Widerstand und Opfergang einer bürgerlich und christlich geprägten Familie im NS-Staat 1933 bis 1945
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-7392-6282-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stephan Kessler, geboren 1947 in München, wurde in seiner Jugend stark von den Erzählungen über den Widerstand gegen die Nazis in seiner Großfamilie wie auch der Freundschaft seines Vaters mit dem Jesuitenorden, vor allem zu Pater Alfred Delp und Pater Augustin Rösch, geprägt. - Nach einer kaufmännischen Lehre und seiner Tätigkeit als Angestellter trat er als Lyriker mit acht Gedichtbänden (zwei bei Books on Demand), Fotograf, Maler und Sänger öffentlich in Erscheinung und engagiert sich ehrenamtlich im sozialen Bereich.
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Versuche, mich dem Thema Nationalsozialismus zu nähern
Meine Kindheit war, der ich knapp zwei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, insbesondere von der Rolle meines Vaters geprägt, die er zuvor während der NS-Zeit als Widerständler gegen den Nationalsozialismus eingenommen hatte. Zugleich wurde mir, solange ich zuhause wohnte, immer wieder seine besondere Beziehung zum Jesuitenorden vor Augen geführt, zumal ich schon damals innig christlich glaubte. Dort hatte er viele Freunde, die bei uns ein- und ausgingen. Vor allem kam ich mit den Namen der Jesuitenpatres Augustin Rösch, Alfred Delp, Rupert Mayer in Berührung, die im Widerstand gegen die Nationalsozialisten eine größere Rolle spielten und außer Pater Mayer meinem Vater nahestanden. Pater Augustin Rösch hatte mich getauft, und ich besuchte ihn als 14-Jähriger zusammen mit meinem Vater am Sterbebett. Auch erhielt ich sein Sterbekreuz. Mein Bruder Alfred Sebastian war das Patenkind von Pater Alfred Delp, der von den Nazis zum Tode verurteilt und erhängt wurde. Als ich mit acht Jahren einen schweren Unfall an den Füßen erlitt, wurde für mich zu Pater Rupert Mayer gebetet, der aufgrund einer Kriegsverletzung oberschenkelamputiert war und eine Beinprothese trug. Er hatte als Geistlicher und Prediger den Nationalsozialisten mutig die Stirn geboten, war eingesperrt worden; 1987 wurde er in München selig gesprochen. Das Beten half: Mein Fuß konnte gerettet werden. Dessen ungeachtet verspürte ich viel später, also etwa seit dem Jahr 2000 immer stärker den Drang, etwas über die Zeit des Nationalsozialismus zu schreiben, ohne zu wissen, was es sein könnte. Wie ich jetzt, im Januar 2015, nachdem ich die Veröffentlichung „Der stille Befehl...“ beinahe fertiggestellt habe, zu wissen glaube, war ich in der Zwischenzeit darum bemüht, in obigem Zusammenhang meine Kindheit und Jugend schriftlich aufzuarbeiten, ohne mir dessen bis vor kurzem bewusst zu sein. Und so entstand der nun folgende Text. Zusammenfassend lässt sich sagen: Ich musste erst von außen angestoßen werden, über das zu schreiben, was mich in meiner Kindheit und Jugend besonders geprägt hat: Informationen über Widerstand gegen den Nationalsozialismus aus dem Umfeld meiner Familie. Was die Freundschaft meines Vaters zu Mitgliedern des Jesuitenordens angeht, verlor nach dessen Tod 1993 allmählich an Bedeutung, und dennoch ließ ich dies in meinem Buch nicht außer Acht. Als ich begann, mich in meinem Umfeld nach weiteren Personen, die sich gegen den NS-Staat stellten, etwas weiter umzusehen, kamen mir außer meinem Vater weitere Verwandte in den Sinn, die mehr am Rande standen. Sie prägten mich zwar schwächer, gehörten vom Hörensagen jedoch auch zu meiner Kindheit und Jugend. Es waren die Namen zweier Onkel: Harald Dohrn und Hans Quecke. Sie wurden von den Nationalsozialisten unter tragischen Umständen getötet. Hinzu kam neben meinem Vater und dessen Vater auch meine Tante Gerda Kessler (geborene Kirchner), die Schwägerin meines Vaters. Bei meinen Überlegungen, auf welche Art und Weise ich mich den und dem Genannten nähern könnte, kamen mir zwei Geschehnisse zu Hilfe, die mir den erwähnten Anstoß gaben. Erste Impulse, die in diese Veröffentlichung mündeten
Diese beiden Ereignisse waren ein Brief, den ich erhielt, und eine Reise, zu der ich eingeladen wurde. Die erste Person, die auf Anfrage mein Interesse an der NS-Zeit aufgriff und mir einen handfesten Vorschlag für eine Arbeit unterbreitete, war eine gute Freundin meiner elterlichen Familie, zu der auch ich selbst einen guten Draht besaß: Baronin Dr. phil. Johanna von Herzogenberg (1921 – 2012), eine Kunsthistorikerin. Sie schrieb mir am 22. Februar 2004 – im Herbst desselben Jahres sollte mein Vorruhestand mit viel freier Zeit beginnen – einen Brief, worin sie zunächst hierauf Bezug nahm. (Zufällig, sicherlich ungewollt, da sie es andernfalls erwähnt hätte, traf das Datum des Briefes exakt mit dem 61. Jahrestag des gewaltsamen Todes von Hans und Sophie Scholl bzw. Christoph Probst im Jahr 1943 zusammen, die dem studentischen Widerstand Weiße Rose gegen die Nationalsozialisten angehörten, von dem später ausführlich die Rede sein wird.) Ferner sprach von Herzogenberg an, dass ich noch im Schatten der NS-Zeit geboren wurde und das Thema Widerstand gegen die Nazis und wie der Tyrann Adolf Hitler beseitigt werden könnte, seit meiner frühesten Kindheit groß im Raum stand bzw. ich damit immer verstrickt war. Sie teilte mir ihre Idee mit, wie ich „über bestimmte Personen etwas Neues oder aus einem neuen Blickwinkel erfahren“ könne, indem ich ganz einfach meine Erinnerungen an jene Zeit und das, was die Menschen erzählt hätten, aufschreiben sollte. Es gebe auch noch lebende Zeitzeugen, die ich befragen könnte, wie meine Tante Gerda Kessler, und sie erinnerte an Hans Quecke. Darüber hinaus nannte sie die „Probstkinder“ (also die Kinder des oben erwähnten Christoph Probst), die ich befragen könnte. Das ist im Kern die Botschaft des Briefes. Was zur Berufung führte
Ich verlasse den Brief hier und nehme Bezug auf die angesprochene Reise. Ihr ging die Einladung dazu von Frau Irmgard Heise, der Mutter meiner Frau Katharina, voraus, die sie in „2/2005“ brieflich an mich richtete. Sie forderte mich zur Mitfahrt im Wagen „zur Mai-Konferenz, die immer am Himmelfahrtstag beginnt und 2 – 3 Tage dauert,“ auf, mit sich und ihrem Mann, Dr.-Ing. Othmar Heise, nach Kreisau in Polen. An dieser Stelle sei erklärt, welche Bedeutung das Dörfchen Kreisau (polnisch: Krzyzova) in Niederschlesien im heutigen Polen im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus hat. Kreisau gab der von den Nationalsozialisten Kreisauer Kreis genannten Widerstandsorganisation den Namen. Dort betrieb 1940 Helmuth James Graf von Moltke ein Schlossgut, und zusammen mit Peter Graf Yorck von Wartenburg begründete er die genannte Organisation. Der engere Kreis bestand aus etwa zwanzig Personen, die bei drei großen Konferenzen 1942 und 1943 in Kreisau berieten, wie ein Deutschland nach dem Scheitern des Dritten Reiches bzw. einer Liquidierung Hitlers aus politischer, wirtschaftlicher, christlicher Sicht aussehen könnte bzw. es wurde ein Deutschland und dessen politische Führung nach dem Zusammenbruch vorbereitet. [Näheres zum Kreisauer Kreis siehe unten, Abschnitt (4.3.5).] Mein Vater Dr. Ernst Viktor Kessler (1914 – 1993) hatte einen besonderen Bezug zum Kreisauer Kreis insofern, als er mit den schon erwähnten Jesuitenpatres Alfred Delp (1907 – 1945) und Augustin Rösch (1893 – 1961), beide Kreisauer, nicht nur gut befreundet war, sondern, nachdem er durch Delp in den – äußeren – Kreis gekommen war, insbesondere mit ihm im Untergrund gegen die Nazis zusammenarbeitete. Und meine Schwiegereltern, Irmgard (* 1937) und Othmar Heise (* 1935), wiederum sind bis in die heutigen Tage hinein „Donatoren“ der Freya-von-Moltke-Stiftung für das neue Kreisau und unterstützen das neue Kreisau auf vielfache Weise. Nach 1989 ging das Gut in eine Stiftung und in ein Internationales Jugendbegegnungszentrum über. Dort wurden zwischen 1989 und 2008 die so genannten Frühjahrskonferenzen abgehalten, wo man sich begegnete und an einem Europa der Zukunft arbeitete. Zu diesen Zusammenkünften war Frau Irmgard Heise jährlich gefahren. Das Ehepaar Heise hatte bis zum Wegzug meines Vaters um 1992 vom Augustinum München-Hasenbergl nach Darmstadt großen Anteil an seinem Widerstand gegen die NS-Herrschaft genommen und ließ sich viel davon erzählen. Das entscheidende Erlebnis
Am Himmelfahrtstag, 5. Mai 2005, kam es für mich zu einem denkwürdigen nachhaltigen Ereignis, das in Bezug auf meine schriftstellerische Tätigkeit im Zusammenhang mit der NS-Herrschaft richtungsweisend sein würde, wie sich jedoch erst später herausstellen sollte. Am Abend dieses Tages wurde auf dem Gut Kreisau von jungen Polen ein Stück pantomimisch dargestellt, welches Leben und Sterben der Familie Moltke thematisierte. Die Akteure spielten derart authentisch, echt, überzeugend, dass sich zumindest jene Zuschauer, die durch eigene Erfahrung oder mittels Film, Fernsehen, Theater, Literatur die Nazizeit „erlebt“ hatten, in sie zurückversetzt fühlten. Eben dies löste in mir einen so starken Impuls aus, dass ich mich seither unumstößlich und endgültig veranlasst sehe, berufen und beauftragt fühle, zur schriftlichen Aufarbeitung meiner Kindheit und Jugend eine wie eingangs bereits angesprochene, aber nicht zu Ende gedachte Arbeit im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus endlich zu beginnen, zu dem Thema: Widerstand gegen den Nazi-Staat in meiner Großfamilie. Erst, nachdem ich mit meinem Lektor und literarischen Berater das Thema in allen Einzelheiten ausgeleuchtet und betrachtet hatte, kristallisierte sich der Begriff „Familiengeschichte“ heraus, präzisiert gesagt die Schicksale aller Personen meiner näheren Großfamilie, die in irgendeiner Form bei den Nationalsozialisten angeeckt sind. Findung des Titels
Und so gelangten wir in der...