E-Book, Deutsch, 252 Seiten
King Hotel Seattle
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-406-79102-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 252 Seiten
ISBN: 978-3-406-79102-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Vierzehnjährige verknallt sich in einen verheirateten Mann und träumt von der großen Romantik, bis sie erfahren muss, dass Liebe und Lust zwei einander entgegengesetzte Dinge sein können. Ein junger Mann outet sich und verliert daraufhin seinen besten Freund, dessen Unsicherheit in Aggression umschlägt. Eine Frau kämpft damit, die Abweisung ihrer Teenager-Tochter zu ertragen und fühlt sich dabei so einsam wie nie, doch die Verbindung einer Mutter zu ihrem Kind kann so leicht nicht erschüttert werden. Lily Kings Erzählungen sind berührend, überraschend, hoffnungsvoll – und zum Glück auch ein wenig romantisch.
Sie ist die große Chronistin emotionaler Extremzustände - Lily King beherrscht den ungeschönten Blick auf harte Schicksale und zwischenmenschliche Krisensituationen meisterhaft. Gleichzeitig hilft sie ihren Figuren immer wieder zurück auf Pfade der Euphorie und Zuversicht, lässt sie Neuanfänge wagen, sich doch noch einmal Hals über Kopf verlieben, zweite Chancen geben oder unmoralische Abenteuer eingehen. Auch in «Hotel Seattle» geht es um große Gefühle, allen voran um die Liebe in all ihren schönen und schrecklichen Facetten.
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KREATUR
Im Sommer, als ich vierzehn war, einige Monate nachdem meine Mutter mit mir bei meinem Vater ausgezogen war, bekam ich einen Babysitterjob bei einer alten Dame in Widows’ Point angeboten. Ich sollte zwei Wochen lang auf ihre Enkelkinder aufpassen. Mrs Pike ließ im Laden meiner Mutter ihre Kleider anpassen, und die beiden hatten alles vereinbart, ohne mich vorher zu fragen. Der Job war anders als sonst, es ging nicht nur um ein paar Stunden babysitten. Ich sollte dort wohnen. Ich kann mich nicht an das Gespräch mit meiner Mutter erinnern, ob ich Lust darauf hatte oder einen Streit anfing. Ich stritt mich damals wegen jeder Kleinigkeit mit ihr. Der Widows’ Point war eine Landzunge, die wie eine langstielige Bratpfanne in den Atlantik ragte. Bei Ebbe sah man vor der Küste im offenen Meer ein halbmondförmiges Felsenband, aber bei Flut versteckte es sich vollständig unter Wasser. Es waren zweifellos diese Felsen, die mehrere Hundert Jahre zuvor die Witwen, die der Landzunge ihren Namen gegeben hatten, zu solchen gemacht hatten. Um von unserer Wohnung in der Innenstadt zu den Pikes zu gelangen, musste ich an dem Haus vorbeiradeln, in dem ich aufgewachsen war, es lag auf dem Stiel der Bratpfanne und gehörte noch immer meinem Vater. Er war wieder in der Entzugsklinik, diesmal in New Hampshire, aber trotzdem duckte ich mich, als ich vorbeifuhr. Ich sah nur das Blumenbeet an der Straßenseite, das seit letztem Herbst nicht gepflegt worden war. Neue Triebe und Knospen kämpften sich durch braune Hülsen. Wir waren bereits zum dritten Mal ausgezogen, und ich hoffte, dass es das letzte Mal war. Danach fiel die Straße ab und schlängelte sich um die Landzunge. Ein verziertes Schild verkündete: Privatweg. Die meisten der riesigen Häuser wurden von hohen Hecken verdeckt, sodass alles überwuchert und wie in einem Dornröschenschlaf wirkte. Als Kinder waren wir hier oft entlanggeradelt, hatten das Warnschild ignoriert und uns schaudernd ausgemalt, im Gefängnis zu landen, wenn wir erwischt würden, aber wir hatten uns nie in eine der Einfahrten getraut. Trotzdem waren wir mit den vielen Säulen und den alten, verblichenen Namensschildern bestens vertraut gewesen. Die Einfahrt der Pikes war viel länger als gedacht. Auf der Straße hatte die Sonne auf meinen Rücken gebrannt, aber jetzt war es kühl und dämmrig, und die riesigen Bäume rechts und links von mir ließen ihre Blätter rauschen. Mir fiel nur eine einzige Person ein, die genau das gemacht hatte, was ich jetzt tat, und das war Maria aus The Sound of Music. Als sie sich mit ihrer Gitarre auf den Weg vom Kloster zur Trapp-Villa machte, sang sie ein Lied über das Mutigsein. Aber ich hatte den Text vergessen, also sang ich You Are Sixteen Going on Seventeen, bis hinter mir eine laute Hupe ertönte und ich mit dem Rad von der Straße abkam, in eine flache Rinne stürzte und sanft auf dem Laub des Vorjahrs landete. Über mir sah ich einen Mann in schwarzem Anzug und Fliege, der mir etwas zurief. «Geht’s dir gut da unten?», meinte ich, ihn fragen zu hören. Er hatte einen Akzent. Das R rollte er mit der Zunge, es kam nicht hinten aus der Kehle. Ich antwortete, dass alles okay sei. Er stieg nicht ins Laub hinab, um mir zu helfen, wartete aber, bis mein Rad und ich wieder auf der Straße standen. Sein Gesicht war lang gestreckt, und er hatte einen kreisrunden Glatzkopf, beides zusammen sah wie eine Kugel Eis in der Waffel aus. «Du bist hier, um die kleinen Wesen zu bändigen?» «Ja», sagte ich unsicher. «Dann treffen wir uns gleich unten. Geh hintenrum. Nimm die linke Seite. Nicht den Unterstellplatz.» Damit meinte er wohl die Garage. Erst nachdem er weitergefahren war, fiel mir das Auto mit seinem scheppernden Motor, dem fehlenden Dach und der langnasigen Motorhaube auf. Es war ein Oldtimer. Noch einmal hörte ich die Hupe, sehr laut, sogar aus der Ferne. Ganz anders als eine normale Autohupe. Eher wie das Halbzeitsignal bei einem Footballspiel. Kein Wunder, dass es mich vom Rad geholt hatte. Das Wort Ballhupe kam mir in den Sinn und begleitete mich, während ich die restliche Einfahrt entlangfuhr. Meine Sommerlektüre war Jane Eyre, ich steckte mittendrin. Das Wort hatte ich wohl aus dem Buch. Das Haus kam in Sicht, nach und nach. Die Straße machte eine Kurve, und ich sah zunächst einen Teil davon, dann mit jedem Meter mehr, bis der ganze Kasten in seiner vollen Größe vor mir stand. Ein Herrenhaus. Grauer und weißer Stein mit Türmchen und Balkonen und anderen Dingen, die hervorsprangen, sich wölbten oder eingebuchtet waren und für die ich keine Namen hatte. Ich hatte mir schon gedacht, dass es ein Herrenhaus sein würde, weil die Leute es alle so nannten, aber alles, was wir uns darunter vorstellen konnten, war ein Haus wie unsere kleinen Cape-Cod-Cottages, nur viel breiter und höher. Doch Herrenhäuser, stellte ich fest, waren nicht aus Holz. Sie waren aus Fels. Eine große geschwungene Treppe führte feierlich zur Eingangstür hinauf, aber ich sollte ja «hintenrum» gehen. Von hinten sah das Haus genauso schick aus wie von vorne, weniger Treppenstufen bis zur Tür, aber die gleichen verzierten Säulen und die gleiche Steinbalustrade um eine breite Veranda. Der Mann von der Straße wartete auf mich, neben ihm eine Frau in gestreiftem Kleid und weißen Schuhen. Sie führten mich ins Haus, durch einen dunklen Flur zu einem Vorratsraum. Dort stand ein quadratischer Tisch mit einem karierten Wachstuch und drei zusammengewürfelten Stühlen. Die Frau fragte mich, ob ich Hunger hätte, und obwohl ich verneinte, servierte sie Salzcracker und orangefarbene Käsescheiben. Sie presste ein kleines Rädchen mit Speichen in einen Apfel, zauberte acht gleichmäßige Schnitze hervor und schmiss das Gehäuse weg. Wir setzten uns an den Tisch. Ich wunderte mich, warum wir in so einem kleinen, tristen Zimmer saßen, wo ihnen doch das ganze Haus zur Verfügung stand. «Wo sind Ihre Kinder?», fragte ich die Frau. Ich nahm an, dass ich meine Anweisungen eher von ihr als vom Vater bekommen würde. Ich hatte noch nie eine erwachsene Person rot werden sehen. Sie errötete sofort, so, wie ich es von mir kannte, im ungünstigsten Farbton, den man sich vorstellen konnte, als ob das Blut gleich aus der Haut tropfen würde. «Ich habe keine Kinder», sagte sie. Schweiß perlte auf ihrer Lippe, und sie stand schnell auf, um meinen Teller in die Spüle zu stellen. Der Mann lachte. «Die Kinder, auf die du aufpassen sollst, gehören keinem von uns! Zeig ihr die Räume oben und klär das arme Mädchen auf.» Ich folgte der Frau drei Stockwerke hinauf. Die Hintertreppe hatte blanke Holzstufen, das Geländer war speckig, und es roch nach Kartoffelchips. Wir bogen in einen lichtdurchfluteten breiten Flur mit langen hohen Fenstern ein, die den Himmel über uns einrahmten. Nachdem wir an mindestens fünf Schlafzimmern vorbeigegangen waren, zeigte die Frau auf eines zu ihrer Linken, als ob sie es eben erst für mich ausgewählt hätte. Aber als ich einen Blick hineinwarf, sah ich einen Stapel Handtücher am Fuß des Bettes und den grünen Koffer meiner Mutter auf einer Holzablage liegen. Für einen Augenblick dachte ich, meine Mutter wäre auch hier, doch als ich eintrat, war niemand da. Ich hatte vergessen, dass sie den Koffer bereits am Sonntag hergefahren hatte. Die Frau sagte, ihr Name sei Margaret, und wann immer ich sie bräuchte, fände ich sie unten in der Küche. «Die Kleinen sind mit ihrer Mutter an den Strand gefahren, aber zum Mittagsschlaf sollten sie wieder hier sein. Man wird dich dann sicherlich rufen.» Ihr Akzent war anders als der des Mannes. Fremd, aber anders. Mir wurde bewusst, dass die beiden wahrscheinlich gar kein Ehepaar waren. Als die Frau weg war, schloss ich die Tür und sah mich um. Zum ersten Mal hatte ich ein Zimmer, das nichts mit meinen Eltern, ihrem Geschmack oder ihren Regeln zu tun hatte. Ich fühlte mich wie Marlo Thomas in Süß, aber ein bisschen verrückt, wie ein Mädchen mit einer ganz eigenen Wohnung. Das Zimmer war schlicht. Es gab zwei Einzelbetten, auf denen der gleiche weiß gestrickte Überwurf lag, die geriffelten Bettpfosten aus Eichenholz ragten bis auf Augenhöhe hoch und waren an den Enden wie Tannenzapfen zugespitzt. Zwischen den Betten stand ein Nachttisch mit Kattundeckchen, gerade groß genug für eine Glaslampe mit Zugschnur und einen Aschenbecher, auch aus Glas, mit einem Stier in der Mitte und vier Einkerbungen am Rand für Zigaretten. Als ich jünger war, hatte ich zusammen mit meiner Freundin Gina ein bisschen geraucht, heimlich im Wald, aber inzwischen war ich rausgewachsen. Obwohl der Aschenbecher sauber ...