Zur Geschichte der neugriechischen Standardsprache (1780 bis 1930)
E-Book, Deutsch, 383 Seiten
ISBN: 978-3-412-50631-5
Verlag: Böhlau
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Sprachwissenschaft Historische & Vergleichende Sprachwissenschaft, Sprachtypologie
- Geisteswissenschaften Sprachwissenschaft Einzelne Sprachen & Sprachfamilien
- Geisteswissenschaften Sprachwissenschaft Soziolinguistik
- Geisteswissenschaften Sprachwissenschaft Sprachpolitik
- Geisteswissenschaften Sprachwissenschaft Dialektologie
Weitere Infos & Material
1Sprachliche Emanzipation, Standardisierung und Nationalsprachen
1.1Das westeuropäische Vorbild Unter sprachlicher Emanzipation4 ist im europäischen5 Kulturraum die soziolinguistische Loslösung einer (zunächst „primär mündlichen“ oder als solche stigmatisierten) Varietät/Sprache von einer sozial „übergeordneten“ und dominanten, verwandten oder nicht, (Schrift)Sprache zu verstehen. Diese Loslösung ging meistens mit dem Etablierungsprozess der ersteren Varietät, welche im Laufe der Zeit einen soziolinguistisch äquivalenten Status erlangte und die dominante (Schrift)Sprache schließlich in sämtlichen Domänen ersetzte, einher. Bei den dominanten Sprachen handelte es sich zunächst vor allem um Latein und Altgriechisch, die für lange Zeit als prototypische bzw. als einzige (europäische) „Vollsprachen“ galten, wobei in der Slavia das Altkirchenslawisch eine mehr oder weniger vergleichbare Rolle einnahm und später einige dieser etablierten Varietäten, wie etwa Französisch, Italienisch oder Deutsch, selbst als dominante Kultursprachen gegenüber anderen Varietäten fungierten. Der Begriff der sprachlichen Emanzipation stellt somit einen langwierigen und vielschichtigen Prozess der funktionalen Verteilung, des funktionalen Synkretismus, der sprachlichen Interferenz und der sprachideologischen Wertekonflikte dar; einen Prozess, der das Sprachbewusstsein der westeuropäischen Landschaft vom Hochmittelalter bis etwa dem 17. Jh. geprägt hat. Sprachliche Standardisierung ist ein weit gefasstes Konzept, das im Kontext der Sprachplanung vor allem den Entwicklungsprozess einer (bestimmten) regionalen [<<15||16>>] Varietät zur dominanten bzw. Standardsprache beschreibt.6 In E. Haugens Matrix7 lässt sich dieser Prozess in vier Phasen einteilen: Auswahl (norm selection), Kodifizierung (codification), Ausbau (elaboration) und Akzeptanz oder Aus- bzw. Durchführung (acceptance/implementation), deren zeitliche Abfolge variieren kann und sozial sowie linguistisch bedingt ist. Da die sog. sekundären Dialekte (Entwicklungsrichtung: Standardsprache > Varietäten/Dialekte) eine überregionale bzw. Standardsprache voraussetzen, ist für die Zeit vor der sprachlichen Standardisierung und/oder der Bildung eines Nationalstaats vorwiegend oder ausschließlich mit primären Varietäten zu rechnen (Entwicklungsrichtung: Varietäten > Standardsprache), die zunächst soziolinguistisch weitgehend gleichwertig waren und miteinander konkurrierten. Hier drängt sich die Frage auf, wie sich aus diesem Kontext der sprachlichen Diversität und der funktionalen Äquivalenz heraus eine bestimmte Varietät durchsetzte und [<<16||17>>] es schließlich zur nationalen Monoglossie kam.8 Sowohl M. Weinreichs Definition „Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine“ als auch Haugens Matrix durchzieht der Leitgedanke, dass die sprachliche Standardisierung bestimmten soziopolitischen Entscheidungen und Aktionen unterliege, so dass nicht nur die sozialen (Auswahl, Akzeptanz/Durchführung), sondern auch die sprachlichen Phasen (Kodifizierung, Ausbau) und somit der gesamte Sprachplanungs- und Standardisierungsprozess (sprach)ideologisch motiviert sein können/kann. Nationalsprache ist ein unscharfer Begriff, der die Komplexität des Konzeptes Nation auf eine soziolinguistische Ebene überträgt.9 Insbesondere im europäischen Sprach- und Kulturraum legt der Begriff Nationalsprache die Vorstellung nahe, einer Nation sei eine „dazugehörige“ (National)Sprache zuzuordnen. Diese Zuordnung wurde vor allem im 19. Jh. als eine naturgegebene Ordnung, die zur Vorstellung von sprachlicher Homogenität und Exklusivität führte, verstanden. Im Kontext eines sprachlich-nationalen Homogenisierungsprozesses wurde somit die sprachliche Diversität, vom Grad des linguistischen Abstands zwischen der Nationalsprache und den „anderen“ Varietäten unabhängig, als eine mit dem Konzept Nation im besten Fall „unkonforme“ Situation erachtet. Sprachliche Emanzipation, Standardisierung und sprachlicher Nationalisierungsprozess bezeichnen zum einen unterschiedliche Prozesse bzw. Größen, stellen aber zum anderen, gerade im europäischen Kulturraum, Bestandteile eines in vielen Fällen kontinuierlichen Prozesses dar, während dessen sich aus regionalen und primär mündlichen Varietäten mehrheitlich illiteraler Sprachgemeinschaften überregionale und elaborierte Schriftsprachen mit nationaler Identifikationsdynamik herausgebildet haben. Im Kontext dieses mehr oder weniger kontinuierlichen Prozesses gilt es hier, soziolinguistische Konvergenzen im westeuropäischen Sprach- und Kulturraum hervorzuheben und dann diesen Konvergenzen die entsprechende Entwicklung des (Neu)Griechischen gegenüberzustellen. Im Fall von „europäischen“ Konvergenzen ist allerdings auch die Polysemie oder die Konstruktion des Begriffs Europa bzw. europäischer Sprach- und Kulturraum zu beachten, zumal dieser auf unterschiedliche, z. B. geographische, historische, [<<17||18>>] sprachliche oder kulturelle Weise ausgelegt werden kann. Die grundlegende Trennung zwischen West- und Osteuropa ist historisch und soziopolitisch zwar gerechtfertigt, aber vor allem „Osteuropa“ erscheint als ein heterogenes Gebilde, das als soziopolitische Einheit der entsprechenden Entwicklung der letzten 500 Jahre kaum gerecht wird. In diesem Sinne ist Tornows Ausführungen zu Osteuropa grundsätzlich beizupflichten,10 der der Frage nach dem (räumlich-kulturellen) Ende Osteuropas nachgeht und auf die Verschiebung der kulturellen bzw. soziopolitischen Grenzen aufmerksam macht. Danach seien die unterschiedlichen Binnengrenzen zu beachten, die auf folgende vier Teilräume schließen: Westeuropa („Kerneuropa“, d. h. Frankenreich, England, Skandinavien, Italien, Hispanien; östlichste Sprachen: Slowenisch, Deutsch, Finnisch), Ostmitteleuropa (Sprachen: Kroatisch, Ungarisch, Slowakisch, Tschechisch, Polnisch, Litauisch, Lettisch, Estnisch), Osteuropa (Sprachen: Russisch, Weißrussisch, Ukrainisch, Rumänisch, Serbisch) und Südosteuropa (Albanisch, Bulgarisch, Griechisch, Türkisch, Azeri, Armenisch, Georgisch, Tatarisch).11 Auch wenn die sprachlichen mit den soziopolitischen und kulturellen Grenzen in Tornows Ausführungen nicht immer übereinzustimmen scheinen – es ist beispielsweise fraglich, ob man das Serbische und vor allem das Rumänische von Südosteuropa trennen kann, nicht nur aufgrund der soziopolitischen Entwicklung unter dem Osmanischen Reich und der Zugehörigkeit zum orthodoxen Millet bzw. zum Patriarchat, sondern auch allein aufgrund der Einflusssphäre der Phanarioten und der Bildungsimpulse, die die neugriechische Aufklärung hier gegeben hat –, ist die Trennung Ost- : Südosteuropa vor allem dann sinnvoll, wenn der Fokus auf Ost- und Südosteuropa gerichtet wird. Die Vorstellung von der kulturellen Einheit Europas, sollte sich diese vorwiegend auf der christlichen Identität und dem griechisch-römischen Kulturerbe gründen, ist zwar gerechtfertigt, aber man sollte dennoch beachten, dass selbst die griechisch-römische Antike als einheitliches Kulturerbe ein neuzeitliches Konzept ist, zumal diese vermeintliche Einheit bereits in der Antike eine Idealisierung römischer Denker darstellte. Die Vorstellung von einer westeuropäischen Kultur, die die griechische Antike linear fortsetze und in Homer den ersten „Dichter des Abendlandes“ finde, erinnert jedenfalls an „erschaffene“ Traditionen, wenn man bedenkt, dass gerade altgriechische Sprache und Literatur frühestens im 14. Jh. (z. B. mit M. Chrysoloras), aber hauptsächlich ab dem 15. Jh. (durch byzantinische Gelehrte in der Diaspora) in Westeuropa weitgehend bekannt wurden und eine Gräzistik-Tradition begründeten, so dass man hier eher von einer Diskontinuität ausgehen sollte.12 Der Wettstreit, welche der westeuropäischen Sprachen [<<18||19>>] dem Griechischen sprachlich-kulturell am nächsten stehe bzw. dieses am würdigsten fortsetze – man beachte unter anderem die Übersetzung und Rezeption altgriechischer Literatur13 –, lässt somit die Vorstellung von einer entsprechenden Translatio studii als ein Konzept des gewünschten Selbstverständnisses verstehen. Wenn also an entsprechender Stelle von der Ideologisierung der klassischen Antike und des Altgriechischen in den bürgerlichen griechischsprachigen Eliten zur Zeit der neugriechischen Aufklärung oder im historischen und kulturellen Selbstverständnis des griechischen Nationalstaats die Rede sein wird, sollte bereits hier darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Vorstellung von einer kulturellen Fortsetzung der griechischen Antike oder der Anspruch auf kulturelle „Exklusivität“ kein Konzept der neugriechischen...