Hitlers erste Mordaktion
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-451-83407-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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»Du bist verhaftet«
Friedlicher als Bad Wiessee am Tegernsee kann ein Ort kaum sein.1 In der Morgensonne des 30. Juni 1934 wirkt das Kurheim Hanselbauer, eine große Pension direkt an der Seepromenade, geradezu idyllisch. Es ist Samstag, ein warmer Sommertag bricht an; nur über der Zugspitze im Süden hängen dichte Wolken. Gegen 6.45 Uhr früh fahren mehrere Limousinen, darunter ein schwerer Mercedes, langsam durch das ortsseitige Tor in der Bodenschneidstraße 9. Sie halten vor dem Haus mit drei Obergeschossen und breit auskragendem Dach. Leise entsteigen den Autos Männer, ein gutes halbes Dutzend, teils in Uniform, teils in Zivil, und eilen auf das Hanselbauer zu. Die Pensionswirtin, überrascht vom so früh unerwarteten Besuch, lässt sie nach kurzem Wortwechsel ein. Das Ziel der Männer ist der erste Stock, genauer: die beste Unterkunft der Pension, ein Appartement mit zwei Räumen. Nach einem kurzen Klopfen sagt einer von ihnen mit verstellter Stimme: »Meldung aus München.« Aus dem Inneren ist in vertrautem Tonfall die Antwort zu hören: »Komm doch rein, die Tür ist ja offen.«2 Das lässt sich Adolf Hitler nicht zweimal sagen. Er stürmt in das Zimmer und stürzt auf den im Bett liegenden Stabschef der SA Ernst Röhm zu. »Du bist verhaftet!«, herrscht er ihn an; der SA-Oberführer von Hannover Viktor Lutze, Propagandaminister Joseph Goebbels und zwei Kriminalpolizisten mit entsicherten Dienstwaffen direkt hinter dem Reichskanzler werden Augenzeugen.3 Hitler hat entweder selbst eine Pistole in der Hand oder eine Reitpeitsche. Völlig überrascht antwortet Röhm automatisch: »Heil, mein Führer!«, dann steht er auf und zieht sich an.4 Er ist offenbar gefasst; ertappt oder ernsthaft gefährdet fühlt er sich nicht: »Röhm behält Haltung«, notiert Goebbels einige Stunden später in seine Tagebuchkladde.5 Friedlicher als Bad Wiessee am Tegernsee kann ein Ort kaum sein …: die Pension Hanselbauer, Ort der Verhaftung des SA-Stabschefs Ernst Röhm am 30. Juni, in einer zeitgenössischen Fotografie. Nach dem Krieg wurde ein weiteres Stockwerk hinzugefügt. Hitler geht in dem geräumigen Zimmer mit weiten Schritten auf und ab, »flammend wie ein höheres Wesen personifizierter Gerechtigkeit«, findet Reichspressechef Otto Dietrich.6 Der Reichskanzler fühlt sich persönlich verraten und glaubt, nur er allein könne Röhm »dafür zur Verantwortung ziehen«. Um das »Unheil überhaupt noch zu verhindern«, müsse »blitzschnell gehandelt« werden, erinnert sich Hitler zwei Wochen später an die entscheidenden Stunden. Nur ein »rücksichtsloses und blutiges Zugreifen« hält er für akzeptabel – eine radikale »Lösung«, wie er sie eigentlich immer bevorzugt.7 Gerade als Hitler aus Röhms Schlafzimmer zurück auf den Flur tritt, kommt ihm sein Fahrer Erich Kempka entgegen. Der SS-Mann hat eine durchgeladene Pistole in der Hand, denn schon im Treppenhaus des Hotels hat er gesehen, wie sein Vorgesetzter Julius Schreck mit vorgehaltener Waffe einen Mann im Braunhemd hinunter in den Keller drängt; es handelt sich um Julius Uhl, den Chef der Leibwache Röhms und engen Vertrauten des SA-Stabschefs: »Beim Vorbeigehen ruft mir Schreck noch zu: ›Rasch! Lauf hinauf zum Chef! Er braucht dich!‹«8 Das lässt Kempka sich nicht zweimal sagen. Hitler hat sich im ersten Stock inzwischen zur gegenüberliegenden Tür umgewandt, zum Zimmer von Edmund Heines, dem SA-Oberführer von Schlesien und Breslauer Polizeipräsidenten. »Dort wird das Öffnen befohlen und nach kurzer Zeit stehen wir vor Heines und einem anderen Mann, der in demselben Zimmer geschlafen hat«, berichtet Viktor Lutze: »Auf die Eröffnung seiner Verhaftung lamentiert Heines.« Hitler reagiert gar nicht darauf. »Da ich befürchte, dass eventuell plötzlich von oder aus dem Nachtschränkchen eine Pistole gegriffen werden könnte, gehe ich in das Zimmer, um es zu durchsuchen und um aufpassen zu können«, notiert Lutze. Heines wendet sich »laut und wehklagend« an ihn, doch er, auf derselben Rangstufe wie Heines, kann gar nichts tun und sagt, er »solle doch nicht wie ein Jammerlappen handeln und ruhig sein«.9 Die Kriminalbeamten nehmen den Polizeichef von Breslau fest. Gegen den jungen Mann, der mit Heines im Bett gelegen hat, wird Hitler laut Alfred Rosenbergs Gewährsmann Max Amann sogar gewalttätig. »Nie habe der Führer sich an einem Menschen vergriffen«, erzählt der NSDAP-Verleger und Verwalter des persönlichen Vermögens Hitlers dem Chefredakteur der Parteizeitung Völkischer Beobachter wenig später. Jetzt aber hätte er »den Lustknaben gepackt und voller Ekel an die Wand geschmissen«.10 Auch anderen gegenüber gibt Hitler sich empört: »Unerhört und schamlos« sei gewesen, was er in Heines’ Zimmer habe sehen müssen, sagt er wenig später zu einem Oberstleutnant der Reichswehr, »so schamlos, wie ich es nie in meinem Leben für möglich gehalten hätte«.11 Erich Kempka bekommt mit, wie Hitler in Heines’ Zimmer schreit: »Wenn Sie nicht in fünf Minuten angezogen sind, lasse ich Sie an Ort und Stelle erschießen!« Der Chauffeur tritt ein paar Schritte zurück, und ein Polizeibeamter flüstert ihm zu, dass Heines mit einem jungen SA-Mann im Bett gelegen habe: »Endlich kommt Heines aus dem Zimmer, und vor ihm tänzelt ein achtzehnjähriger blonder Bengel.«12 Es handelt sich um den tatsächlich knapp 21 Jahre alten Breslauer Erich Schiewek, der am Vortag ganz kurzfristig als Heines’ Begleiter eingesprungen ist und vorher keine Beziehung zum SA-Chef seiner Heimatstadt gehabt hat. Er wird zusammen mit anderen festgenommenen SA-Führern in die Waschküche geführt und muss dort unter Bewachung warten.13 Röhm dagegen, inzwischen in einen blauen Zivilanzug gekleidet, setzt sich im Vestibül der Pension in einen Sessel, raucht eine Zigarette und bestellt beim Wirt Kaffee. »Hitler blickt ihn verbissen an, sagt aber kein Wort«, bemerkt Kempka. Der verhaftete SA-Chef gibt sich selbstsicher: »Wegen Hochverrat kann man mir nichts.«14 Offenbar betrachtet er die Ereignisse des Morgens als Missverständnis, das sich bald aufklären werde. Nicht alle SA-Führer unter den Gästen der Pension werden festgenommen. Für Hans-Karl Koch, ehemals ein enger Mitarbeiter von Edmund Heines, verwendet sich Viktor Lutze bei Hitler. Der bereits festgenommene und entwaffnete 37-Jährige, inzwischen nicht mehr in Breslau, sondern in Westdeutschland für die SA tätig, wird daraufhin freigelassen und bekommt sogar seinen Uniformgürtel mit dem Pistolenhalfter zurück; er wartet im Gastraum neben dem bewachten Röhm.15 Auch Emil Ketterer, der Leibarzt Röhms, Chef des SA-Sanitätswesens und Teilnehmer des Novemberputsches 1923 in München, bleibt unbehelligt. Aufgeschreckt durch den Betrieb auf dem Flur im ersten Stock, verlässt er voll angekleidet sein Zimmer, in dem er mit seiner Gattin übernachtet hat. Hitler tritt auf Ketterer zu, begrüßt seine Frau und ihn per Handschlag, dann bittet er beide, die Pension Hanselbauer zu verlassen. Sie sei »an diesem Tag kein angenehmer Aufenthaltsort«.16 Der Arzt befolgt den Ratschlag. Hitlers Wagenkolonne bei der Abfahrt in Bad Wiessee am Morgen des 30. Juni 1934. Der Handstreich gegen Ernst Röhm, Edmund Heines und einige weitere SA-Führer in Bad Wiessee ist »reibungslos« gelungen, wie Goebbels vermerkt.17 Hitler wirkt zufrieden: Er will mit den Gefangenen nun zurück in die Münchner Innenstadt. Eine gut 50 Kilometer weite Strecke. Er weist den Chef seines Fuhrparks Julius Schreck an, einen Omnibus zu besorgen, um die etwa anderthalb Dutzend Gefangenen abzutransportieren; Röhm soll in einem Wagen getrennt von seinen Untergebenen gefahren werden.18 Es ist etwa acht Uhr morgens; seit dem Eintreffen der Wagen vor der Pension sind rund 75 Minuten vergangen. Doch unerwartet ergibt sich ein neues Problem: Entweder noch auf dem Parkplatz der Pension oder kurz nach der Abfahrt der Kolonne kommt den Autos ein Lastwagen mit SA-Leuten entgegen. Es handelt sich um die Stabswache, eine auf Röhm persönlich eingeschworene Leibgarde, die gewöhnlich unter dem Kommando des schon festgenommenen Julius Uhl steht. Die Männer sind für diesen Vormittag nach Bad Wiessee beordert worden. Hitler selbst, formal der höchste SA-Führer, muss aussteigen, um sie zum Umkehren zu bewegen. Viktor Lutze wartet derweil in der Pension Hanselbauer, in die Röhm für diesen Samstagsvormittag die wichtigsten SA-Führer aus dem gesamten Reich bestellt hat; seine Aufgabe ist es, anreisende Spitzenfunktionäre der Braunhemden zurück nach München in die NSDAP-Zentrale in der Brienner Straße zu schicken, genannt Braunes Haus.19 Mehrere anreisende SA-Führer begegnen auf der Fahrt zur Pension Hitlers Wagenkolonne. Der Reichskanzler hat seinen Chauffeur angewiesen: »Sie halten von jetzt ab jeden uns entgegenkommenden Wagen an. Wir wollen uns die SA-Führer einmal anschauen, die unterwegs nach Wiessee sind.«20 Bis zu 20 ranghohe Braunhemden schickte Hitler in ihren eigenen Wagen nach München zurück, erinnert sich Kempka.21 Etwa gegen halb zehn Uhr morgens kommt Hitlers kleine Kolonne am Braunen Haus an, das ungewöhnlicherweise »von einer Kompanie Reichswehr abgesperrt« ist, die Maschinengewehre aufgestellt hat, wie Hitlers völlig überraschtem Adjutanten Fritz Wiedemann auffällt.22 Der Omnibus mit den in der Pension festgenommenen Männern und der Wagen mit Röhm sowie einige der umgeleiteten Autos mit weiteren SA-Führern sind gleichzeitig auf Umwegen unterwegs ins Gefängnis Stadelheim im Süden von München. Hitlers Auftreten in Bad Wiessee am Morgen des 30. Juni...