Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-423-40940-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
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»Das Schlimmste war«, so begann Adrienne ihre Geschichte, »dass sich nichts bewegte. Ich kam ins Zimmer und wollte ein Laken in die Kommode räumen, da saß, ein wenig schwankend, um das Gleichgewicht zu halten, eine Ratte auf dem Rand deiner Wiege und starrte dich an. Und du lagst ruhig da, hast ihrem Blick standgehalten, hast sie beobachtet. Was bin ich erschrocken! Aber das Schlimmste war, dass ihr euch beide nicht gerührt habt. Dass alles Weitere in meiner Hand lag. Hätte ich mich nur ein klein wenig bewegt, die Ratte hätte sich auf dich gestürzt. Man hört immer wieder, dass Ratten Säuglinge anfallen und auffressen.« An dieser Stelle pflegte Adrienne eine Pause einzulegen und mich eindringlich anzusehen, bevor sie fortfuhr. »Zwischen meinem Hereinkommen und dem Augenblick, als die Ratte von der Wiege sprang und unter dem Schrank verschwand, sah ich mein gesamtes Leben vor meinem inneren Auge vorbeiziehen, das kannst du mir glauben. Ich stand da mit dem Laken in der Hand, als wäre es eine weiße Fahne, die Ratte drehte mit einer nervösen Bewegung den Kopf in meine Richtung, schaute mich an und sprang davon. Ich bin zu dir gestürzt und habe dich aus der Wiege gezerrt.« Das war die Stelle in der Geschichte, an der Adrienne hinter dem Nähtisch hervorkam, sich vom Esstisch erhob oder das Küchenmesser beiseitelegte und mit einer Geste auf mich zutrat, als wolle sie nach mir greifen. Und obwohl ich damit rechnete, wich ich jedes Mal zurück. »Du hast mich erstaunt angesehen«, sagte sie, »dann ist dein Blick in Empörung umgeschlagen – diese wilde Empörung, wie sie nur in Kinderaugen liegen kann –, und du hast angefangen zu brüllen. Du hast gebrüllt, als hätte ich dich mitten aus einer interessanten Beschäftigung gerissen und nicht, als wärst du um ein Haar von einer Ratte angefallen worden.« Als Kind war ich überzeugt, Adrienne schon damals mit meinem Verhalten gegen mich aufgebracht zu haben. Und nur wenn ich mich sehr bemühte, könnte ich, wenn überhaupt, ihre Liebe zurückgewinnen. Im Jahr meiner Geburt arbeitete Adrienne in der Spinnerei von Honoré-le-Manoir, einem Städtchen im Süden des Cotentin, wo bis heute engmaschige Wollpullover hergestellt werden, die Fischern und Feriengästen den in dieser Gegend unablässig blasenden Wind vom Leib halten. Die Spinnerei zog Arbeitskräfte aus der nahen und fernen Umgebung an, und auch Adrienne hatte für ihre Stelle ihren Heimatort Belay verlassen, der achtzig Kilometer weiter nördlich liegt – für damalige Verhältnisse und eine unverheiratete Frau eine beträchtliche Distanz. Als die Wehen begannen, hatte sie frei, nicht etwa weil Erster Mai war, denn der existierte damals nur als Forderung der Arbeiterbewegung, sondern weil der erste Mai auf einen Sonntag fiel. Kurz nach dem Mittagessen schleppte Adrienne sich aufs Bett und bat ihre Schwester Rose, die einige Tage vor der Geburt aus Belay angereist war, die Hebamme zu holen. Robert, Adriennes Mann, blieb bei ihr, hielt ihre Hand und nutzte den Moment, in dem sie allein waren, um ihr seine Sorge anzuvertrauen. »Adrienne«, sagte er, »du weißt, ich will dieses Kind wie mein eigenes, aber dass es an einem ersten Mai geboren wird, kannst du mir nicht antun.« Während die Hebamme und Rose mit Adrienne im Zimmer blieben, wartete er in der Diele. Adriennes Schreie erschütterten ihn, legten sein Innerstes auf eine ihm unbekannte Weise bloß, so dass er zum ersten und einzigen Mal ahnte, wie es sich anfühlt, an Gott zu zweifeln. Nicht einmal als 1940 die Deutschen einmarschierten und Frankreich kapitulierte, habe er ein solches Ausgeliefertsein wie im Augenblick meiner Geburt empfunden, hat er mir sehr viel später erzählt. An diesem Abend des 1. Mai 1927 legte Robert seine Hände auf die Ohren, und nur wenn Rose aus dem Zimmer kam, um frisches Wasser oder saubere Tücher zu holen, ließ er die Hände rasch sinken. Allein seine wachsende Hoffnung, das Kind möge erst nach Mitternacht geboren werden, gab ihm die Kraft, durchzuhalten. Als es jedoch dreiundzwanzig Uhr schlug und Rose im Vorbeirennen rief, »bald ist es soweit!«, als die Abstände zwischen Adriennes Schreien geringer wurden und die Zeiger der Uhr in der Diele nicht schnell genug vorankamen, stellte Robert sie kurzerhand um eine halbe Stunde vor. »Von mir aus ein Bastard«, murmelte er, »aber ein rotes Kind kommt mir nicht ins Haus.« »Nun mach schon«, sprach die Hebamme, die Mitglied der kommunistischen Partei Frankreichs war, im Geiste zu dem Kind, »streng dich ein wenig an. Für die Arbeiterbewegung.« »Nun macht schon«, drängte Robert die immer noch viel zu langsam vorrückenden Zeiger, »strengt euch ein wenig an.« Denn er konnte unmöglich ein weiteres Mal Gottes Entscheidung übergehen und die Zeiger eigenmächtig verstellen. Adrienne schrie und schrie, die Hebamme drängte und Robert ließ die Uhr nicht aus den Augen, er schickte ein Stoßgebet zum Himmel und versprach, gut zu dem Kind zu sein, obwohl es nicht sein eigenes war, wenn es nur nicht am ersten Mai geboren würde. Und er ärgerte sich über sich selbst, dass er die Uhr nicht gleich um eine ganze Stunde vorgestellt hatte, denn was bedeutete schon eine halbe Stunde mehr oder weniger vor dem ewigen Himmel. Schließlich sprangen die Zeiger mit einem Ruck auf die Zwölf, Robert zuckte zusammen und atmete hörbar aus, die Hebamme öffnete die Zimmertür, verkündete, »Es ist ein Mädchen!«, und fragte im selben Atemzug: »Wie viel Uhr ist es?« Sie sah Robert an, sie sah auf die Uhr an der Wand über seinem Kopf und ihr Gesicht verfinsterte sich. Es gab keinen Zweifel, der große Zeiger war über Mitternacht hinausgerückt. Später in der Nacht stand Robert noch einmal auf, weil die Schreie seiner Frau in seinem Kopf nachhallten und ihn am Schlafen hinderten, vor allem aber, weil er die Zeiger der Uhr wieder umstellen wollte, bevor die Hebamme zurückkäme, um nach dem Rechten zu sehen. Denn einer Kommunistin traute Robert alles zu, auch dass sie seine Manipulation an der Schöpfung, an die sie nicht glaubte, im Ort bekannt machte. Schenkt man meiner Geburtsurkunde Glauben – und jemandem muss man ja schließlich glauben, wenn ich schon für die Geschichte meiner Geburt und die des Kennenlernens meiner Eltern keinen Wahrheitsanspruch erhebe, denn ich habe sie mir aus den Bruchstücken zusammengereimt, die ich im Laufe der Zeit aufgeschnappt habe –, so erblickte ich, Ida Kempf, geborene Leconte, am 2. Mai 1927 um null Uhr fünf das Licht der Welt. Meine Mutter Adrienne hatte andere Pläne, als schwanger zu werden, sie hatte bei ihrer Mutter Augustine Castel, geborene Cardon, die eine äußerst geschickte Näherin war, das Schneidern gelernt und träumte davon, mit ihrer Schwester Rose in Algerien einen Stoff- und Kurzwarenladen zu eröffnen und Mode zu entwerfen. Adrienne hat immer ein untrügliches Gespür für Stoffe, Farben und Formen gehabt und ist angeblich schon in ihrer Jugend in Belay mit ihren eigenwilligen Kreationen aufgefallen. Auf dem Weg nach Algerien nahm sie besagte Stelle in Honoré-le-Manoir an, die ihr eine entfernte Tante besorgt hatte, bei der sie auch wohnen konnte. Ihr Vater Jean Castel unterstützte die Pläne seiner jüngsten Tochter, sei es, weil er an ihr Talent glaubte und ein fortschrittlicher Mensch war, sei es, weil er sich auf diese Art seiner Frau Augustine widersetzte, gegen die er in alltäglichen Dingen nicht ankam. »Geh mir aus den Augen«, soll Augustine gesagt haben, als Adrienne sie vor vollendete Tatsachen stellte und verkündete, sie habe eine Stelle in der Spinnerei und werde ausziehen. »Du denkst doch nur an dich! Ich bringe dir etwas bei und du verwendest es gegen mich! Du könntest genauso gut hierbleiben und in der Schreinerei deines Vaters helfen oder deiner Mutter im Haus zur Hand gehen. Stattdessen willst du nach Algerien. Zu den Arabern! Wie willst du das bezahlen? Mit ein bisschen Arbeit in einer Spinnerei? Und was heißt hier, Mode entwerfen! Schnickschnack, was du da bastelst, eingebildet bist du! Undankbar!« In einem Punkt hatte Augustine recht: Man verdiente in der Spinnerei nicht genug, um ein noch so bescheidenes Unternehmen in Algerien oder an irgendeinem anderen Ort der Welt aufzuziehen. Deshalb vermute ich, dass mein Vater ein reicher Geschäftsmann auf Durchreise gewesen ist, dem Adrienne auf sein Zimmer folgte, nachdem sie mit geschultem Blick den Wert seines Jacketts ermessen hatte, oder ein Industrieller aus Granville, für den Adrienne keine standesgemäße Partie darstellte, oder, warum nicht, ein verheirateter Ingenieur aus der Spinnerei – nur an den von der Flut überraschten, ertrunkenen Fischer, auf dem Adrienne immer beharrte, kann ich nicht glauben. Warum sollte ein Fischer sich in den Gezeiten irren? Da Adrienne die Identität meines Vaters jedoch zeitlebens für sich behalten hat, bin ich an dieser Stelle auf Mutmaßungen angewiesen. Ich nehme an, dass sie sich eines Morgens im Spiegel betrachtete, ihre ausbleibende Menstruation, ihren Appetit und ihre gelegentliche Übelkeit in Zusammenhang brachte und verstand, dass es um ihre Zukunft geschehen wäre, wenn sie nicht handelte. Sie verlor die Nerven nicht, sondern dachte an Robert, der schon seit längerem als Buchhalter in der Spinnerei arbeitete und ein Auge auf sie geworfen hatte. Beide waren in Belay aufgewachsen und kannten sich vom Sehen, wobei Robert Adrienne früher nicht weiter aufgefallen war, Adrienne hingegen Robert nicht mehr aus dem Kopf ging, seit er einmal auf einem Ball in Belay mit ihr getanzt und ihren Duft nach Veilchen und Anis eingeatmet hatte. Als eines Morgens Adrienne in Honoré-le-Manoir am Werktor aufgetaucht war, hatte er darin ein Zeichen des Himmels gesehen und beschlossen, seine...