Kempowski | Sirius | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1, 640 Seiten

Reihe: Tagebücher

Kempowski Sirius

Eine Art Tagebuch

E-Book, Deutsch, Band 1, 640 Seiten

Reihe: Tagebücher

ISBN: 978-3-641-06063-3
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Walter Kempowski führte jahrzehntelang Tagebuch. 1990 entschied er sich, Texte davon zu veröffentlichen. Seine Wahl fiel auf Notizen von 1983. Er nannte das Werk "Sirius", weil es das Jahr dokumentiert, in dem er seine "Hundstage" erlebte (Sirius ist der Hundsstern). Die Aufzeichnungen ergänzte er mit Kommentaren aus der Sicht von 1990. Auch fügte er Texte aus seinem über Jahre zusammengetragenen Archiv unveröffentlichter Biographien ein. Dem Autor gelang es so, ein Stimmungs- und Zeitbild aus den alltäglichen, scheinbar banalen Gegebenheiten zu gewinnen. Erstmals wandte er hier die später berühmt gewordene "Echolot"-Technik der Collage an.
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Januar 1983
Nartum
So 2. Jan. 1983 trüb, stürmisch  
Wir begingen den Altjahrsabend diesmal ganz traditionell, mit Kappen, Berliner Pfannkuchen und Scherzartikeln, wobei uns das für dieses Brauchtum nötige Brockhauswissen stets zur Seite stand: Bleigießen und Knallbonbons zur Zukunftserforschung, Raketen zur Austreibung von Dämonen. Zum Kotzen! Aber: ohne Folkloristisches kann ich so was überhaupt nicht mehr ertragen. Wie macht man das eigentlich, «feiern»? Das heißt doch wohl «saufen», oder? Wir empfingen die Gäste mit Hallo. Jeder setzte einen Papphut auf, und dann gaben wir uns in der Halle bei Kerzenlicht einem «Prasnik» hin, wie wir das im Zuchthaus nannten. In Bautzen bestand der Prasnik aus einer doppelten Portion Brot, in Nartum gab es Räucherfisch, Pfeffermakrelen und natürlich Lachs, mit scharf-süßer Meerrettichsahne, einen herrlichen Obstsalat, mit Rum angemacht, Gänsebrust und die berühmte Fleischbrühe von Hildegard, mit der man Tote wieder fit kriegt. So was sollten sie in Krankenhäusern austeilen! Den Tischwein (zwei Kisten) hatte ich von Knaus zu Weihnachten bekommen. Ich verstehe ja nichts von Wein, und ich bin immer neugierig, was die Gäste zu meinem «Keller» sagen. Das Urteil fiel günstig aus. Auf seinen Verleger läßt man nicht gern was kommen. – Ich selbst rühre das Arsen-Zeug nicht an, ich trinke solides Bier und Steinhäger. Das Bier hat leider keine «Blume», weil wir unsere Gläser mit Pril spülen, schmeckt also absolut widerlich. Außerdem heißt es, daß der Hopfen ebenfalls mit Arsen behandelt wird. Die Reklame mit den blankgeputzten Kupferbehältern und den drei «Königstreuen», und das Wort «Reinheitsgebot» halten mich bei der Stange. Daß die EG-Beamten das Reinheitsgebot aufheben wollen, erbittert mich. Altjahrsabend 1982 1990: Hildegard sagt, daß sie kein Spülmittel benutzt. Merkwürdigerweise fällt der Schaum aber trotzdem zusammen. Zum Essen wurden Balladen aufgesagt. Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll,
Ein Fischer saß daran,
Sah nach der Angel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinan. Um entsprechende Vorbereitung hatte ich die Gäste gebeten. Herr von Ribbeck, die Timotheus-Angelegenheit, der Erlkönig usw. Im Grunde alles recht unerträglich. Aber im Bewußtsein der historischen Distanz eben doch unterhaltlich. Ich erinnere mich noch genau, wie der Student Peter in Bautzen den «Heideknaben» aufsagte oder besser auf-schrie, das hat uns damals sehr beeindruckt. «Er zog ein Messer!» – «War das, wie dies?» «Ach ja, ach ja!» – «Er zog’s?» – «Und stieß» … Als pervers aber muß ich es bezeichnen, daß der Deutschlehrer uns noch im Stalingradjahr die «Bürgschaft» auswendig lernen ließ. Zwischen Räucherfisch und Bleigießen las ich aus dem «Neuling»1 ein paar Seiten. Leider schwiegen die Gäste sich – obwohl hochqualifiziert – hinterher aus. Die Uhr tickte, und ich schwieg ebenfalls, leicht aufkochend. Vielleicht dachten sie: Er ist sowieso schon so erregt, bloß nicht noch reizen. Es wurde also peinlich, was mich noch mehr «reizte». Ich kenne dieses Schweigen vom Familienkreis her. Da heißt es auch immer nur: Sehr schön! wenn ich mich mal produziere. Meine Silvestergereiztheit wurde diesmal ohne weiteres hingenommen. Man hat sich wohl daran gewöhnt: So ist er nun mal. Ich hab’ schon gedacht, ob die Wut, die sich jeden Altjahrsabend bei mir einstellt, vielleicht von den Gewürzen im Glühwein herrührt, von dem ich dann leider doch das eine oder andre Glas trinke! – Es spielt gewiß auch der Gedanke eine Rolle, bis Mitternacht feiern zu müssen, das empfinde ich als eine Art Freiheitsberaubung. Spät am Abend sorgte der senfgefüllte Berliner für jene Stimmung, die jede lustige Gesellschaft zu Silvester erwartet, obwohl ein senfgefüllter Berliner in einem Kreis wie dem unsrigen, grünbewegt und sozialbewußt, als Sünde empfunden wird, «wo doch in Indien Millionen von Kindern hungern!». Die herumgereichte Polaroidkamera machte ebenfalls Laune. Wie man sich ausnimmt, kann man ja nicht oft genug zu sehen kriegen. Die Standuhr schlug zwölf, die Atomuhr im Fernsehn ebenfalls, die Raketen wurden vom Wind verweht, die Hunde verkrochen sich vor der Knallerei, und ich ging zu Bett und hörte in meinem Recorder, auf dem Rücken liegend, die Hände wie auf dem Sterbebett gefaltet, den «Heiligen Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit». Die andern feierten noch bis vier Uhr früh, ihr Lärm drang zu mir herauf. Sie waren wohl von Herzen froh, daß sie mich los waren. Unsere Eltern pflegten zu weinen, wenn es zwölf schlug, unsereiner atmet auf. Als Tischdame hatte ich mir die kleine Stephanie ausgesucht. Das gab dem Altjahrsabend einen gewissen Schmelz. Ich bekam von ihr ganz unvermutet einen trocknen, ja rissigen Kuß, von ihrer vollblütigen Mutter einen feuchten. Nartum
Mo 3. Jan. 1983  
Traum: Ich stehe an einem Spielautomaten und sehe, daß ich wieder nichts gewonnen habe. «Das ist ja direkt komisch», sage ich: «Wieder keinen einzigen Pfennig!» Ein Gast rät mir, die Kassette herauszuziehen. Und da sehe ich ein kleines Fach mit hundert goldenen Herzchen. Am Nachmittag kamen drei ehemalige Schülerinnen zu Besuch. Ich war «von den Socken», wie die sich entwickelt hatten, niedliche Figürchen, absolut knackig. Die eine von ihnen war ein Problemfall gewesen, um die ich mich besonders gekümmert hatte, mit Hausbesuchen und so weiter. Es gibt ja Lebensläufe, bei denen einem die Spucke wegbleibt. Ich freute mich über den Besuch und fand ihn gleichzeitig lästig. Etwas kicherig waren sie und nicht sehr mitteilsam. Als ich sie fragte: «Erinnert ihr euch noch ans erste Schuljahr?» sagten sie: «Immer mit die Lobesmarken …»  
1990: Lobesmarken, das waren kleine runde Pünktchen, die ich den Kindern mit Schwung auf die Wange klebte, so als wollte ich sie ohrfeigen. Sie nennen sich «Zweckform-Markierungspunkte» und sind in zehn Farben und drei Größen zu haben. Ich bin den kleinen bunten Dingern von Herzen zugetan und habe sie auch jetzt noch ständig vorrätig, obwohl ich sie für meine Arbeit nicht benötige. Ihr bloßer Besitz beruhigt mich, die Möglichkeit, wenn Chaos sich einstellen sollte, mit ihrer Hilfe ordnend eingreifen zu können. In der DDR, so hörte ich neulich, kriegen Kinder einen Tadelstrich, wenn die Eltern vergessen, das Diktat zu unterschreiben.  
Im allgemeinen kriege ich nur selten ehemalige Schüler zu sehen, auf der Straße erkenne ich sie meistens nicht. Neulich beim Hemdenkauf in Zeven: «Aber ich bin doch die Diane!» Sie behauptete, von mir niemals eine der besagten «Lobesmarken» bekommen zu haben, was ich einfach nicht glauben kann. Wie Konfetti habe ich diese kleinen Papierdingerchen – ganz unpädagogisch – über Gute und Böse ausgestreut. Wenn es tatsächlich stimmt, was sie gesagt hat, dann hätte ich einen nicht wiedergutzumachenden Schaden angerichtet. Arme Schüler! Arme Lehrer! Ehemaligen Schülern zu begegnen, ist immer peinlich. Vielleicht aus demselben Grund, aus dem man wegguckte, wenn man einem ehemaligen Lehrer begegnete. Obwohl man in der Schule nichts vom Baum der Erkenntnis zu essen kriegte, verbarg man sich doch vor den Göttern. Es sind die Blößen, die man sich gegeben hat. «Kempowski suchte zu täuschen.» So etwas hängt noch lange im Raum. Der tragisch-deplaziert wirkende Lehrer auf Schülertreffen, die Schulterklopferei. Dem Lehrer ein Bier spendieren, damit er auch mal was hat … Aus Gnade und Barmherzigkeit nimmt man ihn auf, und die Gespräche gehen über ihn hinweg. «Aus Ihnen ist ja doch noch was geworden», sagte mal ein Lehrer zu meinem Vater kurz vor seinem Tod. Da die Mädchen absolut nicht zum Sprechen zu bewegen waren, nutzte ich die Gelegenheit und befragte sie über ihre Vision von Zukunft. Ich dachte, sie würden von vergifteter Atmosphäre reden, no future, so in diesem Stil. Nichts da! Ein Häuschen mit Garten war ihr Wunsch. Ich hatte als Kind eine sonderbare Idealvorstellung von meinem Leben: Ich wollte im Bett liegen, Dick-und-Doof-Filme sehen und dazu Marmeladenbrote essen. Heute könnte ich mir das leisten.  
1990: Noch zu dem System von Ermutigungsgeschenken, das ich mit der Zeit entwickelt hatte: Ich verteilte neben den Lobesmarken auch «Gut»-Scheine (im Gegensatz zu «Bös»-Scheinen, die es bei mir natürlich nicht gab). So was nennt man Bonbonpädagogik, und das ist natürlich schärfstens abzulehnen. Übrigens kam kein Kind auf die Idee, die «Gut»-Scheine einzulösen, es war ja auch mehr ein Witz, was sie im Gegensatz zu ihren Eltern sofort verstanden. Ich habe in einem Lexikon nachgeschlagen, was es mit dem Lob auf sich hat. Demnach hätte ich mich schlimmstens an den...


Kempowski, Walter
Walter Kempowski wurde am 29. April 1929 als Sohn eines Reeders in Rostock geboren. Er besuchte dort die Oberschule und wurde gegen Ende des Krieges noch eingezogen. 1948 wurde er aus politischen Gründen von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Nach acht Jahren im Zuchthaus Bautzen wurde Walter Kempowski entlassen. Er studierte in Göttingen Pädagogik und ging als Lehrer aufs Land. Seit Mitte der sechziger Jahre arbeitete Walter Kempowski planmäßig an der auf neun Bände angelegten "Deutschen Chronik", deren Erscheinen er 1971 mit dem Roman "Tadellöser & Wolff" eröffnete und 1984 mit "Herzlich Willkommen" beschloss. Kempowskis "Deutsche Chronik" ist ein in der deutschen Literatur beispielloses Unternehmen, dem der Autor das mit der "Chronik" korrespondierende zehnbändige "Echolot", für das er höchste internationale Anerkennung erntete, folgen ließ.Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.


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