Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-293-30686-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Ein Bild
Mariam war die liebste Erinnerung, das teuerste Andenken, das schönste Bild in mir. Sie teilte mein Exil, und wenn ich an sie dachte, zog es mich zurück nach Jerusalem. Dann spürte ich wieder die Ketten aus Karub und Nelken um meinen Hals, und mir hüpfte das Herz wie einem verliebten Zwanzigjährigen. Jene ferne Zeit ist mir so nah, ist Freundschaft und Liebe. Frei wie ein Sperling schwinge ich mich dann empor, mit Flügeln und Augen aus goldenen Spiegeln, um meine Welt zu entdecken und Jerusalems Kuppeln zu schauen. Jetzt ist Jerusalem eine andere Stadt, ist Vergangenheit und Geschichte. Aber einst waren Mariam und Jerusalem eins. All das gehört dem Gestern an – Jerusalem, meine Erinnerungen, meine erste Liebe! Ich lebe im Heute und habe doch keine Gegenwart. Mariam und meine Geschichte sind verloren. Mein Dasein ist zerstört, meine erste Liebe ist dahin und mit ihr mein Enthusiasmus. Wie lange habe ich nach der Liebsten gesucht, nach Erinnerungen und einer Zukunft. Doch ich fand nichts als Vergangenheit – ein verblichenes Bild, den leisen Widerhall von Glocken über einem Klosterhof. Ist es wirklich Jerusalem? Und ist dort Mariam? Wohnt dort die Liebe, das Gedächtnis, die Sehnsucht? Ach, meine Seele ist angebunden. Wie ein Papierdrachen steht sie in der Luft, steigt weder auf, noch sinkt sie zu Boden. Die Geschichte meiner Liebe gleicht einem Drachen aus Papier. Alles hängt am Faden – meine Seele, meine Erinnerung, ich selbst. Die Geschichte begann damit, dass ich vor einer Heirat flüchtete, die mein Onkel arrangiert hatte. Ich weigerte mich, suchte mir eine Anstellung in einem gottverlassenen Nest am Stadtrand von Jerusalem. Doch mich quälte das Gewissen. Ich mochte meinen Onkel, den Künstler, und gab mir die Schuld, dass er nun traurig und enttäuscht war. Er hatte so viel Hoffnung in den Jungen gesetzt, der mit offenem Mund bestaunte, was er zeichnete und malte, und hingegeben lauschte, wenn er die Laute spielte. Traurig sagte er dann: »Du hättest mein Sohn sein sollen, du bist ein Künstler.« Als Entschädigung für die Stumpfheit seiner eigenen Kinder wünschte er sich, dass ich seine Tochter heiratete. Sie hatte zartblaue Augen und war hübsch wie ein Porzellanpüppchen. Aber ich ergriff die Flucht vor meinem Onkel und seiner filigranen Tochter. Ich ließ meine gebrechliche Mutter und meine Schwester Sara allein in Jerusalem zurück, mietete mir ein düsteres Zimmer im Dorf und besuchte die Familie nur noch in den Schulferien und an Feiertagen. Das Zimmer war groß, es nahm fast die ganze Wohnung ein. Das Gebäude stammte aus alter Zeit. Es war aus mächtigen Steinen errichtet und mit Naturstoffen, vor allem Mist, befestigt. Zement gab es damals nicht. Das Dach wölbte sich wie die Kuppel einer Moschee, und durch die kleinen Luken drang kaum Licht herein. Ich ließ Tag und Nacht die Lampe brennen, damit ich wenigstens ahnte, wohin ich meine Füße setzte. Die alten Steinbänke, Wasserbecken und Futtertröge für das Vieh, die Hühner und Truthähne hatte ich mit Brettern und Kissen abgedeckt und mir daraus Sitzgelegenheit, Regal und Schrank gebaut. In diesem Käfig lebte ich völlig zurückgezogen. Ich ging nicht einmal spazieren, bis der Frühling kam. Erst als die Welt sich allmählich erwärmte, der Boden grünte und die Knospen sprangen, durchstreifte ich das Dorf und erkundete die Berge und Täler der Umgebung. Von einem felsigen Hügel genoss ich den weiten Blick über die Strände von Netanya, Jaffa und Tel Aviv bis hin zum Horizont und träumte von einem Roman, in dem ich dieses Land und seine Geschichte beschreiben würde. Wie glücklich würde das meinen Onkel machen, immerhin hatte er mich in die Welt der Kunst eingeführt. Doch dann sah ich vor mir sein finsteres Gesicht und seine üble Laune, als ich die Heirat mit seiner beschränkten Tochter ablehnte. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und verkroch mich tagelang, bis der Trübsinn endlich verflog. Denn der Frühling lockte mit dem Duft der Gärten, und ich ging wieder hinaus, um auf den Feldwegen beim Gesang der Vögel zu träumen. Eines Tages gelangte ich an die Südseite des Dorfes. Ich entdeckte einen Friedhof, der mir bisher nicht aufgefallen war. Die niedrigen Grabplatten waren mit Kreuzen geschmückt und trugen seltsame Namen: Michel, Anton, Antoinette, Simon … Plötzlich wurde mir bewusst, dass beim Läuten der sonntäglichen Kirchenglocken die Hälfte der Dorfbewohner verschwand und viele Läden geschlossen blieben. Ich bemerkte auch, dass es im Dorf eine zweite Schule gab, die weder staatlich noch karitativ war. Sie unterstand der Kirche. Der Geistliche trug einen Spitzbart und erinnerte eher an einen Künstler. Er sprach ein reines, fehlerloses Arabisch und predigte mit einem Reichtum an Worten, der mich beeindruckte. Er pries die Geschichte der Araber und die vorislamische Poesie und lehrte seine Schüler Lieder und Hymnen aus der Geschichte unseres Volkes. Ich lernte diese Hymnen von ihm, um sie danach meinen Schülern beizubringen. Auf diese Weise entdeckte ich, dass es innerhalb meiner Gesellschaft eine ganz eigene Gemeinschaft gab, fortschrittlich war sie und liebenswürdig. Wäre ich ungebunden, könnte ich mir gut vorstellen, in diesem Boden Wurzeln zu schlagen. Ich gewöhnte mir an, jeden Sonntag auf den Hügel zu steigen. Von dort blickte ich hinunter auf die Kirche und den Friedhof. Ich beobachtete die jungen Mädchen und Männer, die in ihren Sonntagskleidern fröhlich lachend zum Gottesdienst gingen. In einigem Abstand folgten die alten Frauen in schwarzen Gewändern und Schleiertüchern, bedächtig schwankend wie eine Entenschar mit vollen Kröpfen. Dann erklangen die Choräle, die Stimmen der Frauen mischten sich mit denen der Männer. Funkelnd perlten die Töne von den Dachziegeln der Kirche und strömten weithin über die Olivenbäume und Pinien bis zum fernen Horizont. Mir wurde so leicht ums Herz, so frei. Ich flog auf und davon mit den Vögeln, hoch über alle Wolken. Ich weiß nicht mehr, wann und wieso ich mich in Mariam verliebte. Vielleicht war es zuerst nur eine Stimmung, die mich mit rätselhaftem Zauber überwältigte. Oder hatten die seltsamen Geschichten über Mariam meine Fantasie erregt? Ich verliebte mich Hals über Kopf, plötzlich war ich wie toll, außer Stande, mich auf irgendetwas zu konzentrieren. Ich war gleichzeitig zerstreut und bedrückt, sehnsuchtsvoll und melancholisch, und alles ohne logischen Grund. Dabei hatte ich sie nicht einmal aus der Nähe gesehen, hatte weder ihre Stimme gehört noch gar mit ihr gesprochen. Monatelang wusste sie überhaupt nichts von mir. Ach, diese Monate, dieser überquellende Frühling, diese Gedichte und Choräle und vor allem die Orgel! Vielleicht war sie an allem schuld. Oder waren es die zauberhaften Sonnenuntergänge auf dem Hügel, die Färbung des Himmels, der rote Abenddämmer? Wie ein schwarzer Schemen kam ihre Gestalt mit der Dunkelheit, wenn das Licht über der Welt und den verwitterten Gräbern verblasste. Wie ein Punkt glitt sie aus grauer Vorzeit über diesen Friedhof mit seinen römischen Säulenfragmenten und einem uralten Ölbaum aus der Epoche des Messias, in dessen Schatten einst Nureddin Zengi beim Feldzug zur Befreiung Jerusalems geruht haben soll. Vor meinem Auge verschwamm alles; die Welt wurde zum Paradies, zum Tempel der Mysterien! Auch Mariam gehörte zu diesem Traum, und genauso meine Gedichte, meine Legenden und die Erzählungen der Schriftsteller aus den Fünfzigerjahren. Es begann an einem Sonntag. Ich saß wie immer auf dem Hügel, um die Kirchgänger zu beobachten. Nachdem sie durchs Dorf gezogen waren, sammelten sie sich im Hof und traten zum Gottesdienst in die Kirche. Erst tönte die Orgel, dann die kraftvolle Predigt des Priesters und ein getragener Choral. Ich wartete im Duft des Frühlings, im Schatten der Pinien, bis sie bei Sonnenuntergang wieder herauskamen. Eine Gestalt trennte sich von der Gruppe und ging allein zum Friedhof. Vor einem Grab blieb sie stehen. In meinen Augen war sie ein schwarzer Punkt, der sich vollkommen geräuschlos bewegte. Die Stimmen verhallten, gruppenweise verschwanden die Gläubigen, nur sie verharrte im roten Dämmerschein. Ich geriet in Panik, als stünde ich am Rande eines Abgrunds. War es eine Vorahnung? Lag es an der zauberhaften Stimmung, der melancholischen Einsamkeit oder jugendlichen Sehnsucht? Überbordete meine Fantasie? Sie weinte nicht. Sie las in einem kleinen Buch, und an ihrem Handgelenk baumelte ein feiner Rosenkranz. Ich erkannte das Kreuz, es war winzig wie ein Falter. Sie trug ein schwarzes Tuch aus gestickter Spitze. Eine Ziehtochter der Nonnen, dachte ich. Vielleicht eine Novizin, die ihr Gelübde noch nicht abgelegt hat und erst am Anfang des Weges steht. Ich wollte ihr den Weg abschneiden. Am liebsten wäre ich vom Hügel zu ihr hinabgesprungen, um sie zu trösten. Du bist ein Bild, ein Gedicht, ein Engel, würde ich ihr sagen, ja eine Liebesgeschichte, die es zu leben lohnt. Fliehen wir! Aber wohin, vor wem und wieso? Wer mochte sie sein? Was war ihre Geschichte? Wen hatte sie verloren? Hieß sie Salma? Fadwa? Nadschwa? Nein, ihr Name war Mariam. Nach langen Erkundigungen fand ich ihn heraus. Ich erfuhr auch, dass sie ihren kleinen Bruder Michaux beweinte und fast allein war, denn ihre älteren Geschwister lebten in Brasilien. Sie wohnte hier mit ihrer halb blinden Mutter und erhielt Unterstützung von ihren Brüdern und anderen Verwandten. Es war eine weit verzweigte Familie. Sie besaßen Ländereien bis an den Hügel – Olivenhaine, Weinberge und Plantagen voller Feigen-, Granatapfel- und Quittenbäume. Dort drüben, an der Seite des Hügels, stand ihr neues Haus, erbaut mit dem Geld des...