Kerer | Ich war ein Blitzmädel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 7, 200 Seiten

Reihe: Memoria. Erinnerungen an das 20. Jahrhunderts

Kerer Ich war ein Blitzmädel

Frauenkameradschaft in der Wehrmacht

E-Book, Deutsch, Band 7, 200 Seiten

Reihe: Memoria. Erinnerungen an das 20. Jahrhunderts

ISBN: 978-88-7283-511-1
Verlag: Edition Raetia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Da hätten sie mir den Kopf abreißen können", sagt die heute 95-jährige Hilde Kerer, die 1939 für Deutschland optierte. Weil sie die Freundschaft zu einer Dableiberin nicht aufgeben wollte, wurde die Brixnerin von Gleichgesinnten geschnitten. Dieser Druck, der sich in der Zeit zwischen italienischem Faschismus und aufkeimendem Nationalsozialismus in der Südtiroler Gesellschaft aufbaute, war prägend für Kerer.

1940 wanderte sie ins Deutsche Reich aus und wurde zu einem sogenannten Blitzmädel, einer Nachrichtenhelferin der Wehrmacht. Ab 1943 fand sie sich mitten im Krieg vorerst in Russland und dann in Frankreich wieder, wo sie nach der Invasion der alliierten Streitkräfte einen Bombenabwurf überlebte, der zwei ihrer Kolleginnen das Leben kostete.

Die weibliche Kameradschaft war für Kerer ein geschütztes Umfeld, in dem sie die Schrecken des Krieges und der deutschen Besatzung ausblenden konnte. Das Erlebte vertraute sie zwischen 1942 und 1944 ihrem Tagebuch und Jahrzehnte später dem Publizisten Thomas Hanifle an, der ihre Erinnerungen in das vorliegende Buch einarbeitete.
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Weitere Infos & Material


Thomas Hanifle: Schöne Momente im Krieg
Geboren im Rösslwirt
Italienische Schule
In der Geheimschule
Deutsch werden
Von der Heldin zur Verräterin?
Neue Freiheiten
Auf zur Wehrmacht
In Minsk .
"Du Hitler, ich Stalin"
Wieder in Gießen
Riss in der Gemeinschaft
Versetzung nach Frankreich
Traurige Weihnachten
Ein überschaubares Städtchen
Schlimmer als ein Alptraum
Das Ende naht
Endlich nach Hause
Der Kern meines Lebens
Siglinde Clementi: Sich wehren und hartnäckig sein


Deutsch werden
Nun war ich 14 und hatte die Pflichtschule beendet. Ich hätte zwar gerne eine höhere Schule besucht, aber dafür reichte das Geld nicht und das stand daheim auch nie zur Diskussion. Im Gegensatz zu den Buben aus meiner Klasse, von denen einige später „Doktoren“ wurden, besuchte kein Mädchen meiner Klasse eine höhere Schule – nicht einmal Emmy Heiss und die hätte alle Voraussetzungen dafür gehabt. Jedenfalls musste ich mich jetzt entscheiden, was aus mir werden sollte. Viel Auswahl gab es ja nicht: Ich hätte Verkäuferin in irgendeinem Geschäft in der Stadt werden können, aber zumal ich mich im Haushalt schon ungeschickt anstellte, kam das für mich nicht wirklich infrage. Auch als Hausmädchen taugte ich nichts. So wählte ich das kleinste Übel: Ich lernte Schneiderin wie meine Schwester Maria und zwar beim Schneidermeister Hermann Lang, der von sich behauptete, der erste Schneider von Brixen gewesen zu sein. Er war wirklich ein guter Schneider und bekam von den besten Kundschaften des Hotels Elephant gute Aufträge. Drei Jahre lang ging ich bei Lang in die Lehre: Ich war wie gesagt nicht die Geschickteste, aber schließlich erlernte ich doch das Handwerk recht ordentlich. Mein Leben waren aber schon damals die Natur und die Berge. Es verging kein Wochenende, an dem ich nicht wandernd oder im Winter Ski fahrend in der umliegenden Gegend, zum Beispiel am Elvaser Bühel, oder auch auf der Seiser Alm und später in den Dolomiten unterwegs war. Mit dabei waren Freunde und Bekannte, die sich häufig auch im Hause Kofler trafen. Dort versuchte ich auch nach meinem Schulabschluss im Jahr 1934 mein Deutsch zu verbessern. Wöchentlich fanden in der Stube sogenannte Heimabende statt, an denen wir das Deutsch- und vor allem Tirolertum pflegten: Wir schrieben, sangen deutsche und Tiroler Lieder, tanzten oder spielten Karten, so zum Beispiel Quartett. Ziel des Kartenspiels war es, so viele Quartette, das sind Sätze von vier zusammengehörenden Karten, zu sammeln. Auf den Karten waren unterschiedliche Motive abgebildet, jedenfalls sind mir seit damals die ganzen deutschen Dichter in Erinnerung geblieben. Es war ein nettes Beieinandersein, bei dem wir immer auf der Hut waren, nicht von irgendwelchen faschistischen Spitzeln erwischt zu werden. Angst wäre ein zu starkes Wort, aber ein ungutes Gefühl begleitete uns immer. Allerdings änderte sich ab Mitte der 1930er-Jahre die Stimmung im Land. Hitler hatte das bisher besetzte Saarland zurück ins Deutsche Reich geholt. Das überwältigende Abstimmungsergebnis der Bevölkerung für eine Rückkehr nach Deutschland hatten wir natürlich mitbekommen. Und es hieß gleich: Zuerst das Saarland, dann kommen wir dran. In den Kreisen, in denen ich verkehrte, war man über die Ereignisse in Deutschland immer gut informiert: Vieles hatte man aus Zeitungen, die ins Land geschmuggelt wurden, oder aus dem Radio. Daheim hatten wir zwar kein Radiogerät, aber wenn es etwas Wichtiges gab, etwa eine Hitler-Rede, fand sich schon ein Bekannter, in dessen Haus man mithören konnte. Wenn heute im Fernsehen Hitler brüllend bei einer seiner Reden gezeigt wird, kann ich fast nicht zuhören. Damals allerdings strahlte er eine Faszination aus, die schwer zu erklären ist, und alle unsere Hoffnungen, wieder deutsch zu werden, lagen in seinen Händen. Und bei all seinen Reden hofften wir natürlich, dass er auch etwas über uns Südtiroler sagen würde. Es stört mich heute, wenn alle, die damals Hitler nachgelaufen sind, in den gleichen Nazi-Topf geworfen werden: Denn da waren auch Mädel und Burschen dabei, die anständig waren und die niemals auf die Idee gekommen wären, jemandem etwas zuleide zu tun. Aus Deutschland bekamen wir zu dieser Zeit nur Gutes und Positives mit, aber vielleicht wollten wir in unserer Lage auch nichts anderes hören. Die Abstimmung im Saarland und der Aufstieg Hitlers gaben uns ein neues Selbstbewusstsein, wir wurden frecher und trauten uns mehr. Nach Feierabend und an Wochenenden trafen wir Jugendlichen uns in der Bergwelt rund um Brixen, auf Waldlichtungen oder auf Almen, dort, wo uns kaum ein Carabiniere hätte entdecken können. Mit Stolz trugen wir das Dirndl und weiße Stutzen und die Burschen die Lederhosen. Wir machten Reigenspiele, tanzten und sangen, gelegentlich hatte ich die Ziehharmonika mit dabei. Das Spielen darauf hatte ich mir selbst beigebracht. An manchem Sonntagnachmittag wanderten wir nach Sarns zum Gossenbauer. Dort an einem großen Tisch in der Stube saßen wir unbeschwert beisammen und sangen deutsche Lieder wie das Trutzlied oder „Wir sind der deutsche Süden“. Fast alle, die damals bei diesen Treffen mit dabei waren, sind heute tot. Ich denke an Willi Schmuck, Paul Hauer, Robert Telsnig, Egon Peintner, Maria Bonell, Grete Walcher, Helene Heidelberg oder Anni Nissl, und es waren noch viele mehr. Oder an Willi Eppacher, das war ein Kämpfer und Überzeugter. Er war ein gebürtiger Pusterer, arbeitete aber beim Vogelweider-Verlag in Brixen: Er ist in seinem Leben nie südlicher als zum Gardasee gefahren, denn da endete für ihn Österreich, so sagte er zumindest. Die Treffen der geheimen Jugendgruppen, die sich ab Mitte der 1930er-Jahre formierten, wurden kurzfristig organisiert und von Ohr zu Ohr weitergetragen. Alleine oder maximal zu zweit machten wir uns dann auf zum vereinbarten Treffpunkt. Zur Sonnwendfeier aber, die im Juni stattfand und an der Feuer angezündet wurden, durften wir Mädchen nicht mit, das war zu gefährlich. Denn im Tal lauerten immer die Carabiniere. Mein Bruder Sepp wurde einmal erwischt und dafür hart bestraft: Zwei Jahre lang durfte er abends und nachts nicht außer Haus – die Faschisten kontrollierten das streng. Andere Burschen, die den Faschisten mit ihren Lederhosen und den weißen Stutzen über den Weg liefen, wurden verprügelt, kurzzeitig eingesperrt, manche mit Teer beschmiert. An Tagungen oder Schulungstreffen waren die Geschlechter getrennt, wobei bei den Mädchen die Politik weniger eine Rolle spielte und mich persönlich auch nicht sonderlich interessierte. Mein ehemaliger Schulkollege Willy Acherer war damals für die Burschen verantwortlich und schwang ab und zu auch eine Rede, bei der ich anwesend war. Er war damals, wie ich später erfuhr, Kreisjugendleiter des VKS (Völkischer Kampfring Südtirol) in Brixen, der Organisation hinter diesen geheimen Gruppen. Er ist dann glaube ich als Freiwilliger früh ausgewandert, weil es für ihn zu „heiß“ in Südtirol wurde, wobei ich auch im Krieg, vor allem am Anfang, mit ihm in brieflichem Kontakt blieb. Bei den frühen Treffen dieser geheimen Gruppen war auch Peter Hofer mit dabei, der beim VKS das Sagen hatte. Er war immer ein „Schneller“, begrüßte uns und war dann wieder weg. Als er 1940 in der Hofburg in Brixen heiratete, standen wir Mädchen Spalier und sangen ein Lied. Da waren wir schon mächtig stolz darauf und meinten: „Das ist unser Hofer!“ Mehr zu tun hatten wir mit Martha Zipperle: Sie führte landesweit die Mädchengruppen, war aber häufig bei unseren Zusammentreffen anwesend. Großartige Schulungen gab es wie gesagt keine: Neben dem netten Beisammensein, den Tänzen, Spielen und Gesängen vereinte uns das Gefühl, dass wir wieder deutsch werden wollten; das musste nicht ständig ausgesprochen werden. Einmal, im Frühjahr 1939, war ich bei einer Tagung in Raas oberhalb von Brixen, eine andere Mädchengruppe traf sich gleichzeitig bei einem Bauern in Neustift, darunter auch meine Schwester Maria und Midl Kofler. Anschließend zogen beide und andere Mädchen singend und eingehakt heimwärts. Am Nordrand von Brixen wurden sie von italienischen Stadtpolizisten gestoppt und verhaftet, weil sie deutsche Lieder gesungen hatten. Der Hintergrund war aber ein anderer: Einer der Stadtpolizisten, ich glaube er hieß Covi, war schon immer ganz scharf darauf gewesen, uns festzunageln. Er hatte nun von einer Tagung, die an diesem Tag stattfinden sollte, Wind bekommen und ganz bewusst auf die Mädchen gewartet. Als ich von der Verhaftung erfuhr, eilte ich mit Freunden in die Brunogasse nahe des Kassianeums, in der sich das Bezirksgefängnis befand. Wir standen vor verschlossenen Türen, protestierten, riefen den Mädchen aber Trost zu und sangen Lieder. Als sie uns hörten, streckten sie ihre Hände aus den Gitterfenstern heraus. Einige der Mädchen ließen die Faschisten sofort wieder laufen, sie standen vermutlich noch nicht auf ihrer Liste. Meine Schwester, Midl Kofler und ich glaube die Else Peer, Trudi Oberhofer und Martha Nissl behielten sie aber weiterhin in Gewahrsam. In den folgenden Tagen schrieben wir ihnen Briefe und ließen ihnen die Tageszeitung „Dolomiten“ zukommen. Darin übermittelten wir ihnen geheime Botschaften, es waren Aufmunterungen, und zwar setzten wir unter Buchstaben einen Punkt. Aneinandergereiht ergaben die Buchstaben Wörter und die Wörter schließlich Sätze. Nach einigen Tagen wurden die Mädchen entlassen, nur eine nicht: Midl Kofler. Die Faschisten wussten von ihrer Tätigkeit als Lehrerin in Geheimschulen, brachten sie ins Gefängnis nach Bozen und machten ihr dort den Prozess. Das Urteil war hart: Im Juni 1939 wurden sie für zwei Jahre...


Hilde Kerer ( geboren 1919), Kindheit und Jugend in Brixen, Option für Deutschland, von 1941 bis 1945 Nachrichtenhelferin für die Deutsche Wehrmacht, 1945 Rückkehr nach Südtirol und Arbeit als Schneiderin. Politisch und sozial engagiert; zunächst im Rücksiedleraus-
schuss, dann als überzeugte Natur- und Heimatschützerin im Kultur- und Heimatpflegeverein.


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