Roman
E-Book, Deutsch, 569 Seiten
ISBN: 978-3-7517-0408-3
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Hildegard E. Keller lebt in Zürich. Literaturprofessorin und -kritikerin. 2009-2019 Jurorin beim Bachmannpreis in Klagenfurt, 2012-2019 im Literaturclub des Schweizer Fernsehens. Weniger bekannt sind ihre eigenen Werke als Autorin (Hörspiele, Theater) und Dokumentarfilm-Regisseurin. Sie wirft einen frischen Blick auf Frauenleben (u.a. Hildegard von Bingen). Was wir scheinen ist ihr erster Roman.
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1 Der letzte Sommer
Auf der Reise nach Tegna, 25. Juli 1975 »Gentili signori, siamo in arrivo a Bellinzona. Per Lugano binario due.« Wie lange hatte sie geschlafen? Lag der Gotthard schon hinter ihnen? Die Stimme des Schaffners hatte sie geweckt. Es war stickig im Raucherabteil, das nun fast leer war. Ein Zug noch immer ohne Klimaanlage, absolut undenkbar in Amerika, dachte sie und wandte den Kopf zum Fenster. Ihre Augen suchten die Landschaft nach einem Anhaltspunkt ab, an dem sie sich orientieren konnte. Vergeblich. Das Grün vor dem Fenster zerfloss im Regen, der ans Zugfenster prasselte. Es roch metallisch. Sie erinnerte sich, dass die Lokomotive hart gearbeitet hatte, härter als bei der Abfahrt aus Zürich, wie von Zeit zu Zeit die Scheiben gezittert hatten, wenn ein Zug vorbeidonnerte. Dann war sie wohl eingenickt. Als sie das Quietschen der Bremsbeläge hörte, wusste sie, dass der Zug talwärts fuhr. Sie kannte die Strecke. Diesmal konnte sie bis Locarno sitzen bleiben. Diese Durchsage war für sie also bedeutungslos. Was aber hatte sie im Traum gehört? Kiwitt kiwitt, kommt mit mir mit, kommt mit. Der Traum vom Glaskasten war ihr vertraut, besonders auf Reisen begleitete er sie. Weiß Gott, warum ihn das Unterwegssein anlockte. Wie ein verspielter kleiner Hund riss er Satzfetzen aus ihrem Werk und legte sie ihr vor die Füße, als spielte er sein Spiel. Der Traum als ihr wildester Leser. Ganz schön bunt treibt er’s heute, dachte sie und fuhr mit dem Zeigefinger unter die Brille, das Augenlid juckte. Kiwitt kiwitt, kommt mit mir mit, kommt mit – und das aus dem Glaskasten, aber was hatte der Satz denn bei Eichmann verloren? Im Sommer 1961 hatte sie den Traum zum ersten Mal gehabt und das Gefühl beim Aufwachen nie mehr vergessen können. Das Erste, was sie gesehen hatte, waren ihre Hände, nah beieinander auf der Bettdecke, und das Morgenlicht, das auf ihnen tanzte. Jerusalem. Sie hatte das kleine Zimmer in der Pension Reich in Beit Hakerem gemocht, zwar lag es ziemlich weit weg vom Stadtzentrum, dafür in der Nähe der Hebrew University, ruhig und so erholsam wie in den Bergen. Vorher war sie für zwei Nächte im Stadtzentrum gewesen, unweit der King George Street in einem Hotel in Rechavia, aber sie hatte es scheußlich gefunden, und überhaupt gab es zu viel Gewimmel. Alle Reporter hatten in dieses Grunewald im Orient gewollt, der Stadtteil war in den Zwanzigerjahren von deutschen Emigranten erbaut worden, eigentlich für ein Häuflein Intellektueller und Künstler, das richtig groß wurde, als die Deutschen den Deutschen Deutschland wegnahmen. Bald danach war sie zum zweiten und letzten Mal aus Jerusalem abgereist, wie die allermeisten Journalisten lange vor der Verkündung des Todesurteils, und direkt nach Zürich geflogen. Seither folgte ihr der Traum, treu wie ein Hund. So fühlte es sich an, obwohl sie nie einen Hund gehabt hatte. Sie blickte aus dem Fenster. Mein Hund hat mich nur im Schlaf an der Leine, sonst bin ich unleashed. Als der Zug stillstand, sah sie, wie der Regen ans Fenster peitschte. In Bellinzona war niemand aus- oder zugestiegen. Noch eine knappe Stunde bis Locarno, da geht noch ein Keks, sagte sie zu sich und holte die Waffeln aus der Handtasche, die sie jedes Mal im Kiosk am Flughafen kaufte, schälte die Alufolie um den Stängel herunter und biss genüsslich hinein. Lecker, die hauchdünne Schokolade, mit der die Waffel überzogen war. Diesmal hatte der Traum sie in den Presseraum geführt, einer dieser fensterlosen Räume im Gerichtsgebäude, meistens überfüllt und laut. Sie hatte im Traum auch sich selbst an einem der Journalistentische sitzen sehen, ihre Augen über Aktenberge hinweg auf einen der Bildschirme gerichtet, auf den das Geschehen im Gerichtssaal übertragen wurde. Männerstimmen, Schreibmaschinengeklapper, Telefongeklingel und babylonisches Sprachengewirr. Was die Richter und der Staatsanwalt im Gerichtssaal auf Hebräisch sagten, vermischte sich mit den Simultanübersetzungen, die nur über Kopfhörer kamen. Ach, diese Übersetzungen, die waren nun wirklich kein rühmliches Kapitel der Prozessführung gewesen! Erbärmlich, was man als deutsche Übersetzung zu verkaufen gewagt hatte. Zum Glück mutete der Traum ihr das Deutsch der Dolmetscher nicht zu! Alles, wirklich alles dreht sich um Sprache. Immer wieder apportierte der Traum Satzfetzen. Welcher Instinkt leitete ihn? Wie schon so oft hatte sie die Stimme mit dem rollenden R gehört, die Stimme aus dem Glaskasten oder auch vom Tonband. Man hatte das Vorverhör aufgezeichnet und in der Verhandlung immer wieder abgespielt, und jetzt erinnerte sie sich auch wieder, dass Eichmanns Stimme auf Band anders geklungen hatte, irgendwie sonorer, auch hatte er sehr viel seltener Jawoll gesagt als vor den Richtern. Aber zwei Dinge fand sie nun doch ziemlich abstrus an dem Traum. Erstens, dass die Zigaretten fehlten. Zum Rauchen war sie fast immer ins Pressebüro gegangen, denn im Saal hatte man kurioserweise nicht rauchen dürfen. Nur gut, dass das Rauchverbot auf den Gerichtssaal beschränkt gewesen war. Wo käme man hin, wenn man in Hörsälen und Fernsehstudios, in Zügen und Flugzeugen nicht mehr rauchen dürfte. Und zweitens war merkwürdig, dass sie im Traum selbst mit im Bild gewesen war, als hätte man sie gefilmt. Nie im Leben hätte sie das zugelassen, aber andere hatten die Chance eifrig genutzt und in den Pausen und nach Ende der Gerichtssitzungen vor den laufenden Kameras der Amerikaner Interviews gegeben, als hätte sich das Publikum eine kleine Auflockerung verdient. Sogar der Staatsanwalt und der Verteidiger hatten sich zu Kommentaren über den Angeklagten hinreißen lassen. Nicht mal ein Minimum an Respekt, besonders in ihrer Rolle wäre das doch zu erwarten gewesen. Justiz, was denn sonst. Aber Generalstaatsanwalt Hausner war seiner eigenen Eitelkeit auf den Leim gegangen, und Servatius, Eichmanns Verteidiger, hatte ihn darum beneidet. Zum Kotzen das alles. Heinrich hatte sie so was immer schreiben können. Manchmal hatte ein Wort genügt, den Rest malte er sich ja aus. Wie sehr er ihr doch immer noch fehlte. Sie biss ein kleines Stückchen von der Waffel ab, schob es mit der Zunge hin und her. In Locarno war alles gut vorbereitet, sie hatte einen Fahrer bestellt, der sie nach Tegna bringen würde. Sie nahm den Waffelrest aus der Folie und blickte auf die Tropfen am Zugfenster. Der Mensch allein ist wie eine abgehauene Hand, dachte sie und steckte die Verpackung in den Müllbehälter. Auf der Fensterablage lagen die Zigaretten und das Feuerzeug, ein Geschenk von Heinrich zum Sechzigsten. Es funktionierte noch immer tadellos, nur dass die Flamme etwas zu groß war. Ganz Monsieur. Sie zündete sich eine Zigarette an, den Kopf leicht schräg gelegt, und machte zwei tiefe Züge. Sie nahm ihre schwere Hornbrille von der Nase, rieb sich kurz die Augen und setzte die Brille wieder auf, aber das bleierne Gefühl in den Schläfen war immer noch da. Früher schlug ich mir auf Transatlantikflügen locker zwei Nächte um die Ohren, aber jetzt? Nachdem der Zug Zürich verlassen hatte, hatte sie eine Weile gelesen und dann bei heruntergezogenem Fenster mit geschlossenen Augen das Geräusch des im Wind flatternden Sonnenschutzes in sich aufgenommen. Der Fahrtwind war warm über ihr Gesicht gestrichen. Wie ein Segel, hatte sie noch gedacht, bevor sie eingeschlafen war. Sie drückte die zur Hälfte gerauchte Zigarette in den Aschenbecher, stand auf und öffnete das Fenster, aber nur einen Spalt breit, damit es nicht auf ihre Bücher regnete. Sie blieb stehen und hielt sich an den Knopfgriffen des Fensters fest. Dann ging sie ein paar Schritte den Gang auf und ab, hier konnte sie sich etwas die Beine vertreten. Ihre Gelenke schmerzten. Zwölf Stunden in der unterkühlten Boeing B-747 vom J.F. Kennedy Airport bis nach Zürich, kein Pappenstiel, auch wenn sie beide Flughäfen aus dem Effeff kannte. Möglich, ja, vielleicht könnte es etwas viel gewesen sein. Wie besorgt hatten ihre Freundinnen geblickt, nachdem sie letztes Jahr aus Schottland heimgekommen war und ihr Leben wieder aufgenommen hatte. Die Worte waren eindringlich gewesen. Hannah, nach dem Herzinfarkt solltest du jetzt wirklich kürzertreten. Mit beiden Händen stützte sie sich auf die Rückenlehne ihrer Sitzbank. Ein Mann im Nachbarabteil blickte von seiner Zeitung auf und grüßte mit einem Nicken. So freundlich, wie der dreinschaut, dachte sie, fragen kostet ja nichts. »Könnte der Herr mir in Locarno vielleicht mit den Koffern helfen, falls mein Fahrer nicht auf dem Bahnsteig steht?« »Selbstverständlich, gern.« Erleichtert ging sie in ihr Abteil zurück und setzte sich. Ihre Augen folgten dem flirrenden Nass. Fäden überzogen das Zugfenster. Das war nun ihr siebter Sommer im Tessin. Sie konnte sich so gut erholen in Tegna. Schon im letzten Jahr hatte sie zu Ena Jenny gesagt: Die Casa Barbatè ist ein Paradies, aber mein Speisekarten-Italienisch werde ich nicht mehr aufpolieren. Sie mochte die Pensionsbesitzerin, eine gebürtige Irin, die in drei Sprachen zu Hause war. »Certo, Hannah, du bist nicht die einzige Amerikanerin im Tessin. Übrigens soll drüben in Berzona noch ein deutscher Dichter zugezogen sein.« Auf Italienisch konnte sie verzichten, aber nicht auf Französisch. Nie im Leben hätte sie ihr Französisch verlieren wollen. Die Pariser Jahre, die Freunde, was sie miteinander erlebt und nach dem Einmarsch der Deutschen gemeinsam durchgemacht hatten, und, merkwürdig genug, auch ihre nur knapp gelungene Flucht und der Neuanfang in Amerika. All das war Paris für sie. Natürlich auch...