Keyserling | Fräulein Rosa Herz | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 576 Seiten

Keyserling Fräulein Rosa Herz

Roman

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

ISBN: 978-3-641-17222-0
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In seinem ersten Roman widmet sich Eduard von Keyserling dem prekären Glück der Besitzlosen. Voller Mitgefühl und Sympathie zeichnet er die Figur der Rosa Herz, die um ihrer ersten Liebe willen zum radikalen Bruch der Konventionen bereit ist. Rosa Herz ist siebzehn Jahre alt und hat einen einzigen Wunsch: der Enge und Biederkeit der Kleinstadt zu entfliehen. Beim Gedanken an eine Zukunft als Lehrerin an der Töchterschule und Ehefrau des schmierigen Ladendieners Lurch packt sie das Grauen. Als der charmante Ambrosius Tellerat in der Stadt auftaucht, verströmt er den abenteuerlichen Duft der weiten Welt und verzaubert Rosa auf der Stelle. Doch ihrer Liebe stehen allerlei Hindernisse im Weg – und es bräuchte einen willensstärkeren Mann als Ambrosius, um sie zu überwinden.Mit Rosa Herz, dem Mädchen aus kleinen Verhältnissen, aber mit großen Träumen von Freiheit und Selbstbestimmung, schuf Eduard von Keyserling (1855-1918) eine seiner liebenswertesten Frauenfiguren. Ihren Ausbruchsversuch aus den gesellschaftlichen Zwängen - und dessen bittere Konsequenzen – schildert Keyserling mitreißend und mit scharfem Witz. Die bigotten Spießbürger werden der Lächerlichkeit preisgegeben. Was zunächst wie das subtil-ironische Porträt einer provinziellen Idylle daherkommt, entpuppt sich als beißende Kritik an einer Gesellschaft, die jede Abweichung gnadenlos ächtet.
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ERSTES KAPITEL Den Ort, an dem Fräulein Rosa Herz das Licht der Welt zuerst erblickt hatte, vermochte keiner anzugeben. Wo ihre Wiege gestanden – ob sie überhaupt je eine Wiege besessen –, wer konnte es wissen! Über jenen Teil von Fräulein Rosas Leben hatte sich undurchdringliches Dunkel gebreitet. Herr Klappekahl, der Apotheker, war gewiss ein Mann von seltenem Scharfblick. Ein halbes Jahr hatte er in der Residenz verlebt, und die Früchte jenes Aufenthaltes, ohne Zweifel, waren: Weltklugheit, Bildung, skeptische Klarheit in der Beurteilung der verwickeltsten Verhältnisse; Eigenschaften, die ein jeder ihm zuerkannte. Vielleicht auch ein Anflug von Frivolität, aber – «Mein Gott!», meinte er, «wer kann sich in der verderbten Weltstadt davor bewahren!» Herr Klappekahl nun pflegte zu sagen, wenn das Gespräch auf Rosa Herz kam: «Ihren Geburtsort? Gott, wer soll den kennen! Solche arme Würmer kommen ebenso geräuschlos und plötzlich zur Welt wie die Pilze nach dem Sommerregen. Gelegentlich einmal, während eines Zwischenaktes, hinter einer alten Kulisse, was weiß ich! – Das Publikum klatscht und ruft. Dann tritt der Regisseur vor und dankt, denn die Fee oder der Engel kann nicht erscheinen, ein kleines Unwohlsein … Und in einer Ecke hört man’s piepen. In einer verstaubten Papprüstung – auf einem wackeligen Theaterthron liegt etwas in Gazefetzen gewickelt und wimmert. Das ist dann das Kind, Fräulein Soundso, Fräulein Rosa. Es wird mit all dem Plunder zusammengepackt, und weiter geht es. Glauben Sie, Madame Herz oder Monsieur Springinsfeld erinnerten sich schließlich selbst daran, wo die Geschichte mit dem Kinde passierte? Gott bewahre! Das geht alles so geschwind; heute hier, morgen dort. Ich kenne das!» Was kannte Herr Klappekahl nicht! Und hier hatte er, wie sonst immer, recht. Rosas Mutter war Balletttänzerin, ihr Vater Balletttänzer gewesen. Während des rastlosen Umherziehens von einer Stadt zur anderen war Rosa geboren worden; doch kostete ihre Geburt der armen Madame Herz das Leben. Herr Herz – traurig, einsam, des Tanzens müde, sehnte sich danach, sein unstetes Leben mit einem ruhigeren zu vertauschen. Auf diesem Standpunkte angelangt, gedachte er wieder seiner Heimatstadt. Als Knabe hatte er sie verlassen, zum Leidwesen seines Vaters, des braven Schustermeisters Herz, um, statt für die Füße anderer Leute zu sorgen, sich mit den seinigen unsterblichen Ruhm zu erwerben. Jetzt sehnte sich sein alterndes Herz nach der friedlichen Heimat zurück. Sein Vater war längst tot, aber eine Schwester lebte ihm noch; eine musterhafte Schwester. Als Herr Herz von dem Verluste seiner Gattin betroffen ward, langte ein schwarzgerändertes Schreiben von Frl. Ina Herz an, voll schwesterlichen Bedauerns und frommer Ermahnungen. Am Schluss meinte die gute Seele: Da die kleine Rosa der mütterlichen Pflege beraubt sei, möge man ihr das Kind bringen; sie wolle für dasselbe sorgen und ihm eine zweite Mutter sein. – Gerührt von so viel Liebe, beschloss Herr Herz, nicht nur das Kind, sondern auch sich selbst der Sorgfalt seiner guten Schwester anzuvertrauen. So begab er sich denn mit seiner Tochter in seine Heimatstadt zurück. Anfangs zwar war Fräulein Ina über diese Wendung der Dinge ein wenig bestürzt; aber ihre mutige Seele fand sich selbst in die neue Lebenslage hinein. Die ganze Familie Herz versammelte sich traulich um einen Herd und lebte in Eintracht von dem kleinen Vermögen des Fräulein Ina, denn Herr Herz hatte aus seiner langen Künstlerlaufbahn nur steife Beine und greise Haare gerettet. «Ertanztes Geld», meinte er – und er hatte seinerzeit viel ertanzt –, «sei, weiß es Gott, das unbeständigste der Welt!» Fräulein Ina pflegte ihre Schutzbefohlenen mit jener zarten Aufopferung, die besonders alten Frauenherzen eigen zu sein scheint, denen das Leben es lange Zeit versagt hat, ihre Liebebedürftigkeit zum Ausdruck zu bringen. Die müden Füße des Balletttänzers durften jetzt in bequemen Pantoffeln ausruhen, und die stille, geordnete Häuslichkeit gewährte dem geplagten Komödianten-Herzen ein tiefes Behagen. Herr Herz wurde mit seiner alten Schwester selbst zur alten Jungfer. Er besuchte fleißig die Kirche, ward Mitglied des Armenvereines; sammelte eifrig die kleinen Ereignisse der Stadt, um sie eifrig wieder auszutragen. Sah man die Geschwister Herz beieinander, so fand man mehr männliche Entschlossenheit in Fräulein Ina als in ihrem Bruder. Auf die kleine Rosa ward die äußerste Sorgfalt verwandt. Fräulein Ina ließ das Kind nicht aus den Augen; es musste zu ihren Füßen auf dem Teppich spielen, sie sang es des Abends mit tiefer, heiserer Stimme in den Schlaf; sie nahm es stets in die Kirche mit. Rosa schlief zwar während des ganzen Gottesdienstes; Fräulein Ina jedoch meinte, der bloße Aufenthalt in dem heiligen Raum müsste guttun; vielleicht hoffte sie auch dadurch gewisse weltliche Einflüsse zu bannen, die bei der Geburt des Kindes gewaltet haben mochten. Nachdem Herr Herz sich eine Zeit lang ausgeruht hatte, fühlte er wieder den Drang nach Beschäftigung in sich erwachen, auch quälte ihn das Bewusstsein, nur auf die Mildtätigkeit seiner Schwester angewiesen zu sein. Die Stelle eines Turnlehrers am städtischen Gymnasium war frei. Er bewarb sich um dieselbe und erhielt sie. Daneben erbot er sich, jährlich, von Weihnacht bis zu den Fasten, den heranwachsenden Herren und Damen des Städtchens Tanzunterricht zu erteilen. Das einträchtige Beisammenleben mochte einige Jahre gedauert haben, als Fräulein Ina eines Morgens ihrem Bruder melden ließ, er möge beim Frühstück nicht auf sie zählen, da sie, eines leichten Unwohlseins wegen, länger im Bett bleiben wolle. Aber auch um die Mittagsstunde, als er aus dem Gymnasium heimkehrte, fand er seine Schwester nicht im Wohnzimmer. Er eilte in ihre Schlafkammer. Da lag sie bleich und regungslos auf ihrem Bett. Die kleine Rosa saß auf dem Estrich daneben und spielte mit der herabhängenden Hand ihrer Tante. Fräulein Ina war tot. Dieser Verlust musste den armen Herrn Herz auf das Empfindlichste treffen. Nicht nur die Liebe zu der treuen Schwester weinte in seinem Herzen; neben dieser tapfern und kräftigen Genossin hatte er sich entwöhnt, für sich und sein Kind zu sorgen. Wie eine wohltätige Vorsehung hatte Fräulein Ina um ihn gewaltet und ihm jede Aufregung eines Entschlusses erspart. Jetzt, dieser Stütze beraubt, fühlte er sich hilflos und verwaist. Auf die Trauerbotschaft eilten viele Nachbarn herbei und staunten den alten Mann an, der wie ein Kind weinte, liebevoll den Arm der Toten streichelte und immer wiederholte: «Schwester, was fange ich nun an? – Und die Rosa? – Schwester, dass du das tatest!» Herr Klappekahl bemerkte zu diesem Auftritt: «So einer von der Bühne hat doch mehr Sentiment und Aplomb als jeder andere Christenmensch.» Agnes Stockmaier, die alte Dienerin, hüllte ihre Herrin in das schwarzseidene Abendmahlkleid, setzte ihr die schwarze Spitzenhaube auf und legte ihr ein Kruzifix in die bleichen Hände. So trug man Fräulein Ina zum Friedhof hinaus. Der Pfarrer Raser hielt am Grabe eine erbauliche Rede, in der er die Verdienste der Dahingeschiedenen nicht genug zu preisen wusste und ihr reichen Himmelslohn verhieß. Die zahlreich erschienenen Freunde drückten die Taschentücher an die Augen und sprachen halblaut miteinander: «Also ganz plötzlich?» «Ja, ein sanfter Tod!» «Gott sei gelobt!» Dann blinzelte der eine oder der andere zur hellen Märzsonne auf und meinte gefühlvoll: «Sie hat ein wahres Gotteswetter für ihre letzte Reise.» Herr Herz stand bleich, eine große Kreppschleife am Hut, vor der Gruft und blickte, jetzt gefasst, vor sich nieder. Agnes Stockmaier trug die kleine Rosa auf dem Arm, die, fest in ein schwarzes Umschlagtuch gehüllt, staunend all die ernsten Menschen anblickte und die zarten Linien ihres Gesichtchens verzog, als wollte sie weinen. Im Haushalt der Herz’ übernahm nun Agnes Stockmaier die Rolle ihrer verewigten Herrin. Sie besorgte die Wirtschaft, erzog Rosa, ja hatte auch gewissen Einfluss auf die Verwaltung des kleinen Vermögens, welches Fräulein Ina ihrem Bruder hinterlassen hatte. Herr Herz fügte sich willig in die neue Herrschaft, froh, sich wieder seiner gewohnten Sorglosigkeit hingeben zu dürfen. Er ging jetzt mehr aus; saß des Abends im Klub und spielte Whist. Sonst blieb alles beim Alten. Fräulein Schank, die Freundin des Fräulein Ina und Vorsteherin der städtischen Töchterschule, kam zuweilen, um nach Rosa zu sehen, und erteilte ihr auch den ersten Unterricht, als die Zeit dazu herankam. ZWEITES KAPITEL Als Rosa Herz ihr siebzehntes Jahr erreicht hatte und Primanerin der Schank’schen Schule war, gab ein jeder im Städtchen es zu, dass Rosa ein sehr hübsches, lustiges und gutes Kind sei. Nur eines ward ihr mit Recht vorgeworfen: Sie glaubte berechtigt zu sein, ohne irgendeinen triftigen Grund jede beliebige Unterrichtsstunde versäumen zu dürfen, nur weil die Sonne gerade besonders hell schien oder weil, wie sie meinte, Fräulein Schanks Gesicht ihr heute besonders zuwider war. Wenn ihre Mitschülerinnen sich auf die Bänke setzten und gespannt auf die Türe blickten, durch welche die Lehrerin eintreten sollte, stülpte Rosa den braunen Sommerhut gleichmütig auf den blonden Kopf und verließ mit verbindlichem Lächeln, als täte sie das Selbstverständlichste von der Welt, das Zimmer. Dagegen vermochten weder Strafarbeiten noch Ermahnungen, noch die strengsten Verweise etwas auszurichten. Nachlässig, als gäbe es keine Lehrerin, die ihr begegnen könnte, stieg sie die...


Keyserling, Eduard von
Eduard von Keyserling (1855–1918) stammt aus altem baltischem Geschlecht, studierte Kunst und Jura und begann schon früh mit dem Schreiben. Als freier Schriftsteller lebte er zunächst in Wien, später in Italien und München, wo er der Schwabinger Boheme angehörte. Durch eine Krankheit erblindet, vereinsamte Keyserling in den letzten Lebensjahren zunehmend.


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