Buch, Deutsch, Band 902, 399 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 216 mm, Gewicht: 522 g
Reihe: Campus Forschung
Zur Ambivalenz eines Instruments sozialer Kontrolle
Buch, Deutsch, Band 902, 399 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 216 mm, Gewicht: 522 g
Reihe: Campus Forschung
ISBN: 978-3-593-38177-0
Verlag: Campus Verlag GmbH
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Inhalt
Positionierungen
1 Einführende Betrachtungen 13
1.1 Ausgangslage 13
1.2 Videoüberwachung aus der Perspektive der Benutzer öffentlicher Räume 15
1.3 Videoüberwachung und das Bild der "Risikostadt" 17
1.4 Videoüberwachung als Raumüberwachung 20
2 Problemstellung 23
2.1 Ausgangsfrage 23
2.2 Auswirkungen der Videoüberwachung auf die
Nutzung und Wahrnehmung öffentlicher Räume 26
2.3 Auswirkungen der Videoüberwachung auf die
Territorialität der Benutzer überwachter Räume 29
3 Methodische Positionierung 34
3.1 Forschungsabsichten 34
3.2 Entstehungskontext dieser Arbeit 36
3.3 Methodenbeschreibung 38
3.4 Aufbau 44
4 Die Videoüberwachung in den Printmedien 47
4.1 Umfang der Videoüberwachung 48
4.2 Unterschiedliche Anwendungsbereiche und räumliche
Formen der Videoüberwachung 51
4.3 Schlussfolgerungen und Ausblick 71
5 Wissenschaftliche Behandlungen
der Videoüberwachung 73
5.1 Evaluationsstudien der Videoüberwachung 74
5.2 Rechtliche Betrachtungen zur Videoüberwachung 82
5.3 Machtproblematik der Videoüberwachung 86
5.4 Entwicklungstendenzen von Innenstadtbereichen 89
5.5 Schlussfolgerungen und Ausblick 94
Theoretische Grundlagen und Analyse
6 Die soziale Aneignung von Räumen 99
6.1 Einleitung 99
6.2 Territorialisierung von Räumen 101
6.3 Territorium und Macht 111
6.4 Schlussbemerkungen und Ausblick 114
7 Die Videoüberwachung als distanzierte Raumkontrolle 116
7.1 Einleitung 116
7.2 Typologie der Videoüberwachung auf der Grundlage unterschiedlicher Arten der Informationsnutzung 116
7.3 Videoüberwachung als Tele- und Simultanüberwachung 121
7.4 Entstehung eines reduzierten Raumes 122
7.5 Videoüberwachung als Differenzierung von Räumen 126
7.6 Schlussbemerkungen und Ausblick 131
8 Die "öffentliche Ordnung" von Räumen 134
8.1 Einleitung 134
8.2 Öffentlich zugängliche und nutzbare Räume 137
8.3 Zugangs- und Nutzungsregulation öffentlicher Räume 140
8.4 Soziale Beziehungen in öffentlichen Räumen 150
8.5 Soziale Akteure und ihre Beziehungen als Teil öffentlicher Räume 156
8.6 Öffentlicher Raum und Territorialität 159
8.7 Schlussbemerkungen und Ausblick 163
9 Kameras zur Kontrolle öffentlicher Räume 166
9.1 Einleitung 166
9.2 "Zeiten" der Videoüberwachung 167
9.3 Videoüberwachung versus soziale Kontrolle 170
9.4 Videoüberwachung als Machtinstrument 173
9.5 Videoüberwachung und Autonomie 178
9.6 Schlussbemerkungen und Ausblick 182
Feldforschung
10 Wahrnehmung der Videoüberwachung 187
10.1 Einleitung 187
10.2 Methodische Bemerkungen 189
10.3 Olten 195
10.4 Videoüberwachung in Olten 202
10.5 Wahrnehmung der Videoüberwachung durch die Bevölkerung 203
10.6 Schlussbemerkungen und Ausblick 227
11 Umfrageresultate zur Überwachung der Strassenprostitution in Olten 230
11.1 Einleitung 230
11.2 Methodische Bemerkungen 232
11.3 Industriestrasse 234
11.4 Videoüberwachung der Strassenprostitution in Olten 240
11.5 Auswertung der Fragebogenuntersuchung zur Überwachung der Industriestrasse 245
11.6 Schlussfolgerungen und Ausblick 266
12 Die Prostitutions-Überwachung aus der Sicht von Betroffenen 269
12.1 Einleitung 269
12.2 Methodische Bemerkungen 270
12.3 Die Industriestrasse als Risikoraum, Sicherheitsstrategien ihrer Benutzer und Ursprünge der Videoüberwachung 280
12.4 Wahrnehmung der Videoüberwachung 305
12.5 Auswirkungen der Videoüberwachung 323
12.6 Schlussbemerkungen und Ausblick 335
Synthese
13 Schlussfolgerungen 341
13.1 Hypthesenbezug 341
13.2 Auswirkungen der Videoüberwachung auf die Qualitäten öffentlicher Räume 349
13.3 Angst-, Sicherheits- und Machtgeographie 355
13.4 Entwicklungstendenzen der Videoüberwachung 357
Literatur 360
Allgemeine Dokumente 360
Videoüberwachung 368
Dokumente politischer und administrativer Behörden 377
Medien 380
Anhang 393
1 Einführende Betrachtungen
1.1 Ausgangslage
In der heutigen Zeit wird viel von Gefahren gesprochen. Wir hören von unterschiedlichsten Formen der Kleinkriminalität, von Vandalismus, Terrorismus und von Gewalt bei Sportveranstaltungen, Demonstrationen, in Familien oder überhaupt in beinahe allen Bereichen und Orten unseres Alltags. In der heutigen Zeit wird aber auch viel von Freiheiten gesprochen. Dabei ist je nachdem die individuelle Freiheit jedes einzelnen, die Freiheit des Marktes oder die Freiheit ganzer Völker gemeint. Der amerikanische Präsident beispielsweise verwendete das Zauberwort in seiner 20-minütigen Rede vor dem Kongress zu seiner zweiten Amtseinführung 43-mal. In seiner Ansprache im Februar 2005 vor dem EU Parlament in Brüssel fiel der Begriff erneut 22-fach. Bemerkenswert ist dabei, dass oft gerade diejenigen Personen, die als Freiheits-Missionare zu uns kommen, die schärfsten und uneingeschränktesten Möglichkeiten staatlicher Überwachung von Einzelpersonen fördern. Überwachung wird aus dieser Perspektive nicht als Gefahr für die individuelle Freiheit dargestellt, sondern als ihre Grundbedingung.
Tatsächlich eröffnet die Technologisierung unserer alltäglichen Beschäftigungen heute ungeahnte Möglichkeiten der Überwachung. Auf welche Weise diese in Zukunft in der Schweiz genutzt werden dürfen, soll demnächst durch die Revision des "Bundesgesetzes zur Stärkung der inneren Sicherheit" geregelt werden. Im Moment deuten sowohl die Entwicklungen in anderen Ländern im Anschluss an den 11. September 2001, wie auch die in den Medien bekannt gewordenen Forderungen des Chefs des Schweizer Inlandnachrichtendienstes auf einen weitgehenden Ausbau der nicht zwangsläufig auf einem begründeten Verdacht basierenden, präventiven Überwachungsmöglichkeiten des Staatsschutzes (Telefon-, Post-, Fernmeldeverkehr-, E-mail- und Internetüberwachung, Installation von Wanzen, Eindringen in Datenverarbeitungssysteme etc.).
Während die Palette gängiger Überwachungsmassnahmen unterschiedlichste Formen und Instrumente umfasst, scheint sich im Bereich der Überwachung öffentlicher Räume vor allem ein Instrument durchzusetzen: die Videoüberwachung. Es ist geradezu verblüffend, mit welcher Geschwindigkeit sich in den letzten Jahren weltweit die visuelle Überwachung städtischer Kernzonen ausbreitete. Allein in Grossbritannien, dem weltweiten Spitzenreiter der Videoüberwachung, gehen Schätzungen von vier Millionen Kameras aus, die öffentlich zugängliche Räume filmen. Dies entspricht ungefähr einer Vervierfachung innerhalb von drei Jahren (Frith 2004: 1). Stephen Graham vergleicht die Videoüberwachung deshalb mit urbanen Infrastrukturen wie den bestehenden Gas-, Elektrizitäts-, Wasser- und Telekommunikations-Netzwerken (Graham 1998: 107).
Im Vergleich zu Grossbritannien steckt die Videoüberwachung in der Schweiz noch in den Kinderschuhen. Hierzulande werden rund 50.000 Überwachungskameras mit Blick auf öffentliche Räume vermutet (Hug 23.4.2001: 1). Die rasante Entwicklung der Videotechnologie findet jedoch auch in der Schweiz Anwendung sowie zahlenmässigen Niederschlag. Diese Ausbreitung der visuellen Kontrolle öffentlicher Räume durch Überwachungskameras stellt den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit dar, wobei der Schwerpunkt namentlich auf der Videoüberwachung "sozialer Risiken" liegt.
1.2 Videoüberwachung aus der Perspektive der Benutzer öffentlicher Räume
Verglichen mit Überwachungsmassnahmen, die sich auf bestimmte Risikopersonen oder -gruppen richten (wie z.B. die Telefonüberwachung von Terrorverdächtigen oder Drogendealern) ist die Videoüberwachung öffentlicher Räume von besonderer Brisanz, weil sie unabhängig vom individuellen Risikoprofil in den Alltag all derjenigen eingreift, die einen überwachten Raum betreten. Die Videoüberwachung öffentlicher Räume ist zudem eine Überwachungsform des öffentlichen Lebens, dem man sich kaum mehr bewusst entziehen kann, weil vor allem die immer stärker überwachten städtischen Ballungszentren und öffentlichen Verkehrsmittel Räume darstellen, in denen man sich nicht nur aufhalten will, sondern auch aufhalten muss. Im Gegensatz dazu kann man z.B. selbst darüber entscheiden, ob man eine elektronische Kundenkarte oder ein Mobiltelefon benutzt und sich dadurch gewissen Möglichkeiten der Überwachung aussetzt oder nicht.
Dennoch scheint die Videoüberwachung von Seiten der Bevölkerung mehrheitlich akzeptiert zu sein. Norris und McCahill (2002b: 12) vermuten, dass diese Tendenz auch auf in den Medien verbreitete Erfolge der Kameras zurückzuführen ist. Als Beispiel verweisen die britischen Überwachungsexperten auf die beiden 10 jährigen Schuljungen, die im Februar 1993 den kleinen James Burgler in einem britischen Supermarkt entführt und später auf bestialische Weise ermordet hatten. Dank Kamerabildern des Supermarktes konnte der Vorfall damals zwar nicht verhindert werden, es wurde aber immerhin möglich, die Mörder zu identifizieren und zu fassen.
Bei einer näheren Betrachtung der Auswirkungen konkreter Kameraprojekte wird allerdings deutlich, dass eine pauschale, positive Beurteilung sowohl der Effizienz der Videoüberwachung als Instrument der Verbrechensbekämpfung wie auch ihrer Akzeptanz durch die Bevölkerung ein allzu einseitiges und verzerrtes Bild wiedergibt. Diese Arbeit bezweckt deshalb in erster Linie, das Bild der Videoüberwachung als allseits akzeptiertes, technisches Wunderinstrument einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Wichtig ist dabei, die Auswirkungen der Überwachung nicht nur in Bezug auf eine allfällige Kriminalitätsreduktion auf der Grundlage von Polizeistatistiken zu betrachten. Dieser Aspekt wird im Folgenden vor allem durch eine Diskussion internationaler Evaluationsstudien zur Videoüberwachung abgedeckt. Daneben wird die Videoüberwachung im Rahmen der vorliegenden Arbeit auch allgemein als technische Form der Kontrolle des öffentlichen Lebens und als Möglichkeit der Beeinflussung von Verhaltensweisen zwischen sich gegenseitig unbekannten Personen diskutiert. Diese Vorgehensweise basiert auf der Ausgangsprämisse, dass die Videoüberwachung nicht nur potentielle Delinquenten trifft, sondern auch die übrigen Raumbenutzer, die sich durch die Überwachungskameras möglicherweise sicherer fühlen oder aber Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit befürchten.
Indem die Videoüberwachung sowohl aus der Perspektive ihrer Funktionsweise als Kontrollinstrument, wie auch im Hinblick auf ihre Wahrnehmung durch die Benutzer überwachter Räume thematisiert wird, werden zusätzlich die allgemeinen Wirkungen und Nebenwirkungen von Überwachungssystemen auf die Nutzung und Wahrnehmung öffentlicher Räume untersucht. Diese Absicht verfolgt auch die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung durchgeführte Fallstudie der Videoüberwachung in der Schweizer Stadt Olten. Dabei wird anhand eines empirisch begründeten Fallbeispiels gefragt, welche Auswirkungen sich durch die Videoüberwachung im Vergleich zu der traditionellen, auf dem gegenseitigen Blickkontakt beruhenden, sozialen Kontrolle ergeben, welche allgemeinen gesellschaftlichen und räumlichen Entwicklungen aus der Videoüberwachung resultieren und welche neuen Möglichkeiten und Gefahren mit dieser neuen Option zur Errichtung und Festigung einer "öffentlichen Ordnung" (Goffman 1982: 11) verknüpft sind.
1.3 Videoüberwachung und das Bild der "Risikostadt"
Diese Arbeit will nicht nur einen Beitrag zu einem verbesserten Verständnis der Möglichkeiten und Grenzen von Überwachungskameras leisten. Die verfolgten Forschungsabsichten richten sich ebenfalls auf die Rolle der Videoüberwachung als Indikator allgemeiner Entwicklungen urbaner öffentlicher Räume. In diesem Sinn werden am Beispiel der Videoüberwachung auch weiterreichende Fragestellungen angeschnitten, die aktuelle Veränderungen unserer Gesellschaft und unserer Städte betreffen.
Epistemologisch gesehen lässt sich die vorliegende Arbeit mit ihrem relationalen Forschungsansatz in den Fachbereich der kritischen Sozial- und Stadtgeographie einordnen. Ihr Forschungsgegenstand besteht weniger in dem Untersuchungsobjekt "Videoüberwachung" an sich, als vielmehr in den Beziehungen, die unterschiedliche Akteure mit und zu diesem Objekt einerseits, andererseits aber auch zu den überwachten Räumen unterhalten. Deshalb wird vor allem das sich innerhalb des Diskurses von Überwachern und Überwachten äussernde Bild der Videoüberwachung studiert. Folglich wird die vorliegende Arbeit in die Nähe der aktuellen städtischen Sicherheitsdiskussion gerückt. Auch der Diskurs der Überwachungsbefürworter verweist nämlich oft auf immer unhaltbarere Unsicherheits-Zustände, denen die heutige Gesellschaft nur noch in Form massiver Anstrengungen im Bereich der öffentlichen Sicherheit zu begegnen im Stande ist. Basierend auf der Vorstellung, dass sich die Folgeprobleme des gesellschaftlichen Wandels als soziale Entwurzelung und Verrohung in Form steigender Kleinkriminalität und wachsender Gewaltbereitschaft vorwiegend in urbanen Räumen manifestieren, wird dabei das Stadtleben in meist unbeabsichtigter Anlehnung an Berthold Brechts Oper vom "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" als "Leben mit riskanten Chancen" (Keupp 1994: 345) zwischen Verführung und Niederlage verstanden. Die Stadt wird nach diesem Verständnis immer mehr zur "Risiko-Stadt" (Beck 1994), die aufgrund ihrer steigenden Komplexität neue und akzentuierte Risiken beinhaltet.
In literarisch verdichteter Form wird das Bild der Risiko-Stadt treffend von Salman Rushdies Beschreibung Londons zum Ausdruck gebracht. Rushdie richtet seinen Blick auf kulturelle Gegensätze und Spannungen, auf den Identitätsverlust und die Entwurzelung sozialer Gruppen und Individuen sowie auf die durch Armut und Perspektivlosigkeit geschaffenen psychischen Abgründe und Qualen der Stadtbewohner. Es geht ihm um eine Grossstadt,
"die das Gefühl für sich selbst verloren hat und folglich in der ohnmächtigen, egoistischen, zornigen Gegenwart von Masken und Parodien schwelgt und erwürgt und entstellt von der unerträglichen, nicht zurückgewiesenen Last der Vergangenheit in die Trostlosigkeit ihrer verelendeten Zukunft starrt. (…) Die Häuser in den reichen Vierteln sind aus erstarrter Angst gebaut, die Regierungsgebäude teils aus Hochmut, teils aus Verachtung, und die Wohnungen der Armen aus Verwirrung und dinglichen Träumen" (Rushdie 1997: 424).
Vergleichbar mit der verbreiteten Rhetorik städtischer Sicherheitspolitik, lokalisiert Rushdie den Schauplatz städtischer Unsicherheitsphänomene vorwiegend in öffentlichen Aussenräumen. Diese werden als gesellschaftliches Konzentrat geschildert, in dem sich soziale Spannungen und Gegensätze verdichten. Sie enthalten demzufolge nicht nur konkrete Formen und Momente der Unsicherheit, sondern vermitteln auch die Empfindung von Unsicherheit. Öffentlicher Raum wird von Rushdie als trostloser, trennender Zwischenraum und als Abfallplatz verbrauchter Zivilisationsgüter beschrieben, die sinnbildlich das individuelle Scheitern der Stadtbewohner illustrieren.
"Die Türme stehen auf Stelzen, und in der Formlosigkeit des Betons darunter und dazwischen heult unablässig der Wind und strudelt Schrott: zerfallene Küchenteile, luftlose Fahrradreifen, Scherben zerbrochener Türen, Puppenbeine, Gemüsereste, die von hungrigen Katzen und Hunden aus Plastikmüllsäcken herausgezerrt wurden, Fast-Food-Packungen, kollernde Dosen, zerronnene Aussichten auf einen Job, aufgegebene Hoffnungen, verlorene Illusionen, verbrauchte Wut, angehäufte Verbitterung, ausgekotzte Angst und eine rostende Badewanne" (Rushdie 1997: 424).
Gleichwohl könnten öffentliche Räume als Orte der Kopräsenz von Fremden (Giddens 1995: 173) in denen sich "die Gesellschaft selbst ins Gesicht sieht" (Rauterberg 2001: 351) soziale Funktionen der Zusammenkunft, Mischung und Integration unterschiedlicher Nutzergruppen beinhalten. Sie sind also nicht nur mit Gefahren verbunden, sondern können auch Chancen bieten. Die am Beispiel Salman Rushdies dargestellten sozialen Spannungen in öffentlichen Räumen gehen im heutigen Kontext jedoch vielfach mit einer Verstärkung von Ordnungsbestrebungen einher. Soziale Vielfalt wird dabei nicht als Chance, sondern als alltägliche Bedrohung wahrgenommenen, der die Stadtpolitik in Form von Gesetzen, öffentlichen und privaten Sicherheitssystemen sowie der Verhärtung alltäglicher Normen begegnet. Auch werden Einkaufspassagen und kommerziell attraktive Innenstadtbereiche mit ihren Konsum orientierten Formen des Luxus um den Ängsten vor der Risiko-Stadt zu begegnen, durch architektonische und gestalterische Massnahmen oft deutlich von Problemgebieten getrennt. Im Hinblick auf die allgegenwärtige Syntax der Angst in unseren Städten, die sich nicht nur in der Gestaltung der gebauten Umwelt sondern auch in alltäglichen Formen der räumlichen und sozialen Segregation äussert, spricht Mike Davis (1990) bezugnehmend auf Los Angeles gar von einer "Ökologie der Angst", die unseren Bezug zur Stadt in ihrer gelebten und gebauten Form prägt.
Mit den wachsenden Ängsten verknüpft sind allerdings oft auch Bestrebungen der kommerziellen Nutzbarmachung, Domestizierung und Privatisierung öffentlicher Räume, wobei störende, unästhetische oder als gefährlich wahrgenommene Personen und Elemente - auch mit Hilfe der Videoüberwachung - bewusst verdrängt werden (De Certeau 1988: 265). Das Ziel ist nicht die Förderung eines vielfältigen, lebendigen öffentlichen Raumes, sondern die Absicherung eines störungsfreien Einkaufvergnügens. Das städtische Leben wird dabei durch Kontrollen und nötigenfalls durch vorbeugende oder sanktionierende Eingriffe in geordnete Bahnen gelenkt. Solche Formen städtischer Sicherheitspolitik können auch als Machtintervention in öffentlichen Räumen verstanden werden. Bei diesem Prozess spielen möglicherweise auch die Medien eine Rolle, die durch die Menge und die Emotionalität ihrer Berichterstattung die öffentliche Wahrnehmung der Stadt als Risiko-Raum prägen. Printmedien räumten beispielsweise in den 90er Jahren dem Thema "Kriminalität" etwa zehnmal mehr Platz ein als zu Beginn der 70er Jahre (Grüter 1994). In seiner auf Kriminalitätsstatistiken beruhenden Behandlung der Frage des "Endes der zivilisierten Stadt?" (1997) macht Manuel Eisner deshalb zu Recht auf die Diskrepanz zwischen der massenmedialen Problemwahrnehmung und der empirisch festgestellten Kriminalitätsentwicklung in der Schweiz aufmerksam (Eisner 1997: 12).
1.4 Videoüberwachung als Raumüberwachung
Das zuvor skizzierte Spannungsfeld öffentlicher Räume zwischen Risiko, Angst und Macht wird implizit auch in der öffentlichen Debatte um den Einsatz von Überwachungskameras zum Ausdruck gebracht. Dieser subjektiven Dimension der Sicherheits- und Videoüberwachungsproblematik soll in der vorliegenden Arbeit Rechnung getragen werden, indem beispielsweise die der Videoüberwachung entgegengebrachten Hoffnungen und Ängste untersucht werden.
Während Überwachungskameras von Befürwortern als Massnahme zur Verbesserung objektiver Gefahrenlagen und subjektiver Unsicherheitsempfindungen in Angsträumen verstanden werden, machen Kritiker auf Tendenzen der Privatisierung und Kommerzialisierung wirtschaftlich attraktiver Innenstadtbereiche aufmerksam, verbunden mit dem Ausschluss randständiger sozialer Gruppen sowie dem Verlust informationeller und dezisionaler Privatheit (Rössler 2001). Gemeinsam ist beiden Argumentationsweisen das ambivalente Verständnis der Videoüberwachung als Instrument der Raumkontrolle, das durch seine symbolische (präventive) Wirkung, aber auch aufgrund der raumspezifischen Informationsbeschaffung eine Grenze zwischen überwachten und unüberwachten Teilen des Raumes zieht. Die Videoüberwachung erschafft aus dieser Sichtweise eine räumliche Differenz, die die sozial-räumliche Realität des öffentlichen Raumes beeinflusst und gleichermassen eine die urbanen Ballungsräume immer dichter überziehende Sicherheits- und Machtgeographie begründet.
Die Eigenschaft der Videoüberwachung als Raumüberwachung lässt sich ebenfalls an der Konstitution von Kamerasystemen erkennen. Im Gegensatz zu "egozentrischen" Überwachungsgeräten, die sich mit ihrem Träger fortbewegen, bildet die Videoüberwachung eine "ortsgebundene" Sicherheitseinrichtung, d.h., einen Teil der geographisch festgelegten Ausstattung eines Raumes. Zwar können auch durch die Videoüberwachung Personen in Innenstadtbereichen und auf Schnellstrassen automatisch oder manuell über weite Strecken verfolgt werden. Im Gegensatz zu der Verfolgung eines Solofahrers bei Radrennen durch ein Fahrzeug einer Fernsehübertragungsstation werden die Kameras dabei jedoch nicht selbst mit der gefilmten Person fortbewegt. Die Verfolgung bewegter Gegenstände oder Personen wird durch Schwenkbewegungen der in erhöhter Position montierten Kameras sowie durch die Kombination mehrerer Überwachungskameras innerhalb eines ausgedehnten Gebietes erreicht. Die Möglichkeit der visuellen Kontrolle einer Person durch Videoüberwachung entfällt, sobald diese den durch die Kameras überwachten Raum verlässt. Die Informationen, die von dem Überwachungssystem übermittelt und gespeichert werden, weisen dadurch einen direkten räumlichen Bezug auf. Die Videoüberwachung kann in diesem Sinn als "räumlich-situativer Kontrollmodus" angesehen werden.
"Der neue Kontrollanspruch kann sich daher nicht mehr sanktionierend auf die Seele des Individuums richten und schwenkt über auf Orte, Plätze und Situationen. Der Einzelne wird erst in den Blick genommen, wenn er in diese Orte eintritt, und auch dann interessiert sein Verhalten nur in dem jeweils definierten Raum in der begrenzten Zeit seines Aufenthaltes" (Lindenberg/Schmidt-Semisch 1995: 10).
Aus dieser Beobachtung ergibt sich, dass gegenwärtige Anwendungsformen von Videoüberwachung in öffentlichen Räumen nicht personen-, sondern raumbezogen sind. Dies bedeutet: Obwohl Kameras (vor allem in privaten Räumen) auch personenspezifisch eingesetzt werden können ist die Videoüberwachung öffentlicher Räume von ihrer Konstitution her nicht auf Personen, sondern auf spezifische Lokalitäten ausgerichtet. Dies wird am Beispiel der polizeilichen Videoüberwachung in Stuttgart deutlich, wo Überwachungskameras wieder abmontiert werden mussten, nachdem in dem von ihnen kontrollierten Gebiet die negativen Vorfälle zurückgegangen waren. Dabei hatten sich die Kriminalitätsschwerpunkte ganz einfach auf andere Lokalitäten verlagert (Heffner 28.7.2003: online). Auch wenn durch die technische Entwicklung der Videoüberwachung Personen im Kamerabereich immer einfacher aufgrund ihrer biometrischen Gesichtsmerkmale oder ihrer Iris identifiziert werden können, ändert sich die Ortsgebundenheit der Videoüberwachung nicht grundsätzlich. Es werden zwar neue Überwachungsmöglichkeiten erschlossen, diese sind aber noch immer auf die überwachten Räume beschränkt.
Basierend auf dieser Ausgangsprämisse soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit Videoüberwachung aus der Perspektive ihrer Funktionsweise als Kontroll-Instrument von Räumen dargestellt und diskutiert werden. Voraussetzung ist hierfür, ein Raumverständnis zu entwickeln, das den sozialräumlichen Dimensionen des öffentlichen Raumes einerseits, aber auch der visuellen Überwachungspraxis andererseits gerecht wird. Dadurch wird die Notwendigkeit eines humangeographischen Untersuchungsansatzes der Videoüberwachung begründet, der die Behandlung des öffentlichen Raumes als Gegenstand der Überwachung in sein Zentrum stellt.