E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: textura
Tierfabeln oder Genauso-Geschichten
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Reihe: textura
ISBN: 978-3-406-68350-3
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auf originelle und ironische Weise werden kindliche Warum-Fragen zum Ausgangspunkt für die abenteuerlichsten Erklärungen, wie etwa das Kamel zu seinem Höcker kam, warum der Elefant so einen langen Rüssel hat und wie das Alphabet entstand. Kipling, auch ein begabter Zeichner, steuerte zu der Buchausgabe auch eigene Illustrationen bei.
Unsere Ausgabe folgt der ersten deutschen Übersetzung unter dem Titel 'Nur so Märchen' aus dem Jahre 1903 von Sebastian Harms.
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Wie der Leopard zu seinen Flecken kam
In den Tagen, mein Liebling, als alles neu und hübsch war, lebte der Leopard auf einem Platz, der hieß das Hohe Feld. Erinnere Dich, es war nicht das Niedrige Feld und nicht das Buschfeld und nicht das Sauere Feld, sondern ausschließlich das nackte, heiße, steinige Feld, wo Sand und sandfarbige Felsen und ausschließlich Büschel von sandig gelblichem Gras waren. Die Giraffe und das Zebra und das Elen und das Kudu und das Hartebeest lebten da auch; und sie waren ausschließlich sandig-gelblich-bräunlich über und über; aber der Leopard war der ausschließlich sandigste, gelbste, bräunlichste von allen – eine graugelbliche Art von Tier, das aussah wie eine Katze; und er paßte auf ein Haar zu der gelblichen, graulichen, bräunlichen Farbe von dem Hohen Feld. Das war sehr schlimm für die Giraffe und das Zebra und die anderen; denn er legte sich nieder auf einen ausschließlich gelblichen, graulichen, bräunlichen Stein oder einen Haufen Gras, und wenn die Giraffe oder das Zebra oder das Elen oder das Kudu oder der Buschbock oder der Buntbock vorbeikamen, überfiel er sie und jagte sie hinaus aus ihrem springerigen Leben. Das tat er wirklich! Da war auch ein Äthiopier mit Bogen und Pfeilen (ein ausschließlich graulicher, bräunlicher, gelblicher Mann – das war er damals), und er lebte mit dem Leopard auf dem Hohen Feld. Und die beiden jagten zusammen – der Äthiopier mit seinen Bogen und Pfeilen, der Leopard ausschließlich mit seinen Zähnen und Tatzen –, bis die Giraffe und das Elen und das Kudu und das Quagga nicht mehr wußten, wohin sie springen sollten. Sie wußten’s wirklich nicht, mein Liebling! Nach einer langen Zeit – die Dinger lebten wer weiß wie lang in jenen Tagen – lernten sie, allem, was aussah wie ein Leopard oder wie ein Äthiopier, aus dem Wege zu gehen; und nach einem Weilchen – die Giraffe tat es zuerst, denn sie hatte die längsten Beine – liefen sie weg von dem Hohen Feld. Sie trippelten Tage und Tage und Tage, bis sie an einen großen Wald kamen, der war ausschließlich voll von Bäumen und Büschen und streifigen, fleckigen, schlüpfrigen, hüpfrigen Schatten, und da verbargen sie sich. Und nach einer anderen langen Zeit wurde von dem Stehen halb im Dunkel und halb aus dem Dunkel und von den schlüpfenden, hüpfenden Schatten der Bäume, die auf sie fielen, die Giraffe ganz fleckig, und das Zebra wurde streifig, und das Elen und das Kudu wurden dunkler, mit kleinen, welligen, grauen Linien auf ihren Rücken, wie Rinde auf einem Baumstumpf; und Du konntest sie riechen, und Du konntest sie hören, aber Du konntest sie nur sehr selten sehen, und auch nur dann, wenn Du ganz genau wußtest, wohin Du sehen mußtest. Sie hatten eine wunderschöne Zeit in den ausschließlich fleckigen, klecksigen Schatten des Waldes, während der Leopard und der Äthiopier umherrannten auf dem ausschließlich graulichen, gelblichen, bräunlichen Hohen Feld und sich wunderten, wo ihre Mittagsmahlzeiten und ihr Frühstück und ihr Tee geblieben waren. Zuletzt wurden sie so hungrig, daß sie Ratten und Käfer und Felsenkaninchen fraßen; und da kriegten sie furchtbare Leibschmerzen alle beide; und dann begegnete ihnen der Pavian, der hundsköpfige, bellende Pavian, der das allerweiseste Tier in ganz Südafrika ist. Sagte Leopard zum Pavian (und es war ein sehr heißer Tag): «Baviaan, wo ist all unser Wild hingekommen?» Und Pavian blinzelte. Er wußte es. Sagte der Äthiopier zum Pavian: «Kannst du mir den gegenwärtigen Aufenthalt der einheimischen Fauna angeben?» (Das bedeutete ganz dasselbe, aber der Äthiopier brauchte immer lange Worte. Er war eine erwachsene Person.) Und Pavian blinzelte. Er wußte es. Dann sagte Pavian: «Das Wild ist auf einem anderen Fleck; und mein Rat, Leopard, ist: Gehe in andere Flecken, sobald du kannst.» Und der Äthiopier sagte: «Das ist alles sehr fein, aber ich wünsche zu wissen, ob die einheimische Fauna migriert ist?» Da sagte Pavian: «Die einheimische Fauna ist zu der einheimischen Flora gegangen, denn es war hohe Zeit für eine Luftveränderung; und mein Rat, Äthiopier, ist: daß du eine Veränderung vornimmst, sobald du kannst.» Das wunderte den Leoparden und den Äthiopier, und sie machten sich auf, um nach der einheimischen Flora zu suchen. Und nach wer weiß wie vielen Tagen sahen sie einen großen, hohen Wald, ganz voll von Baumstämmen und ganz ausschließlich fleckigen, kleckigen, gleitenden, schreitenden, schlüpfrigen, hüpfrigen Schatten. (Sage das ganz schnell und laut, dann wirst Du sehen, wie sehr schattig der Wald gewesen sein muß.) Das ist der weise Pavian, der hundsköpfige Babuin, der das weiseste Tier in ganz Südafrika ist. Ich habe ihn nach einer Statue gezeichnet, die ich aus meiner Erinnerung gemacht habe, und habe seinen Namen auf seinen Gürtel und seine Schulter und auf das Ding geschrieben, auf dem er sitzt. Ich habe es in einer Schrift geschrieben, die man weder Koptisch noch Hieroglyphen, noch Keilschrift, noch Bengalisch, noch Birmaisch, noch Hebräisch nennt, und dies nur deshalb, weil er so weise ist. Er ist nicht schön, aber er ist sehr weise, und es würde mich freuen, wenn ich ihn mit Tuschfarben malen dürfte, aber ich darf es nicht. Das schirmartige Ding um seinen Kopf ist seine Mähne, nach der Mode der Paviane. «Was ist dies?», sagte der Leopard. «Das ist so ausschließlich dunkel und doch so voll von kleinem bißchen Licht?» «Ich weiß es nicht», sagte der Äthiopier, «aber es könnte die einheimische Flora sein. Ich kann Giraffe riechen, und ich kann Giraffe hören, aber ich kann Giraffe nicht sehen.» «Das ist sonderbar», sagte der Leopard, «vermutlich kommt es daher, daß wir gerade aus dem Sonnenschein kommen. Ich kann Zebra riechen, und ich kann Zebra hören, aber ich kann Zebra nicht sehen.» «Wart ein bißchen», sagte der Äthiopier. «Es ist lange her, daß wir sie gejagt haben. Vielleicht haben wir vergessen, wie sie aussehen.» «Firlefanz», sagte der Leopard. «Ich erinnere mich ihrer ganz genau, besonders ihrer Markknochen. Giraffe ist ungefähr 17 Fuß hoch und ist ausschließlich bräunlich-gold-gelb – vom Kopf bis auf die Füße; und Zebra ist ungefähr viereinhalb Fuß hoch und ist ausschließlich graulich-rehfarbig vom Kopf bis auf die Füße.» «Hm!» machte der Äthiopier und blickte in die schlüpfrigen, hüpfrigen Schatten des einheimischen Florawaldes. «Dann sollten sie in diesem dunklen Ort sich zeigen wie reife Bananen in einer Räucherkammer.» «Um Himmels willen», sagte der Leopard, «laß uns warten, bis es dunkel ist. Dies Jagen bei Tageslicht ist ein Skandal.» So warteten sie denn, bis es dunkel war, und da hörte der Leopard etwas schnüffeln und schnauben. Und das Sternenlicht fiel ganz streifig durch die Zweige. Und da sprang er auf das Geschnüffel zu, und es roch wie Zebra, und es fühlte sich an wie Zebra, und wie er es niederwarf, trat es wie Zebra, aber er konnte es nicht sehen. Da sagte er: «Sei ruhig, du Person ohne Figur! Ich will auf deinem Kopf sitzen, bis es Morgen ist, denn da ist etwas um dich herum, was ich nicht verstehe.» Dann hörte er ein Grunzen und einen Krach und ein Getrampel, und der Äthiopier rief: «Ich habe ein Ding erwischt, das ich nicht sehen kann. Es riecht wie Giraffe, und es tritt wie Giraffe, aber es hat keine Figur.» «Trau ihm nicht», sagte der Leopard. «Setz dich auf seinen Kopf, bis es Morgen wird – so wie ich. Sie haben keine Figur, alle nicht.» So setzten sie sich auf sie bis zum hellen Morgen, und dann sagte der Leopard: «Was hast du auf deinem Speisetisch, Bruder?» Der Äthiopier kratzte sich den Kopf und sagte: «Es sollte ausschließlich bräunlich-gelblich-rehfarbig sein vom Kopf bis auf die Füße, und es sollte Giraffe sein, aber es hat über und über kastanienbraune Flecken. Was hast du auf deinem Speisetisch, Bruder?» Und der Leopard kratzte sich den Kopf und sagte: «Es sollte ausschließlich zart-graulich-rehfarbig sein, und es sollte Zebra sein; aber es hat über und über schwarze und rote Streifen. Was in der Welt hast du mit dir angefangen, Zebra? Weißt du nicht, daß ich dich auf dem Hohen Feld zehn Meilen weit sehen konnte? Du hast ja keine Figur.» «Ja», sagte das Zebra, «aber hier ist nicht das Hohe Feld. Siehst du das nicht?» «Jetzt sehe ich es», sagte der Leopard. «Aber gestern konnte ich es nicht sehen. Wie wird es gemacht?» «Laßt uns aufstehen», sagte das Zebra. «Wir wollen es euch zeigen.» Dies ist das Bild von dem Leoparden und vom Äthiopier, nachdem sie des weisen Pavians Rat befolgt, der Äthiopier seine Haut verändert hatte und der Leopard in andere Flecken gegangen war. Der Äthiopier wurde ein richtiger Äthiopier, und...