Ein Leben voller Täuschung und Gefahr
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-7693-5909-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christian Kaufmann ist Manager und Aufsichtsratsmitglied im Internetumfeld. Er wurde 1974 in Bayreuth geboren, wuchs in Deutschland und der Schweiz auf, lebte und arbeitete eine Zeit lang in London und hat seinen Wohnsitz nun seit 15 Jahren in München. Seit seiner Kindheit liebt er gute und unvorhersehbare Geschichten, egal ob als Film, Buch, im Pen und Paper Rollenspiel oder als Videospiel. Das Verweben von gut recherchierten Fakten und einer Prise - Was wäre wenn? - zeichnen ihn dabei aus. Das Hütchenspiel ist der erste komplette Roman und seine Erstveröffentlichung. Ein exzellent recherchierter Krimi für alle, die gern bis zur letzten überraschenden Wendung miträtseln.
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Kapitel
5
Anna lief den großen Flur des Cullen House im Dämmerlicht entlang. Sie war nicht nur hier geboren, sondern hatte die letzten achtzehn Jahre ihres Lebens hier verbracht, deshalb hatte sie keine Mühe, sich trotz des schwachen Lichtes zu orientieren und geschwind fortzubewegen. In ihrer Sportkleidung, mit dem Rucksack auf dem Rücken und einem Seil in der Hand sah sie aus wie eine Einbrecherin. Sie musste lachen bei dem Gedanken, war das, was sie vorhatte, doch das genaue Gegenteil. Ein Gemälde links von ihr zeigte Lewis Alexander, den fünften Earl of Seafield 1767 bis 1840, als alten Herren im Schottenrock vor einer Burg. Francis William, der sechste Earl of Seafield 1778 bis 1853, war ein anderer Herr im Schottenrock vor derselben Burg. Anna ging den Flur entlang, Earl für Earl. Sie kannte alle Namen, alle Daten und alle Geschichten, die überliefert worden waren. Ihr Vater hatte dafür gesorgt. Familie und Geschichte waren ihm immer sehr wichtig gewesen, und so gehörte es zu ihrer Erziehung, den gesamten Stammbaum inklusive Nebenlinien auswendig zu lernen. Erst später hatte sie realisiert, dass dies eine Obsession der Adligen war und nicht jeder seinen Stammbaum bis 1500 zurückverfolgen konnte oder wollte. Anna blieb vor dem Bild ihrer Großmutter stehen. Die Tatsache, dass ihr Bild hier hing, war schon etwas ungewöhnlich, da nicht jede Familie weibliche Nachfolger des Titels erlaubte. In vielerlei Hinsicht war ihre Großmutter ein Vorbild für sie. Sie war nicht nur schön und gebildet, sondern lebte auch ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben und hatte obendrein auch noch einen Nichtadeligen geheiratet. Vielleicht war das einer der Gründe, warum ihr Vater so streng mit ihr war. Ihm lag viel an dem Titel und guten Manieren. Und so sehr er immer das Beste für Anna wollte, so war er doch auch viel strenger und konservativer als ihre Großmutter. Anna riss sich von dem Bild los und ging zum letzten Gemälde in der Reihe, das ihren Vater zeigte. Sie hatten erst vor Stunden miteinander gestritten. Geredet, korrigierte sie sich in Gedanken. Ihr Vater stritt nie und erhob auch nur selten seine Stimme, das wäre nicht standesgemäß gewesen. Ihr Gespräch war fast wie immer verlaufen, weswegen es auch so einfach war, sich daran zu erinnern. „Ich habe gute Nachrichten für dich, Katharina Ann.” Wenn ihr Vater ihren vollen Vornamen benutzte, und nicht das von ihr bevorzugte kürzere und viel weniger staubige Anna, war mit allem zu rechnen, sicher jedoch nicht mit guten Nachrichten. „Das Internat in der Schweiz hat dich angenommen, du kannst dort deinen Bachelor in Finanzen und Management machen, und danach haben wir verschiedene Optionen für den Master. Die Welt liegt dir praktisch zu Füßen. Ist das nicht wunderbar?“, hatte er sie gefragt. „Was ist mit meiner Idee von der Schauspielschule in London? Auch die hätten einen Platz für mich“, erwiderte Anna etwas trotzig, da sie die Antwort bereits kannte. „Aber wir haben doch schon darüber gesprochen und waren uns einig. Schauspielerin ist kein Beruf, sondern mehr eine Passion“, kam es sanft von ihm zurück. „Ein Titel und ein Stand wie der deine geht nun leider auch mit ein paar Pflichten einher, und da ist ein Studium in Finanzen und Management sicher die bessere Ausgangsbasis. Meinst du nicht auch?“, versuchte er, sie zu beschwichtigen. „Du hast natürlich recht“, sagte sie, eher einstudiert durch endlose Dialoge ähnlicher Art davor, als überzeugt. Nun hatte sie noch drei Tage bis zu ihrer Abreise in die Schweiz, dem Lieblingsland der Aristokratie in Europa, wenn es darum ging, die Kinder fernab unter Aufsicht zu parken. Und so blieb ihr nicht viel Zeit, um einen Plan zu schmieden oder ihre Zukunft zu planen. Daher griff sie nach dem einzigen Strohhalm, der sich ihr bot - Diego. Diego war so ziemlich das Gegenteil ihres Vaters, unbeschwerter und lustiger. Vor allem war er frei im Hier und Jetzt. Er war nicht gefangen und bestimmt durch eine fünfhundert Jahre alte Familiengeschichte. Die einzige Zeit, in der ihre eigene Familie nicht lebte, war im Hier und Jetzt. Vielleicht war das der Grund, warum sie sich in ihn verliebt hatte, obwohl sie ihn erst seit einem Monat kannte. Sie riss sich los von dem Gemälde. Sie musste weiter, Diego wartete sicher schon auf sie. Nach kurzen Überlegungen am Nachmittag war ihre Wahl auf das Treppenhausfenster gefallen. Es hatte alles, was sie brauchte: eine Außenmauer, keine angrenzenden Schlafzimmer, es war weit weg vom Eingangsportal und doch gleichzeitig am nächsten am Wald, der ihr Sichtschutz geben würde. Das Seil war schnell befestigt. Sie hatte es einfach in der Mitte um das eiserne Treppengeländer gelegt, beide Enden durch ihren Abseilachter gefädelt und dann den Rest des Seils durch das zuvor geöffnete Fenster geworfen. Dies würde ihr erlauben, es später einfach abzuziehen und so keine Spuren zu hinterlassen. Nun kam der Teil, den sie am wenigsten mochte. Sie kletterte durch das Fenster, hielt sich mit einer Hand am Rahmen fest, während sich die rechte Hand unterhalb des Achters um das Seil verkrampfte. Sie versuchte, sich an die Reihenfolge zu erinnern, die ihr Diego im Zirkus gezeigt hatte. Ein Fehler hätte einen Sturz aus dem dritten Stock mit dem Rücken voran zur Folge. Was auf jeden Fall das Ende ihrer Flucht, vielleicht auch ihres Lebens bedeuten würde. Glücklicherweise war der Mond auf ihrer Seite und spendete genug Licht, um das Seil und ihre Hände zu koordinieren. Sie nahm ihren Mut zusammen und schwang nicht einmal unelegant ihren Hintern aus dem Fenster. Mit den Füßen gegen die Hauswand gestemmt, hing sie nun frei am Seil. Anna lächelte. Das Abenteuer fing langsam an, ihr Spaß zu machen, und ein Teil der Anspannung fiel von ihr ab. Mit leichten, wohldosierten Bewegungen stieß sie sich von der Wand ab und gab immer etwas Seil nach. „Das Ganze gibt sicher ein sehr verdächtiges Bild ab, wie ich mich hier bei Vollmond wie ein Einbrecher aus dem Schloss abseile.“ Dieser Gedanke ging nicht nur ihr durch den Kopf. Anna ging konzentriert und vorsichtig vor und kam nach wenigen Momenten auf dem Boden an. Vorsichtig nahm sie die Seilenden aus dem Achter und zog das Seil an einem Ende ab. Sie drückte sich schnell an die Hauswand, als sie das Surren und kurze Peitschen des runterfallenden Seiles hörte, damit es sie nicht erwischte. Schnell nahm sie das Seil auf, schlich lautlos zum fünf Meter entfernten Waldrand und verschwand im Schatten desselbigen. Nun hatte sie genügend Zeit, um das Seil aufzuschießen und sich wieder über die Schulter zu werfen, als sie ein vertrautes metallenes Geräusch hinter sich hörte. „Erst die Hände hoch und dann ganz langsam umdrehen“, sagte eine tiefe Stimme. Annas Herz rutschte ihr in die Hose. Ihre Freiheit hatte nicht einmal fünf Minuten angedauert. Ihr Vater würde sie wie geplant in der Schweiz abliefern und wer weiß was sonst noch als Strafe obendrauf setzen. Langsam drehte sie sich um. „Na, wen haben wir denn hier?“ Die Stimme kam näher und Anna konnte die Person, die eine doppelläufige Jagdflinte auf sie richtete, jetzt aus der Nähe sehen. Sie war kein bisschen überrascht, kannte sie die Person doch schon ihr ganzes Leben. Es war Mycroft, der Verwalter und Jäger ihres Vaters, von dem sie alles über Tiere und die Jagd gelernt hatte. „Katharina Ann?“, fragte die Stimme irritiert. Als wäre sie die letzte Person, die er hier erwartet hätte. „Was machst du hier und was soll der Aufzug? Ich hätte dich beinahe erschossen, ich dachte, du wärst ein Einbrecher.“ Anna nahm all ihren Mut und etwas Trotz zusammen. „Ich gehe nicht zurück und ganz sicher auch nicht ins Internat.“ „Verstehe“, murmelte Mycroft nach einer gefühlten Ewigkeit und starrte ihr in die Augen. „Wenn einer Freiheit verstehen sollte, dann doch du.“ „Sicher, ich verstehe aber auch Pflicht und Loyalität.“ Anna wusste nicht, was sie sagen sollte. Irgendwie war schon alles gesagt, was es zu sagen gab, und sie starrte Mycroft einfach zurück an. Mycroft fing an zu nicken, erst unmerklich, dann immer stärker, und nahm die Waffe herunter. „Pass gut auf dich auf, Anna“, sagte er leise, drehte sich um und verschwand im Dunkeln. Anna blieb irritiert zurück und fing leicht an zu zittern. Der Schock und das Adrenalin hatten sie eingeholt. Sie atmete tief ein und aus und ging langsam, aber bestimmt weiter. Das Grundstück des Anwesens war weitläufig, aber sie hatte sich zum Abseilen die Ecke des Hauses ausgesucht, die schon in ihrer Fluchtrichtung lag. Sie musste nur weg von der Straße bleiben, dann sollte alles okay sein. „Wenn es nur nicht so dunkel wäre“, murmelte Anna. Außerhalb des Waldes war das Licht dank des Vollmondes ausreichend, aber hier im dichten Wald sah das schon ganz anders aus. Da sie die Richtung kannte, musste sie nur aufpassen, nicht gegen einen Baum zu rennen. Also hielt sie beide Arme vor sich und lief wie ein Schlafwandler durch...