E-Book, Deutsch, 240 Seiten
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-95935-521-6
Verlag: Diplomica Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
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Textprobe:
Kapitel 5 Biographieforschung als Vorstufe der Sprachbiographieforschung:
Die Beschäftigung mit der eigenen Biographie fängt heutzutage nicht nur in den westlichen europäischen Gesellschaften sehr früh an. Bereits in der Schule befassen sich Schüler mit dem Lebenslauf, sobald sie ein Praktikum suchen. Die wichtigsten Punkte der Schulbildung und die beruflichen Tätigkeiten als Eckdaten des Lebenslaufs sollen immer wieder ergänzt bzw. abgeändert werden, da der Arbeitsmarkt sich gewandelt hat und man öfter als früher mit dem Wechsel der Arbeitsstelle und des Arbeitsortes konfrontiert wird.
Seit einigen Jahrzehnten ist es üblich geworden, dass Prominente eine Biographie verfassen bzw. verfassen lassen, sobald sie ein geeignetes Alter dafür erreicht oder ein wichtiges Amt beendet haben. In diesem Sinn bemerkt Rosenthal (1994:125f) auch einen „Boom biographischer Forschung“ seit den 1970er-Jahren und sieht die Konzeption der Biographie als soziales Gebilde. Dabei weist Horsdal (1994:126) auf zwei wichtige Punkte hin, und zwar auf die Konstitution der sozialen Wirklichkeit und der Erfahrungs- und Erlebniswelten der Subjekte und erläutert weiter, dass sie sich in einem dialektischen Verhältnis von lebensgeschichtlichen Erlebnissen und Erfahrungen und gesellschaftlich angebotenen Mustern befindet, das zur Transformation und zu dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft führt.
Rosenthal (1994:128) betont auch den sozialhistorischen Aspekt der biographischen Erzählungen:
Die Konzeption der erzählten Lebensgeschichte sieht Rosenthal (1994:129) methodologisch als soziales Gebilde und behauptet, dass die Rekonstruktion der erzählten Lebensgeschichte als soziale Realität und nicht als Fiktion anzusehen ist, denn „erzählte Wirklichkeit repräsentiert und [liegt] jenseits der Intentionen der Subjekte“, und es wird das Allgemeine am konkreten Einzelfall rekonstruiert. Rosenthal (1994:132) erläutert, dass die Realitäten bei der erzählten Lebensgeschichte als sozialem Gebilde nicht außerhalb, sondern innerhalb der Erzählung liegen.
Weiterhin entwickelt Rosenthal (1994:130) eine Konzeption bezüglich der Biographieforschung von erlebter und erzählter Lebensgeschichte. Die erlebte Lebensgeschichte definiert Rosenthal (1994:130) als „objektiv Stattgefundenes und subjektiv Gedeutetes, damals Erlebtes und im Erinnerungsprozeß subjektiv Verfälschtes“.
Rosenthal (1994:133) sieht eine wechselseitige Konstruktion sowohl zwischen Ereignis und Erlebnis als auch zwischen Erlebnis und Erinnerung. Erzählte Lebensgeschichten verweisen laut Rosenthal (1994:134) also immer sowohl „auf das heutige Leben mit der Vergangenheit wie auch auf das damalige Erleben dieser vergangenen Ereignisse“.
Kruse (2014:325) sieht Biographien als Gestalten aus subjektiv konstruierten Sinndeutungen des eigenen Lebenslaufs und behauptet, dass biografisches Wissen sowohl Ausdruck als auch Funktion und Mittel dieser Konstruktion ist. Kruse (2014:327) betrachtet die Biographie einerseits als ein kulturelles Phänomen und andererseits als eine individuelle Konstruktionsleistung, sodass Biographien also nie rein individuelle Konstruktionsleistungen, aber auch nie völlig sozial determiniert sind. Die Biographie kann als soziologisches Konstrukt auch als ein vermittelndes Bindeglied zwischen Subjekt und Gesellschaft betrachtet werden.
Der Begriff Biographie (Griechisch: „Leben“ und „schreiben“) bezieht sich laut Rosenthal (2014:509) nicht nur auf Geschriebenes, sondern auch „auf in Gesprächen mitgeteilte biografische Selbst- oder Fremdbeschreibungen“.
Biographische Beschreibungen werden „bei Behörden, in Gerichtsverfahren, in Bewerbungsgesprächen, in ärztlichen Settings, in religiösen Handlungszusammenhängen, in der massenmedialen Kommunikation, im Kontext sozialer Arbeit oder im Rahmen von Konfliktmanagement und Friedensförderung sowie in vielen weiteren sozialen Feldern“ benutzt. Deswegen erfolgt nach Rosenthal (2014:509) die biographische Selbstpräsentation sehr unterschiedlich, und sie nennt als Beispiel Migranten und -innen, die in unterschiedlichen Kulturen und Staaten sozialisiert sind, denn „gesellschaftliche, institutionelle und familiale Regeln bzw. die Regeln unterschiedlicher Diskurse geben vor, was und was nicht sowie wie, wann und in welchen Kontexten etwas thematisiert werden darf“.