Kim | Bewegungsparteien und Volksparteien neuen Typs | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 209 Seiten

Kim Bewegungsparteien und Volksparteien neuen Typs

Neue Formen politischer Organisation in Europa

E-Book, Deutsch, 209 Seiten

ISBN: 978-3-593-46077-2
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Seit 2010 sind neue Formen der Parteiorganisation zu sichtbaren Bestandteilen des Parteienwettbewerbs in vielen europäischen Ländern geworden. Dieses Buch greift das in aktivistischen und demokratietheoretischen Debatten zunehmend verbreitete Vokabular von Horizontalität und Vertikalität auf und entwickelt einen diskursiv-organisatorischen Forschungsansatz zur Einordnung horizontaler und vertikaler Spielarten parteiförmiger Organisationspraxis. Im Mittelpunkt stehen dabei Bewegungsparteien und Volksparteien neuen Typs als paradigmatische Formen horizontaler bzw. vertikaler Parteiorganisation. Unter Berücksichtigung zahlreicher aktueller Fallbeispiele aus ganz Europa untersucht Seongcheol Kim die Funktionsweise dieser Parteitypen im dynamischen Spannungsfeld zwischen horizontal verflachter Koordination und vertikal zugespitzter Führung.

Dr. Seongcheol Kim ist Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien der Universität Bremen. https://orcid.org/0000-0001-8920-9369
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1.Einleitung


In diesem Band geht es um neue Formen von Parteiorganisation, die insbesondere seit 2010 in Europa in den Vordergrund gerückt sind. Das Jahr 2010 markierte mit dem ersten Troika-Memorandum zu Griechenland den Beginn der sog. Eurokrise, aber mit den Antiregierungsprotesten in Tunesien auch den Beginn einer globalen Protestwelle um die sog. Platzbewegungen (engl. ), die dezentral und ohne Federführung von Parteien und Verbänden mit öffentlichen Platzversammlungen und -besetzungen im Namen des gesamten ›Volkes‹ oder auch der ›Bürgerschaft‹ auftraten. Mit den Indignados- und Aganaktismenoi-Protesten in Spanien bzw. Griechenland 2011 für »echte Demokratie« und gegen Austeritätsmaßnahmen sowie den Platzbewegungen gegen autoritäre Machthaber im MENA-Raum sowie in Russland (2011/12), der Türkei (2013) und der Ukraine (2013/14) waren viele Hoffnungen verbunden, dass die 2010er Jahre ein neues Zeitalter der Demokratisierung markieren würden. Zu dieser erhofften und auf vielen öffentlichen Plätzen bereits im Entstehen begriffenen Demokratisierungswelle gehörten für viele Beobachter:innen neue Formen politischer Organisation: Insbesondere in zeitgenössischen Debatten innerhalb der radikalen Demokratietheorie war von ›horizontalen‹, führungslosen, netzwerkartigen Organisationsformen als präfigurativer Praxis der selbstverwalteten Demokratie in den Protestlagern und -versammlungen die Rede. Nach dem Abebben dieser Proteste wiederum richteten sich viele gespannte Blicke auf Parteiphänomene wie Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien oder auch die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, die anscheinend versuchten, die die Impulse solcher Protestbewegungen mit massenhaften Platzversammlungen und innerparteilichen Partizipationsmechanismen in die eigene organisatorische Funktionsweise aufzunehmen – und gleichzeitig, so die naheliegende Kritik, in ›vertikale‹ führungszentrierte Parteiorganisationen zu überführen.

Der Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes besteht in dieser Begegnung zwischen Bewegungen und Parteien, zwischen (scheinbarer) Horizontalität und Vertikalität, zwischen dem radikaldemokratischen Moment der Platzproteste und dem vieldiskutierten ›populistischen Moment‹, mit dem zahlreiche Parteien, die an die Platzbewegungen anzuknüpfen versuchten, in Verbindung gebracht wurden. Vor diesem Hintergrund haben Begriffe wie Horizontalität und Vertikalität, die insbesondere an der Schnittstelle von aktivistischen Diskursen und radikalen Demokratietheorien weitverbreitete Verwendung gefunden hatten, auch als analytische Kategorien an Zulauf und Plausibilität gewonnen, um politische Organisationsformen im Wandel und im Mittelpunkt des Politikgeschehens in zahlreichen Ländern in den Blick zu nehmen. Das Ziel des vorliegenden Bandes besteht darin, das Vokabular von Horizontalität und Vertikalität aus der radikalen Demokratietheorie aufzugreifen, mit der etablierten Parteienforschung zusammenzudenken und auf Typenbildung inklusive Analysen prominenter Fallbeispiele aus ganz Europa anzuwenden. Welche Formen horizontaler und vertikaler Parteiorganisation sind insbesondere seit 2010 in Europa entstanden und durch welche Merkmale und Funktionsweisen zeichnen sie sich aus? Was bedeutet es überhaupt, dass eine Partei ›horizontal‹ oder ›vertikal‹ geprägt ist? Welche Spielarten horizontaler und vertikaler Parteiorganisation gibt es im Allgemeinen und wie stehen sie im Verhältnis zueinander? Die Antworten auf diese Fragen werden im Kontext dieses Einleitungskapitels skizzenhaft angerissen und dann im Laufe des Bandes sukzessiv herausgearbeitet. Die Hauptthese besteht darin, dass und (VNTs) jeweils paradigmatische Spielarten horizontaler bzw. vertikaler Parteiorganisation darstellen und die Funktionsweise von Horizontalität bzw. Vertikalität im Parteiwesen exemplarisch zur Schau stellen. Dieses Argument wird sowohl durch eine Bestandsaufnahme radikaldemokratischer Theoriedebatten zu Horizontalität und Vertikalität als auch mit einer Lektüre einflussreicher Theorien der Parteiorganisation in der klassischen Parteienforschung untermauert und in den einzelnen Kapiteln anhand illustrativer Fallbeispiele aus dem linken, zentristischen und rechten Parteienspektrum veranschaulicht.

Im Folgenden wird der Gegenstand des Bandes in fünf Blöcken präsentiert, die eine Vorschau der nachfolgenden Kapitel bieten: 1) erste theoretische Überlegungen zum Themenkomplex Horizontalität, Vertikalität und Parteiorganisation; 2) eine Bestandsaufnahme der etablierten Bezugspunkte zu Parteiorganisation im Wandel innerhalb der modernen Parteienforschung; 3) die Herausarbeitung der diskursiv-organisatorische Forschungsperspektive dieses Bandes; 4) anschließende Überlegungen zum analytischen Vorgehen und zur Quellengrundlage in den einzelnen Kapiteln; und schließlich 5) ein Gesamtüberblick über die Struktur des Bandes.

1.1Horizontalität, Vertikalität und politische Organisation: erste Überlegungen


Als erster theoretischer Ausgangspunkt fungiert die Begegnung zweier Politikformen sowie Diskussionsstränge in der Forschung – nämlich radikaler Demokratie und Populismus – im Kontext der neuen Krisen- und Protestkonjunktur der frühen 2010er Jahre. Vor dem Hintergrund der Platzbewegungen gab es in der radikalen Demokratietheorie rege Diskussionen über den ›horizontalen‹ und radikaldemokratischen Charakter dieser Bewegungen als netzwerkartige und präfigurative Praxis einer selbstverwalteten Organisation von Demokratie auf den Plätzen (vgl. Stavrides 2012; Prentoulis und Thomassen 2013; Sitrin und Azzellini 2014; Butler 2015) und/oder als Ausdruck der immanenten Widerstandskraft einer global verkehrenden Multitude (vgl. Lorey 2012; Hardt und Negri 2013; Kioupkiolis und Katsambekis 2014). Es kristallisierten sich innerhalb dieser Rezeption insbesondere zwei prominent vertretene Theoriestränge heraus: ein um Hardts und Negris (2002; 2004) Theorie des Empire und der Multitude zentrierter Strang hob das führungslose und unkoordinierte Zusammenkommen körperlicher Singularitäten in »offenen, hierarchiefreien Versammlungen« (Hardt und Negri 2013, 62) ohne jegliche Überführung in ›vertikale‹ repräsentationsbasierte Strukturen hervor, wohingegen ein weiterer Theoriestrang im Anschluss an die Diskurs- und Hegemonietheorie Laclaus und Mouffes ([1985] 2012) gerade den Moment der Überführung radikaldemokratischer Protest- in gegenhegemoniale (auch populistische) Führungs- und Herrschaftsansprüche als Dreh- und Angelpunkt jeglichen Potenzials für radikalen politischen Wandel fokussierte. Für Beobachter:innen wie Gerbaudo (2017a; 2017b) und Mouffe (2018; Errejón und Mouffe 2015) bestand das Interessante an den Platzprotesten nicht zuletzt darin, dass diese fruchtbare Kombinationsmöglichkeiten von Horizontalität und Vertikalität, von radikaler Demokratie und Populismus aufzeigten. In diesem Zusammenhang plädierte Mouffe mit Blick auf den Aufstieg linkspopulistischer Projekte wie Syriza und Podemos für eine »neue politische Organisationsform«, die die verschiedensten Protestforderungen sowohl radikaldemokratisch in »horizontale Ausdrucksformen« einbinden als auch vertikal um den Namen eines populistisch reklamierten Volkssubjekts mit dem Anspruch auf die Erlangung der Regierungsmacht zusammenführen müsse (Errejón und Mouffe 2015, 113 f.).

Bereits in diesen Überlegungen deutet sich an, dass das Spannungsverhältnis zwischen radikaler Demokratie und Populismus einen aufschlussreichen theoretischen Ausgangspunkt für eine Annäherung an Horizontalität und Vertikalität bieten kann. Insbesondere im Spiegel der radikalen Demokratietheorie Laclaus und Mouffes ([1985] 2012) und der Populismustheorie Laclaus (2005a; 2005b) weist das Verhältnis von radikaler Demokratie und Populismus einen illustrativen Charakter für eine grundlegende Spannung zwischen Horizontalität und Vertikalität auf, die sich in der jeweils konstitutiven Funktion der horizontalen Autonomie intersektionaler Kämpfe und der vertikalen Repräsentations- und...


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