Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I
E-Book, Deutsch, 445 Seiten
ISBN: 978-3-86596-020-7
Verlag: Frank & Timme
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Der Autor
Dr. Alfrun Kliems, derzeitig Fachkoordinatorin für Literaturwissenschaft am GWZO Leipzig, und Dr. Ute Raßloff, ebenfalls als Literaturwissenschaftlerin am GWZO Leipzig tätig, befassen sich in ihren Studien vor allem mit der tschechischen und slowakischen Literatur. Diesen Schwerpunkt haben auch die Forschungen von Prof. Dr. Peter Zajac, der an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhaltsverzeichnis;6
2;Vorwort: Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa Eingrenzungen und Abgrenzungen;10
2.1;I. Skizzierung des Gesamtvorhabens;10
2.2;II. Spätmoderne als Epochenkonzept: Möglichkeiten und Grenzen;13
2.3;III. Zusammenschau der Beiträge;16
3;1. Medientheoretische und literatur- geschichtliche Ausgangspositionen;22
3.1;Dichtungsgeschichte und mediale Kulturtechniken;24
3.2;Mythos Natur – Mythos Stadt. Ihre Relation zwischen der ersten und der zweiten Avantgarde in Polen;42
3.3;Spur und Rebellion. Zur Poetik von René Chars „Fureur et mystère“;54
3.3.1;I. Surrealistische Anfänge;54
3.3.2;II. Ursprung und Geschichte;55
3.3.3;III. „Surréalité“ des Surrealismus;57
3.3.4;IV. Differenz des Poetischen;59
3.3.5;V. Schattenloser Wanderer;64
3.4;Defiguralisierung des Textes. T. S. Eliots „The Waste Land“ und die Spätmoderne;88
3.5;Zur Einordnung des tschechischen Poetismus im Spannungsfeld von Avantgarde und Spätmoderne: Teiges Programmatik und Nezvals Pásmo-Dichtungen;102
3.5.1;1. Die Doppelkonzeption von Poetismus und Konstruktivismus in der tschechischen Avantgarde;105
3.5.2;2. Nezvals Pásmo-Komposition „Podivuhodný kouzelník“ als Beispiel poetistischer Dichtung;109
3.5.3;3. Schluss;117
3.6;Eine „spätmoderne“ Libido? Poetologische Überlegungen zur Absetzung von Moderne, Avantgarde und Spätmoderne in der tschechischen Lyrik;122
3.6.1;„Spätmoderne“ – ein Begriff in der Diskussion;122
3.6.2;Poetismus: Jaroslav Seifert oder die Lust am Knall;123
3.6.3;Spätmoderne I: Ivan Jelínek oder der Geschlechtertausch im Schilf;126
3.6.4;Spätmoderne II: Milada Soucková oder die Entjungferung am Ufer;132
3.6.5;Schlussüberlegung: Moderne, Avantgarde und Spätmoderne;134
4;2. Die klassische Moderne: Weiterführung oder Abkehr?;144
4.1;Jakub Deml und die „Spätmoderne“;146
4.2;Jaroslaw Iwaszkiewicz und die klassizistischen Tendenzenin der polnischen Spätmoderne;178
4.2.1;Literaturhistorische Voraussetzungen;178
4.2.2;Formen und Vertreter des Klassizismus;180
4.2.3;Iwaszkiewiczs Reise in das klassizistische Europa;184
4.3;Zwischen „ewigem Polentum“ und verpflichtender Tradition. Das Dilemma des Jan Lechon;198
4.4;Imagination, Konstruktion und Mythographie. Bohdan-Ihor Antonyc und die ukrainische Spätmoderne 30er;212
4.4.1;Ukrainische Moderne;213
4.4.2;Imagination und Konstruktion;214
4.4.3;Poesie als Mythographie;217
4.4.4;Antonyc und die polnische Lyrik der 30er Jahre: ein gemeinsames Paradigma?;219
4.5;Die Worte treiben Unzucht im Himmel. Boleslaw Lesmianund die Subjektauffassungen der Spätmoderne;226
4.5.1;Lesmians Verhältnis zur Hochmoderne und zur Avantgarde;226
4.5.2;Zerstückelung des Subjekts;227
4.5.3;Überstehen ist alles.“10 Poetik der Widersprüche;228
4.5.4;Der Tod des selbstmächtigen Künstlers;229
4.5.5;Zwischen Subjektwerdung oder Subjektzerfall;230
4.5.6;Verzicht auf Moralistik;231
4.5.7;Die Sprache des „Semiotischen“ oder der Aufstand gegen den logozentrischen Diskurs;231
4.5.8;Ist Lesmian ein metaphysischer Dichter?;232
5;3. Der Gang durch die historischen Avantgarden;236
5.1;Kolárs Interpretation des Futurismus;238
5.2;Die tschechische Ballade im Zeichen des Poetismus. Kulturpoetik, literarische Evolutionierung und Traditionsbruch bei Jaroslav Seifert;254
5.2.1;I.;254
5.2.2;II.;255
5.2.3;III.;258
5.2.4;IV.;259
5.2.5;V.;265
5.3;Postavantgardistische Signi.kantenketten. Jaroslav Seiferts Gedichtband „Slavík zpívá špatne“;270
5.3.1;I.;272
5.3.2;II.;276
5.3.3;III.;281
5.3.4;IV.;282
5.4;„Barbaren gehen, Barbaren gehen“. Die „Panychida“ von Vilém Závada und ihre Kontexte;288
5.4.1;I.;288
5.4.2;II.;289
5.4.3;III.;292
5.5;Zum Verhältnis von Oxymoron und Metonymie im Werk von František Halas;296
6;4. Die Spätmoderne als integratives (Epochen)Konzept?;304
6.1;Gottfried Benn und Sándor Ferenczi;306
6.2;Anthropomorphismen in Marina Cvetaevas „Vskryla žily“ unter Berücksichtigung eines erweiterten Anthropomorphismus-Begriffs;314
6.2.1;Wiederkehr des Menschenmaßes? Situierung des Erkenntnisinteresses;314
6.2.2;Anthropomorphisierung durch hypertrophe Performativität;318
6.3;Ein verhinderter Selbstmord. Kohärenz als spätmoderne Option in der Lyrik Laco Novomeskýs;324
6.3.1;I. Ausgangspositionen;324
6.3.2;II. Zur Rezeption Laco Novomeskýs;327
6.3.3;III. Das Kunstwerk zwischen Kohärenz und Inkohärenz;328
6.3.4;IV. Kohärenz durch Architektonik;329
6.3.5;V. Kohärenz durch Syntagmatik;334
6.3.6;VI. Resümee;339
6.3.7;Anhang;340
6.4;Josef Horas Bergsonismus;346
6.4.1;Grundzüge des Bergson’schen Denkens;348
6.4.2;Horas bergsonistische Weltbilder;349
6.4.3;Bergsonismus und die Entideologisierung der Geschichte;361
6.5;Die Differenz im Ich. Lorinc Szabó: „Az Egy álmai“;370
6.6;Bewegte Figuren. Lorinc Szabó: „A belso végtelenben“;386
6.6.1;Die Problematik der Transgression;386
6.6.2;„Du und die Welt“ als dichtungsgeschichtlicher Übergang;387
6.6.3;Transkription: „In der inneren Unendlichkeit“;390
6.6.4;Trans.gurative Bewegung im Text;393
6.6.5;Transitivität oder Intransitivität;393
6.6.6;Bewegte Figuren: die Inversion;395
6.6.7;Anhang;400
6.7;„Auf dem Ast des Nichts...“. Epochenkonstruktionen und die Erfahrung des Ich in der späten Lyrik von Attila József;404
6.8;Srecko Kosovel zwischen Moderne, Avantgarde und Modernismus;414
6.8.1;Anhang;428
6.9;Der Widerruf des Subjekts. Einige Beispiele aus der kroatischen Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts;434
6.9.1;I.;434
6.9.2;II.;435
6.9.3;III.;436
6.9.4;IV.;437
6.9.5;V.;441
6.9.6;Anhang;443
Ernõ Kulcsár-Szabó
Dichtungsgeschichte und mediale Kulturtechniken (S. 23-24)
Jedes Wort ist eine Augenblicksverbindung eines Klanges mit einem Sinn, die in keiner Entsprechung zueinander stehen. (Paul Valéry Poésie et pensée abstraite) Farben und Klänge gibt es in der Natur, Worte nicht. (Gottfried Benn Probleme der Lyrik)
Der Einzug kulturwissenschaftlicher Verfahren selbst in den engeren Bereich der einzelnen Philologien hat zwar seine Gründe, die sich von mehreren diskursiven Positionen beleuchten lassen. Dennoch ist es nicht selbstverständlich, dass die ins Netzwerk von Kulturwissenschaften extensiv eingefügte Literaturwissenschaft – bloß, weil ohne ihren Gegenstand, die Literatur, kaum irgendeine kulturelle Form der Welt zu denken wäre – Fragerichtungen und Einsichten gewinnen könnte, die (von der jeweiligen Partialität des Verstehens bis hin zur „Unlesbarkeit" der Texte) nicht im Horizont der beiden letzten großen Paradigmen der Textdeutung bereits vorhanden gewesen wären. Friedrich Nietzsche ebnete nämlich einer Kritik der Kulturalität gerade durch die Erschließung des ideologischen Ursprungs jenen kulturellen Techniken den Weg, die – von der „heilsgeschichtlichen" Anthropologie bis zur These von einer mit der rationalen Struktur der Welt „in eins fallenden" (vernünftigen) sprachlichen Form – der Erfahrung vom befristeten menschlichen Dasein wohl den Zwang ständiger Bedeutungsbildung auferlegt haben: „Die ,Vernunft‘ in der Sprache", lesen wir in der „Götzen-Dämmerung", „oh was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben [...]."
Die Möglichkeiten dieser obigen disziplinären Eingliederung sind freilich nicht ganz zeitgenössischer Herkunft: Der Reiz einer kulturwissenschaftlichen Integration erwächst vor allem aus dem Paradigmenwechsel um die Jahrhundertwende, der die mit kritischer Intention erneut aktualisierten Frageinteressen der Kant’schen Wahrnehmungsphilosophie auch auf den „Gegenstand" der Geisteswissenschaften erweiterte. Dabei handelt es sich nicht nur um die von Ernst Cassirer eingeleitete Wende, welche die Funktionen der symbolischen Formen (Sprache, Kunst, Religion usw.) mit einer im erweiterten Sinne kulturellen Konstitution der Lebenswelt in Zusammenhang brachte. Denn als mindestens genauso bedeutend erwies sich auch die – nicht weniger antipositivistisch ausgerichtete – geisteswissenschaftliche Er kenntnis (1904), der zufolge den Arbeitsgebieten der Wissenschaften „nicht die ,sachlichen‘ Zusammenhänge der ,Dinge‘, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme [...] zugrunde [liegen]". Und zwar deshalb – und an Hand ihres so aufgefassten Gegenstandes wurde der Literaturwissenschaft so zum ersten Mal gewährt, sich mit anderen Disziplinen an der umfassenden Erfahrung von der Möglichkeit einer kulturwissenschaftlichen Integration zu beteiligen –, weil in Max Webers Auffassung Wirklichkeit und Reflexion der Kultur nun in einer völlig neuen Kontamination in Erscheinung traten, die (damals natürlich noch mit den erheblichen Einschränkungen der Rickert’schen Wertemetaphysik) im Prinzip geeignet war, die volle „Archäologie" der geschaffenen („wertvollen") kulturellen Welt in den Horizont der geisteswissenschaftlichen Untersuchungen mit einzubeziehen:
„Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff. Die empirische Wirklichkeit ist für uns ,Kultur‘, weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfasst diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns bedeutsam werden, und nur diese."
Angesichts der individuellen Vielfalt sozial- und geisteswissenschaftlicher Phänomene erkannten diese geistigen Positionen – von Heinrich Rickert bis Ernst Cassirer und von Werner Sombart bis Oskar Walzel – zwar zahlreiche fragliche und unhaltbare Elemente des erkenntnistheoretischen Erbes vom methodologischen Universalismus, waren aber nicht darauf bedacht, Ambivalenzen dieser Erfahrung kraft einer sich von Friedrich Schleiermacher bis Wilhelm Dilthey herausbildenden – und im autozentrischen Wirkungszusammenhang der historisch-sozialen Welt begründeten – hermeneutischen Konsistenz aus der Welt zu schaffen.