Roman
E-Book, Deutsch, 328 Seiten
ISBN: 978-3-95732-227-2
Verlag: Verbrecher Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jens Kirschneck, geboren 1966 in Minden, arbeitet seit mehr als zehn Jahren als Redakteur beim Fußballmagazin 11 Freunde in Berlin. Er hat für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften geschrieben, unter anderem für das Bielefelder StadtBlatt, die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Rundschau. Langjährige Erfahrungen als Lesebühnenautor. 2006 erschienen im Verbrecher Verlag seine Glossen 'Tragik im Alltag'.
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1 Der Teufel hat den Schnaps gemacht
Das Erste, was Grabowski an diesem Tag in den Sinn kommt, ist ein blöder Gedanke. Zumindest wäre der nüchterne Grabowski dieser Meinung gewesen, der noch besoffene ist zur Meinungsbildung vorerst nicht in der Lage. Der Gedanke lautet: Wussten Sie, dass eine Currywurst lediglich fünf Prozent Fleisch enthält? Üblicherweise hätte Grabowski dabei gelächelt, jetzt aber ist ihm nicht nach Lächeln zumute, was eher physischen als psychischen Ursachen geschuldet ist. Er hat in der Nacht zuvor siebzehn Tequila (und vier Bier) getrunken und sechs Frauen (und zwei Männern) die Zunge in den Hals gesteckt – und das alles, weil seine Exfreundin vor seinen Augen dasselbe gemacht hat: Tequila getrunken und einem (anderen) Mann die Zunge in den Hals gesteckt. Aber das weiß er in diesem Moment nicht mehr. Im Moment weiß er gerade noch, dass er Theo Grabowski heißt. Er steht auf und schlurft in seine winzige Küche, stößt sich den Kopf an der Dachschräge, flucht und nimmt die ranzige, längst nicht mehr silberfarbene spanische Espressokanne vom Herd. Ihm fällt auf, dass er die ganze Nacht seine Armbanduhr getragen hat, was ihm zwei Erkenntnisse beschert, auf die er lieber verzichtet hätte. Zunächst mal stellt er fest, dass der Chronometer erheblich beschädigt ist. Er ist stehen geblieben und das Glas über dem Zifferblatt ist zersplittert. Dann kommt ihm Pamela in den Sinn, denn die hat ihm die hübsche Uhr (Tissot!) zum Geburtstag geschenkt. Für den Bruchteil einer Sekunde flackert eine Ahnung davon auf, was am letzten Abend geschehen ist. »Scheiße, Pamela«, seufzt Grabowski, aber mehr innerlich. Damit ist die Lage ganz treffend zusammengefasst. Er nimmt den Kaffee mit ins Bett und versucht, seinen Kopf in Ordnung zu bringen, doch er kann sich tatsächlich an kaum etwas erinnern. Er glaubt, dass er zu viel getrunken hat, das kommt ja öfter mal vor; aber es fehlen belastbare Erinnerungen an konkrete Ereignisse. Stattdessen nur lose Fetzen, die auf diffuse Weise unangenehme Assoziationen wecken – und keinen blassen Schimmer, wie er nach Hause gekommen ist. Grabowski wird den Gedanken nicht los, dass etwas sehr Unerfreuliches passiert ist. Nachdem er eine halbe Stunde dagelegen hat und der kaum angerührte Kaffee kalt geworden ist, geht er aufs Klo und erbricht sich. Das unangenehm vertraute Aroma lässt ihn ahnen, dass er dies nicht zum ersten Mal in den letzten Stunden getan hat. Quasi aus dem Nichts fliegt ihm ein Bild zu: Pamela und Hanno. Grabowski saugt scharf Luft ein. Hanno! Künstlerjeck, manierierte Kanaille. Eine Welle des Ekels überkommt ihn, die er mit einem kümmerlichen Rest Magensaft in die Kloschüssel entsorgt. Danach schleppt er sich zurück ins Schlafzimmer. Seit Tagen ist es ungewöhnlich warm, selbst für Ende August, und obwohl es noch nicht sehr spät sein kann, liegt bereits eine brütende Hitze über der Stadt. Er reißt das Fenster auf, und eine homöopathische Dosis frischerer Luft vermischt sich mit der abgestandenen im Zimmer. Grabowski schaut auf den Wecker, dessen Batterie schon vor einer ganzen Weile den Geist aufgegeben hat. Er schaltet den Fernseher ein und sieht im Videotext, dass es gerade halb elf ist. Besser wäre, er würde noch etwas schlafen, doch das ist aussichtslos. Mit Restalkohol ist er traditionell kein guter Langschläfer, und auch wenn er nur wenig vom letzten Abend weiß, so weiß er doch eines ganz genau: dass er einen mordsmäßigen Kater hat. Lustlos durchstöbert er die Nachrichten. Eine Soulsängerin ist mit dem Flugzeug abgestürzt, ein korrupter deutscher Manager in Österreich verhaftet worden, und der norwegische Kronprinz hat eine Bürgerliche geheiratet. Die Welt ist über Nacht mal wieder nicht besser geworden. Wie ein Zerrbild aus dem Monstrositätenkabinett erscheinen erneut Pamela und Hanno: Pamela Arroyo, ein Meter achtundfünfzig, hollandblonde Halbspanierin mit koboldhaften Gesichtszügen und Grabowskis Exfreundin – falls diese Bezeichnung nach dem Ende einer hartnäckig als Affäre titulierten Verbindung gestattet ist – und Hanno Schlagmichtot, große Hoffnung der lokalen Kunstszene, aber wenn es nach Grabowski geht, nicht mehr als ein nichtsnutziger und ungewaschener Schrat, der bestimmt nur einmal die Woche die Unterhose wechselt, weil er wegen seines dauerhaften Kreativitätsrausches nie dazu kommt, die Wäsche zu machen. »Wieso, der schaut doch gut aus«, würde Pamela in ihrer unbefangenen Art sagen, »und er ist interessant.« Wenn der interessant ist, lässt sich das vermutlich auch über eine Kabelmuffe sagen, denkt Grabowski. Für ihn ist Hanno Schlagmichtot – den richtigen Nachnamen vergisst er stets absichtlich – nicht mehr als ein aufgeblasener Popanz, der in seiner verkaterten Sonntagmorgenfantasie überdies aussieht wie eine Figur von Manfred Deix. Und eben diese Deix-Figur taucht nun in seinem schmerzhaft klaren Erinnerungsfilm im Chihuahua auf, den rechten Arm lässig um die dreißig Zentimeter kleinere Pamela gelegt. Ungezwungen grinsend kommen die beiden herein, begrüßen Freunde, gehen an die Theke und lassen sich Tequila servieren, mit Zitrone und Salz, das volle Programm. Dann stellen sie sich an den Rand der Tanzfläche, und Hanno Schlagmichtot in der Manfred-Deix-Variante beugt sich herüber zu Pamela Arroyo – wegen des Größenunterschieds muss er ein bisschen in die Knie gehen – und katapultiert seine echsenartig hervorschießende Künstlerzunge in den Mund der aparten Halbspanierin. Grabowski ist keine drei Meter entfernt, doch er kann nicht weg, er ist festgetackert in diesem Laden, an dieser Stelle, denn er muss auflegen, noch fast eine halbe Stunde lang. Könnte also bitte, bitte jemand die Polizei rufen? Der aktuelle Grabowski wechselt zu den Sportnachrichten, um die bösen Bilder aus seinem Kopf zu verbannen. Im DFB-Pokal sind die Überraschungen ausgeblieben, lediglich der FC Teutonia hat sich schwergetan: 0:0 nach Verlängerung gegen einen Verein aus der sechsten Liga, dann erst der Sieg im Elfmeterschießen, mit Hängen und Würgen. Grabowski kann sich die Reaktionen der Verantwortlichen lebhaft vorstellen. Trainer Udo Jäger wird drastische Maßnahmen für die kommende Trainingswoche ankündigen, während Manager Volker Wunsch (»So darf man sich einfach nicht präsentieren!«) wieder mal Abbitte bei den mitgereisten Fans leisten muss. Grabowskis zuvor mechanisch die Meldungen des Videotextes anwählender Daumen hält inne. Ganz kurz hat das Thema in seinem toxisch verseuchten Gehirn eine Saite zum Klingen gebracht, nur eine winzige Irritation. Jedenfalls ist er froh, dass man ihn nicht zu diesem Grottenkick geschickt hat, auch wenn er das Geld natürlich gut hätte brauchen können. Doch der Anzeiger hat für den Besuch solcher »Pille-Palle-Spiele« (O-Ton Chefredakteur Hannemann) kein Geld. Da tut es dann auch mal der Sport-Informations-Dienst. Grabowski geht unter die Dusche und genießt den warmen Strahl auf seiner partykontaminierten Haut. Leider regnen mit dem Wasser auch einige nicht sehr schöne Erinnerungen auf ihn herab. In chronologisch sortierter Reihenfolge (und ansteigender Peinlichkeit) sind es folgende: 1.) Ein Dialog mit Sandra Behrens. Grabowski kennt sie nur vom Sehen und hat noch nie mit ihr geredet, doch als nach seiner überfälligen Entlassung aus dem DJ-Gefängnis Pamela und Hanno den freien Abzug zur Theke blockiert haben, hat er sich in seiner Not zu Sandra geflüchtet, die in der Nähe stand und das Geschehen auf der Tanzfläche beobachtete. Sandra Behrens hat, dem inländisch klingenden Namen zum Trotz, etwas Asiatisches an sich, und weil ihm gerade nichts Besseres eingefallen ist, hat er gegen die Musik angebrüllt: »Sag mal, wo genau kommen eigentlich deine Eltern her?« Sandra hat ihn komisch angesehen und zurückgebrüllt: »Von hier!« Spätestens damit hätte Grabowski es gut sein lassen müssen, aber er hat noch mal nachgehakt: »Ich meine, ursprünglich!« – »Immer noch von hier!«, hat Sandra Behrens geschrien, jetzt lauter als nötig. Wahrscheinlich hat er danach betreten aus der Wäsche geschaut, jedenfalls hat sie versöhnlich hinzugefügt: »Sie bestehen nun mal darauf. Was soll ich machen?« 2.) Die kurz darauf (aus beiderseits unerfindlichen Gründen) erfolgten Küsse mit Sandra Behrens; und der weniger unerfindliche, dafür umso unredlichere Versuch seinerseits, Sandra und sich während der Aktion so um die eigene Achse zu drehen, dass es Pamela unmöglich war, nicht zu sehen, was vor sich ging. 3.) Sandra Behrens’ gerechter Zorn, als sie bemerkt hat, was da gespielt wurde. 4.) Ein Zungenkuss mit seinem alten Bandkumpel Tommy Bandow (ob der ebenfalls in Pamelas Sichtfeld stattgefunden hat, kann Grabowski nicht sagen, da ihm spätestens ab da jeglicher Durchblick fehlte). 5.) Die öffentlichen Reaktionen auf den Kuss mit Tommy Bandow, vor allem von René Peter, der schmierigen Koksnase: »Dann will ich aber auch!« Anschließend (bei der Erinnerung schüttelt es ihn) ein Zungenkuss mit René Peter. 6.) Plötzlich auftretende Übelkeit an der Theke. Er hat noch lässig mit seinen DJ-Getränkemarken gewedelt, als auf einmal die pure Säure aus seinen Eingeweiden nach oben geschossen kam. Gerade so hat er es...