Ein Werkstattbuch
E-Book, Deutsch, 139 Seiten
ISBN: 978-3-7450-5417-0
Verlag: epubli
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anna Klein arbeitet als freie Journalistin und hat bereits zahlreiche Fachbücher veröffentlicht. 'In Zeiten unsichtbarer Frauen' ist ihre erste Novelle.
Autoren/Hrsg.
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5.0 Die Anrede
Nie, zu keiner Zeit gab es auch nur den Ansatz der Belanglosigkeit in ihrer Korrespondenz. Sie wahrten die Form. Nicht immer paritätisch. Florentina eher die Viktors. Gerne hätte sie mehr Spontaneität hineingebracht. Vereinzelte Versuche schlugen fehl. Die Sensibilität, dies zu erkennen, besaß sie in hohem Maße. So ordnete sie sich unter. Es störte sie nicht. Sie verfügte über die notwenige Leichtigkeit und Flexibilität mit noch mehr Leichtigkeit auch darüber hinwegzusehen. Viktor besaß diese Elastizität nicht. Für ihn war es eine Frage des Prinzips, aber auch der Etikette und des Eigenvermögens. Sie gehörten verschiedenen Welten an. Viktor lediglich einer mit Kontinuität und abgeschirmtem Habitus. Nur in ihr besaß er die Größe und Freiheit, sich zu bewegen. Es war die des Großbürgertums, der feinen Künste, der Kulturen, des Erfolges, der Tradition. Dieser Kokon hielt ihn fest, und er hielt an ihm fest. Nur so hatte er bislang überlebt. Florentinas Leben dagegen fand in mehreren Welten statt. Sie hatte sich immer wieder gehäutet. Ihre zunächst geglaubte Heimat der Kindheit hatte sie verlassen. Sie sollten zahlreiche nacheinander folgende Zuhause ersetzen, in die sie sich einfügte und die sie sich zueigen machte. Eine wirkliche Heimat, wie sie Viktor verstand, hatte es für sie nie gegeben. Sie hatte sich immer wieder ein zeitlich begrenztes Zuhause geschaffen, das ihren Lebensphasen entsprach. Die jeweiligen Trennungen davon waren ihr nicht schwer gefallen. Ihr Leben glich einem Episodenfilm, in dem immer eingestreut der Abspann lief. Oft hatte sie ihn herbeigesehnt. Oft auch selbst geschrieben. Ihr Leben war ein permanenter Neuanfang, ein sich immer wieder Neuerfinden. Für Viktor war ein derartiges Leben unvorstellbar. Er brauchte diese dauerhafte Stabilität als Netz, als Lebenselixier. Jedes Ende einer Lebensphase, das nie von ihm eingeläutet wurde, kam einer vernichtenden Niederlage gleich, die es galt mit aller Macht zu verhindern. So wurde das Leben zu einer dauerhaften Zerreißprobe mit nicht heilenden Wunden. Jetzt, da seine Heimat unwiederbringlich verloren schien, man sie ihm, wie er es sah, auf brutalste Weise genommen hatte, fehlte ihm ein Zuhause. Er konnte es sich nicht schaffen. Nicht in der realen Welt. So suchte er danach in der virtuellen. Und glaubte, es gefunden zu haben. Immer die Form und die Distanz wahrend. Wenn auch mit großer Ambivalenz und missbräuchlich. Für Florentina nicht abzusehen und nicht einzuschätzen.
So. 10. Aug. 01.27 Uhr Liebe Florentina, gerade von einer längeren Reise nach New York zurückgekehrt ...
So. 10. Aug. 09.06 Uhr Guten Morgen, lieber Viktor, herzlichen Dank für die sympathische Nachricht zu nächtlicher Zeit.
Mo. 11. Aug. 17.00 Uhr Liebe Florentina, leider klappt es nächste Woche nicht.
Mo. 11. Aug. 23.46 Uhr Liebe Florentina, ich konnte heute bei meinen Gesprächspartner erreichen, dass der Donnerstag Termin wieder steht.
Mo. 11. Aug. 32.52 Uhr Lieber Viktor, vielen Dank für die Nachricht.
Di. 12. Aug. 9.24 Uhr Guten Morgen, lieber Viktor, ich würde gern Ihren Vorschlag annehmen. Treffen wir uns im Bayerischen Hof zum Essen.
Di. 12. Aug. 14.26 Uhr Liebe Florentina, wollen wir uns am 21.08. um 19.30 Uhr in der Hotellobby treffen?
Di. 12. Aug. 22.46 Uhr Liebe Florentina, ich wünsche Ihnen nochmals eine gottgesegnete Nacht.
Mi. 13. Aug. 9.10 Uhr Lieber Viktor, zunächst einen guten Morgen.
Mi. 13. Aug. 14.42 Uhr Liebe Florentina, das Brieftagebuch mache ich mit meiner Tochter Konstanze, die seit 5 Jahren in New York lebt.
Mi. 13. Aug. 16.49 Uhr Lieber Viktor, welch ein Privileg. Vielen Dank dafür.
Do. 14. Aug. 21.43 Uhr Liebe Florentina, soeben bin ich vom Flughafen zurückgekehrt ...
Do. 14. Aug. 23.37 Uhr Lieber Viktor, ich war heute nicht mehr auf Sie eingestellt.
Fr. 15. Aug. 11.44 Uhr Lieber Viktor, bevor ich nun endgültig in den Tag starte ...
Fr. 15. Aug. 17.33 Uhr Liebe Florentina, vielen Dank für Ihre heutigen Fragen.
Fr. 15. Aug. 22.38 Uhr Lieber Viktor, herzlichen Dank für die Antworten. Ich komme soeben vom Training und bin kopf- und körperleer.
Fr. 15. Aug. 22.31 Uhr Liebe Florentina, im französischen Hochadel verwendet man die formelle Anrede bis zum Tod.
Fr. 15. Aug. 23.05 Uhr Lieber Viktor, vielen lieben Dank für Dein Entgegenkommen / Verständnis.
Sa. 16. Aug. 11.22 Uhr Guten Morgen, lieber Viktor, hier meine Antworten zu Deinen Fragen gestern, die ich noch schuldig blieb.
Sa. 16. Aug. 16.29 Uhr Lieber Viktor, geht es Dir besser? Fühle mit Dir. - Sa. 16. Aug. 19.33 Uhr Liebe Florentina, hier meine Antworten.
Sa. 16. Aug. 20.26 Uhr Liebe Florentina, hier kommen meine nächsten Fragen.
Sa. 16. Aug. 21.14 Uhr Lieber Viktor, die großen Themen werden immer größer ...
Sa. 16. Aug. 21.41 Uhr Liebe und hochverehrte Florentina, Schlaf allein hilft nichts, wir brauchen Florentina-Fragen, sonst können wir gar nicht schlafen.
Sa. 16. Aug. 22.07 Uhr Lieber Viktor, hier sind sie! Und mehr als vereinbart.
Sa. 16. Aug. 22.41 Uhr Lieber Viktor, jetzt meine Antworten.
Sa. 16. Aug. 00.56 Uhr Liebe Florentina, diese Vertraulichkeit war keineswegs überraschend.
So. 17. Aug. 01.24 Uhr Cara Florentina, vielen Dank für das schöne Gespräch. Die Emotionen überschlugen sich. Grenzen wurden aufgehoben. Es schien, als lasse sich nichts mehr zurückdrehen. Florentina und Viktor waren von ihren Emotionen fremd gesteuerte Getriebene in einem Rausch von einer nicht näher zu definierenden Leidenschaft. Ihr Nirwana war das einer überbordenden Sehnsucht nach Nähe, Vertraulichkeit, Vertrautheit in der Schwere. All dies entspann sich Nacht für Nacht in Gestalt einer diffusen Nebelwand. Es entstand eine ungeahnte Überhöhung der Emotionalität, die aus Furcht, Versagensängsten, aus Verpflichtung und einer bleischweren Leichtigkeit bestand. Eine Einvernehmlichkeit auf morschem Grund, die sich im Minutentakt verdichtete, die sich in Wellen überschlugen. Getragen von Intellekt, Sprachbegabtheit, berauscht von Überlegenheit, Reinheit und Attitüde. Überschattet von dem Fluch des Selbstbetrugs.
So. 17. Aug. 9.30 Uhr Liebe Florentina, hier bin ich wieder.
So. 17. Aug. 11.22 Uhr Lieber Viktor, es tut mir leid, dass es Dir nicht wirklich besser geht.
So. 17. Aug. 13.46 Uhr Lieber Viktor, war schön Dich zu hören, wenn auch weniger schön, derart angeschlagen.
So. 17. Aug. 15.21 Uhr Liebe Florentina danke für Deine liebevolle Anteilnahme. Mit der Öffnung für das Glück hast Du Recht.
So. 17. Aug. 19.14 Uhr Lieber Viktor, danke für Dein Vertrauen und Deine Offenheit, die mich sehr berührt.
Mo. 18. Aug. 07.42 Uhr Guten Morgen, lieber Viktor, bist Du gut nach Hause gekommen?
Mo. 18. Aug. 10.58 Uhr Liebe Florentina, mir geht es nicht gut.
Mo. 18. Aug. 11.59 Uhr Lieber Viktor, war wohl doch ein bisschen schockiert und hektisch.
Mo. 18. Aug. 13.17 Uhr Liebe Florentina, vielen Dank für Deine Schreiben. Ich gehe morgen in die Klinik.
Mo. 18. Aug. 14.15 Uhr Lieber Viktor, sehr gerne. Sag mir zu gegebener Zeit, wann und wo das möglich ist.
Mo. 18. Aug. 20.55 Uhr Liebe Florentina, bin jetzt doch schon heute Abend in der Klinik einpassiert. War kein guter Tag. Florentina verfiel in eine Schockstarre. Aufgelöst in ein Konzentrat von Mitleid und Selbstmitleid. Jene Mischung, die sie zu Hochform auflaufen ließ. Weg von ihr und hin zu ihm. Sie machte ihn sich zur Aufgabe. Ungeachtet Viktors Präferenzen. Damit durchbrach sie den für Viktor beabsichtigten und von ihm kontrollierten Ablauf dieses Prozesses. Viktors Absturz bewirkte Florentinas Triumphzug. Sie begab sich in eine der ihr aufs Beste vertrauten Rolle ihres Lebens. Sie war darin geübt. Unzählige Male. Doch genau an dieser Stelle sollte sich ihr Weg gabeln. Die Sicherheit, die Florentina glaubte Viktor geben zu können, löste bei Viktor ein Höchstmaß an Unsicherheit und Übergrifflichem aus. Doch auch dieses sollte sich erst später herausstellen. Ihre Kommunikation lief auf Verzögerung hinaus, da sie auf Verzögerung gepolt war. Jeder Gruß, jede Frage, jede Antwort, jede Mitteilung, jede...