrafung von Sexualtätern mit „ungeregelter Lebensführung“;77
4.3.1;1 Verurteilungsziffern;78
4.3.2;2 Sanktionshärte;78
4.3.3;3 Risikomerkmale für die Verhängung von Haftstrafen;81
4.3.4;4 Entscheidende Alltagstheorien;86
4.3.5;Literatur;86
4.4;Führungsaufsicht als ‚Grenzwache’? Gefährliche Tendenzen in der ambulanten Kontrolle ‚Gefährlicher’;87
4.4.1;1 ‚In dubio pro securitate’. Zur fortschreitenden Maßlosigkeit des Maßregelrechts;87
4.4.2;2 „Straffere und effizientere Kontrolle der Lebensführung“. Das Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht;89
4.4.3;3 Vorwärts in die Vergangenheit? Von der Polizei- über die Sicherungs- zur ( Lebens-) Führungsaufsicht, und zurück;98
4.4.4;4 Die neue Sicherungsaufsicht als Grenzwache ambulanter Verwahrung. Punitive Kontrolle und präventive Exklusion: gefährliche Sonderopfer;100
4.4.5;Literatur;102
4.5;Wie Fremde Gefängnisse konservieren und Gefängnisse Fremde. Über das Wechselspiel von Kriminal- und Fremdenpolitik;107
4.5.1;1 Was ins Auge sticht – Überfüllung und ‚Überfremdung’ der Gefängnisse;107
4.5.2;2 Die ‚Prekarisierung’ von Straftätern;109
4.5.3;3 Die Krise als eine Chance – für die Konservierung der Gefängnisse;111
4.5.4;4 Die Verfremdung der Gefangenen ...;112
4.5.5;5 ...und die Kriminalisierung der Fremden(politik);119
4.5.6;6 Schlussbemerkung;122
4.5.7;Literatur;122
5;III Exklusion global betrachtet;125
5.1;Marginalisierte und Überflüssige. ‚ Kleinstbauern’ und ‚ Landlose’ in Brasilien;127
5.1.1;1 Landnahme, Privateigentum am Boden und Gewalt;127
5.1.2;2 Zur Entstehung des privaten Bodeneigentums in Brasilien;129
5.1.3;3 Die Herrschaft des Großgrundbesitzes und „Konservative Modernisierung“;131
5.1.4;4 Landnahme in Amazonien;133
5.1.5;5 Die Agrarstruktur Brasiliens;135
5.1.6;6 Agrarreform und Landlosenbewegung;138
5.1.7;7 Zum Schluss;141
5.1.8;Literatur;142
5.2;Mit Sicherheit zuhause. Master Planned Communities als Technologie der Exklusion und sozialen Kontrolle;145
5.2.1;2 Konjunktur der ‚Community’;146
5.2.2;3 ‚Community’ als Machttechnologie;147
5.2.3;4 Master Planned Developments als Paradebeispiel für die Funktionsweise gegenwärtiger Macht;149
5.2.4;5 Fazit;155
5.2.5;Literatur;156
5.3;Anders, bedroht und bedrohlich – Jugendbanden in Zentralamerika;159
5.3.1;1 Die violente Jugendsubkultur der;160
5.3.2;2 Maras als importiertes Gewaltpotenzial;163
5.3.3;3 Jugendbanden im Visier der repressiven Verbrechensbekämpfung;164
5.3.4;4 Die maras im herrschenden Sicherheitsdiskurs;165
5.3.5;5 Fazit;168
5.3.6;Literatur;170
6;IV Aktuelle Herstellungsprozesse des Anderen;174
6.1;„Schulschwänzen“. Über Naturalisierungs- und Trivialisierungsgewinne kriminologischer Jugendforschung;175
6.1.1;1 Naturalisierung;176
6.1.2;2 Kriminologische Jugendbeobachtung;176
6.1.3;3 Themenkonjunktur ‚Bildung’;177
6.1.4;4 Schulschwänzen und Delinquenz: Das Thema der kriminologischen Jugendforschung;179
6.1.5;5 Eine Zwischenfrage:;182
6.1.6;6 Die positiven Funktionen von Schulschwänzen: Über Wissen gewinnen und Wissensgewinne;183
6.1.7;Literatur;188
6.2;Die Macht der Verknüpfung – Konstruktionen des ethnisch Anderen;191
6.2.1;1 Der Friseurbesuch;192
6.2.2;2 Der Kuraufenthalt;196
6.2.3;3 Konstruktionen des ethnisch Anderen;199
6.2.4;Literatur;200
6.3;‚Gefährliche’ und ‚lästige Ausländer’ – zum Exklusionscharakter von Ausweisungen;203
6.3.1;1 Ausweisung als Ausschlusstechnik;203
6.3.2;2 Ausweisung und Exklusion;204
6.3.3;3 Datenlage;209
6.3.4;4 Ausweisungspraxis in der Öffentlichkeit;212
6.3.5;Literatur;213
6.4;Erbfeinde aus dem Innern – Satanisten in der christlichen Gesellschaft;215
6.4.1;1 Satanismus in der Öffentlichkeit;215
6.4.2;2 Satanismus als Realphänomen;221
6.4.3;3 Satanisten als Akteure und Opfer sozialer Exklusionsprozesse;224
6.4.4;4 Schlussbemerkung;226
6.4.5;Literatur;227
6.5;Der wissenschaftlich-mediale Verstärkerkreislauf;229
6.5.1;1 Es gibt keine objektive Wissenschaft;230
6.5.2;2 Der Objektivitätsmythos enthält eine Abwertung von Wissenschaft und immunisiert gegen Kritik;233
6.5.3;Literatur;235
7;V Auf den Leib geschrieben: Exklusive Körper;237
7.1;Exklusion von Frauen unter dem Genderaspekt;239
7.1.1;1 Getauschte und verkaufte Frauen;240
7.1.2;2 Vergewaltigung von Frauen als Exklusionsursache;244
7.1.3;3 Gewalt und Tausch von Sexualität während der Flucht und Vertreibung;247
7.1.4;4 Sexualität und die Genderrolle in der neuen Heimat;251
7.1.5;5 Zusammenfassung;254
7.1.6;Literatur;255
7.2;Der Körper als Zeichen und Symbol. Tattoo, Piercing und body modification als Medium von Exklusion und Inklusion in der modernen Gesellschaft;257
7.2.1;1 Geschichte und aktuelle Tendenzen;257
7.2.2;2 Brandmarken des Körpers – Ausschluss des Kriminellen;262
7.2.3;3 Der Körper als Medium von Exklusion und Inklusion heute;263
7.2.4;4 Beispiele;265
7.2.5;5 Modetrend oder Szenemerkmale? Ein Fazit;268
7.2.6;Literatur;269
7.3;Jenseits der Zonengrenze. Über die unvermeidlichen Schwierigkeiten der Altbundesdeutschen, die Ostdeutschen als zugehörig zu erkennen. Beispiel Partnerschaft und Sexualität;273
7.3.1;Literatur;278
8;VI Das letzte Wort haben die Jubilare;280
8.1;Die soziale Ordnung des Gedenkens. Opfergruppen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern;281
8.1.1;1 Passives und aktives Vergessen: Das Zurückbleiben von Erinnerungsarbeit und Geschichtsforschung;282
8.1.2;2 Soziokulturelle Elemente in der Konstruktion der Erinnerung;286
8.1.3;3 Ein ethisches Dilemma;296
8.1.4;Literatur;297
8.2;Die deutsche Kriminologie im Lichte des Werkes von D. Garland1;301
8.2.1;1 Der universalistische Anspruch von Wissenschaft und die Kriminologie;301
8.2.2;2 Von der Ätiologie zur Soziologie des Strafens;302
8.2.3;3 Von „ökonomischer Kontrolle und sozialer Liberalisierung“ zu „ökonomischer Liberalisierung und sozialer Kontrolle“;304
8.2.4;4 Rezeptionsweisen;310
8.2.5;5 Eine Schlusspointe;319
8.2.6;Literatur;319
9;Autorinnen und Autoren;323
Zur Einführung.- Zur Einführung.- Theoretische Überlegungen zu Exklusion und Marktgesellschaft.- #x201A;Soziale Ausschließung#x201C;: Produktionsweisen und Begriffs-Konjunkturen.- Ausgrenzung, Ausschließung, Exklusion, underclass, désaffiliation oder doch Prekariat? Babylonische Vielfalt und politische Fallstricke theoretischer Begrifflichkeiten.- Freiheit als die Einsicht in die Notwendigkeit einer totalen Überwachung.- Ausschluss mit Recht: Die Feinde der Marktgesellschaft.- Wider das Feindstrafrecht — ein Plädoyer für den Rechtsstaat.- Sexualstrafrecht: Permanenz und Penetranz.- Problemgeneratoren. Bestrafung von Sexualtätern mit „ungeregelter Lebensführung“.- Führungsaufsicht als ‚Grenzwache‘? Gefährliche Tendenzen in der ambulanten Kontrolle ‚Gefährlicher‘.- Wie Fremde Gefängnisse konservieren und Gefängnisse Fremde. Über das Wechselspiel von Kriminal- und Fremdenpolitik.- Exklusion global betrachtet.- Marginalisierte und Überflüssige. ‚Kleinstbauern‘ und ‚Landlose‘ in Brasilien.- Mit Sicherheit zuhause. Master Planned Communities als Technologie der Exklusion und sozialen Kontrolle.- Anders, bedroht und bedrohlich — Jugendbanden in Zentralamerika.- Aktuelle Herstellungsprozesse des Anderen.- „Schulschwänzen“. Über Naturalisierungs- und Trivialisierungsgewinne kriminologischer Jugendforschung.- Die Macht der Verknüpfung — Konstruktionen des ethnisch Anderen.- ‚Gefährliche ‘und ‚lästige Ausländer ‘— zum Exklusionschafakter von Ausweisungen.- Erbfeinde aus dem Innern — Satanisten in der christlichen Gesellschaft.- Der wissenschaftlich-mediale Verstärkerkreislauf.- Auf den Leib geschrieben: Exklusive Körper.- Exklusion von Frauen unter dem Genderaspekt.- Der Körper als Zeichen und Symbol. Tattoo,Piercing und body modification als Medium von Exklusion und Inklusion in der modernen Gesellschaft.- Jenseits der Zonengrenze. Über die unvermeidlichen Schwierigkeiten der Altbundesdeutschen, die Ostdeutschen als zugehörig zu erkennen. Beispiel Partnerschaft und Sexualität.- Das letzte Wort haben die Jubilare.- Die soziale Ordnung des Gedenkens. Opfergruppen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.- Die deutsche Kriminologie im Lichte des Werkes von D. Garland.
‚Soziale Ausschließung’: Produktionsweisen und Begriffs-Konjunkturen (S. 19)
Heinz Steinert
1 Die Karriere von ‚Soziale Ausschließung’
‚Soziale Ausschließung’ hat eine schnelle Karriere gemacht: Bis in die 1980er Jahre gab es den Begriff in der Soziologie und in der Kriminologie nur als Randerscheinung. Durchgesetzt wurde er in den 1990er Jahren durch ein EU-Forschungs-Programm „TSER – Targeted Socio- Economic Research, mit einem Teil-Bereich „soziale Integration und soziale Ausschließung. Mit anderen Worten: Er wurde mit etwa 30 Millionen ECU (wie der Euro damals, 1994-98, noch hieß) erkauft.
Von Brüsseler Insidern wird berichtet, dass in den dortigen diplomatischen Anstrengungen, keine europäische Sozialpolitik zu machen, dieser Begriff (von der französischen ‚marginalisation’ ausgehend) präferiert wurde, weil man damit nicht von ‚Armut’ sprechen musste. Die Durchsetzung des Begriffs wurde vor allem dadurch erreicht, dass (geschätzt) etwa tausend Sozialwissenschaftler in ganz Europa veranlasst wurden, sich gegen Bezahlung ein bis zwei Jahre mit ‚Ausschließung’ zu beschäftigen.
Der Großteil davon waren Projekte zur Sozialpolitik und zu Sozialen Problemen, in denen die Autoren ihre bisherige Arbeit zu diesen Themen unverändert fortführten, sie aber ab jetzt in die Begrifflichkeit packten, die der Auftraggeber verlangte und ohne die man am Wettbewerb um die Forschungsgelder (die aus dem jeweils nationalen Zugriff nach Brüssel verschoben wurden) nicht teilnehmen konnte.
In der Kriminologie dauerte es noch ein wenig länger: Noch 1995 wurde im Kriminologischen Journal unwidersprochen ‚Ausschließung’ als Dramatisierungsbegriff abgelehnt und dagegen ‚Kontrolle’ als der angemessene kriminologische Begriff stark gemacht (Scheerer 1995). Das hat wenig daran geändert, dass in den Jahren seither ‚soziale Kontrolle’ in der Literatur immer seltener auftaucht und ‚Ausschließung’ Konjunktur hat.
Völlig durchgesetzt hat sich der Begriff ‚Ausschließung’ in Großbritannien, wo die Labour-Regierung einen interministeriellen „Social Exclusion Unit eingerichtet hat und ihre Sozialpolitik an ‚exclusion’ orientiert: Nicht Armut, sondern Ausschließung – die wieder operationalisiert etwa als Obdachlosigkeit, teenage pregnancy oder unregelmäßiger Schulbesuch, also ausgewählte ‚soziale Probleme’ – soll vermieden oder kompensiert werden. Überhaupt nicht durchgesetzt hat er sich in den USA: Die Phänomene der Marginalisierung werden dort unter ‚underclass’ verhandelt und ‚exclusion’ gibt es so gut wie gar nicht.
2 Die kapitalistische Produktion von ‚Ausschließung’
Nun ist der Begriff ja – von den Bemühungen der EU-Diplomatie abgesehen – nicht ganz willkürlich erfunden worden: Er beruht auf gesellschaftlichen Erfahrungen, die seit dem Ende von Fordismus die neue Produktionsweise des Neoliberalismus prägen. Das 20. Jahrhundert wurde von der fordistischen Variante von Kapitalismus bestimmt und war in diesem Sinn ein „kurzes 20. Jahrhundert3: Es endete in den 1980ern.
Fordismus lässt sich an den Erfindungen in der Organisation von Produktion illustrieren, die Henry Ford in seinen Fabriken eingesetzt hat: Massenfertigung von Konsumgütern (in seinem Fall von Automobilen) in einer autoritär (von ihren Proponenten lieber „wissenschaftlich genannten) tayloristisch organisierten Arbeitsteilung am Fließband mit dadurch entqualifizierten, aber hoch disziplinierten und relativ gut bezahlten Arbeitskräften, die zugleich als mögliche Konsumenten gesehen werden.
Die Arbeiterschaft wurde, im Gegensatz zum Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts, nicht mehr verelendet, sondern auch im Konsum gesellschaftlich integriert. In Europa gehörte dazu die staatlich organisierte Sozialpolitik, die wirtschaftlich gesehen die Arbeiter- Einkommen und damit ihren Warenkonsum verstetigte.