E-Book, Deutsch, 164 Seiten
Karr Blutiger Sommer
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7565-7660-9
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichte eines Mädchens
E-Book, Deutsch, 164 Seiten
ISBN: 978-3-7565-7660-9
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Karr & Wehner erzählen in ihrem Jugendroman die Geschichte von Reka' einem Flüchtlingsmädchen, das in Deutschland zuerst in ein Durchgangslager kommt, dann in ein Heim. Hier wird die Vierzehnjährige nur von einem Gedanken beherrscht: Sie will zurück nach Hause und ihre Eltern suchen, die sie in den Kriegswirren auf dem Balkan verloren hat. Ein Ausreißversuch verschlägt sie in die Reviermetropole Essen. Hier muss Reka' die in jenen Wochen zum ersten Mal ihre Tage bekommt, ihr alltägliches Überleben sichern. Sie lernt das Bahnhofsviertel kennen, driftet ins Junkiemilieu ab und nächtigt in den Katakomben eines Einkaufscenters. Als sie den jugendlichen Autoknacker Tracker kennenlernt, hofft sie, mit ihm wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Doch der blutige Sommer ist noch lange nicht zu Ende.
H. P. Karr und Walter Wehner arbeiten seit 1988 zusammen. Geboren 1955 in Saalfeld/Thüringen (Karr) und 1949 in Werdohl (Wehner), wuchsen beide im Revier auf. Als Autorenteam machten sie sich vor allem als Krimischreiber einen Namen. Für ihren Gonzo-Thriller »Rattensommer« erhielten sie 1996 den Friedrich Glauser-Preis für den besten Kriminalroman des Jahres und 2018 wurden sie für »Hier in Tremonia« für die beste Kriminalstory ausgezeichnet.
Autoren/Hrsg.
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Eins
Reka stand am Fenster. Im Garten war alles ruhig. Die warme Luft schwappte ins Zimmer. Es roch nach Heu, Grillen zirpten. Zu Hause mähten sie jetzt bestimmt schon zum zweiten Mal die Wiese am Fluss. »Bleib hier!« Mira hockte auf ihrem Bett. Sie war dick, ihr T-Shirt spannte sich über den Oberarmen, der Bauch hing ihr über den Bund der Jeans. Außerdem stank sie nach Schweiß. Sie kam aus der Stadt in der Nähe von Rekas Dorf, deshalb hatte es die Heimleiterin für eine gute Idee gehalten, Reka mit ihr zusammen in eine Gruppe zu stecken. Im Arm hielt Mira ihren zerfledderten Teddy. Dem Tier fehlte ein Auge, und auf den Bauch hatte Frau Wernig einen grünen Stofflappen genäht, damit dem Tier nicht die Schaumgummifüllung aus dem Leib quoll. Reka hatte Mira bisher noch nie ohne ihren Teddy gesehen. Mira hatte ihn sogar mitgeschleppt, als sie letzten Monat weggelaufen war. »Bleib hier!«, sagte Mira. Sie war ein Jahr älter als Reka und hatte schon ihre Tage. »Ich muss zurück.« Reka erschrak, als ihr klar wurde, dass sie deutsch gesprochen hatte. Schon letzte Woche war ihr aufgefallen, dass sie neuerdings sogar schon in Deutsch träumte. Sie hatte Angst, dass sie ihre Sprache vergaß. Reka zog sich ihren Rucksack auf den Rücken. Das Kartoffelmesser, eine Packung Kekse, die beiden Päckchen mit Papiertaschentüchern, Shirt und Slip. Mehr konnte sie nicht mitnehmen. Sie kletterte auf die Fensterbank. Mira schaute ihr stumm vom Bett aus zu und knibbelte an dem Poster mit der Boyband herum, das sie vor ein paar Wochen aufgehängt hatte. Die vier Jungen grinsten braungebrannt in die Kamera. Das Glasauge des Bären blitzte. Obwohl Mira nichts sagte, wusste Reka, was sie dachte. Zwei Wochen war Mira damals verschwunden gewesen, dann hatte die Polizei sie im Streifenwagen zurückgebracht. Mira redete nicht darüber, was sie draußen erlebt hatte. Mit der Pflegefamilie, mit der die Heimleiterin sie hinterher zusammengebracht hatte, kam sie auch nicht aus. Reka sah Mira an. »Wehe, wenn du was verrätst!« Mira drehte sich zur Wand. Reka kletterte aufs Fensterbrett und sprang. Sie landete auf dem Rasen und schlich an der Wand entlang bis zur Rückfront des Bungalows. Ein paar Grashüpfer stoben aufgeschreckt davon. Als sie Stimmen hörte, drückte sie sich an die Wand und spähte um die Ecke. Der Putz kratzte über ihre Haut. Auf der Wiese mit der Linde war niemand zu sehen. Von weiter hinten kam Musik aus dem Haus der Heimverwaltung. Wegen der Hitze machten die Leiterin und die Erzieher seit ein paar Tagen eine längere Mittagspause. Reka sah sich noch einmal kurz um, ehe sie losging. Das Tor an der Zufahrt stand zwar offen, aber sie wollte nicht, dass eine von den Erzieherinnen dumme Fragen stellte, wenn sie sie weggehen sah. Sie würden am Abend schon früh genug bemerken, dass sie fehlte. Also schlich sie an der Sommerlinde vorbei und drückte sich durch die Ligusterhecke zur Mauer durch, die das Grundstück umgab. Mit ein paar Schritten erreichte sie die Stelle, die sie sich letzte Woche ausgesucht hatte. Hier waren die Steine herausgebrochen, so dass man leicht hinüberklettern konnte. Ein Vogel flatterte auf. Reka zog sich an den Backsteinen hoch und spürte die Hitze der Ziegel auf der Haut. Der Schweiß brach ihr aus und klebte ihr das Shirt am Rücken fest. Sie robbte über Steinbrocken, altes Laub und morsche Äste. Dann war sie auf der anderen Seite und musste hinunterspringen. Sie kam unglücklich auf, spürte einen Stich im Knöchel, rutschte durchs Gras eine Böschung hinunter und landete in einer trockenen Regenwasserrinne. Eine leere Bierdose kollerte hinter ihr her. Sie wischte sich Dreck und Spinnweben aus dem Gesicht und spähte aus dem Graben. Zwanzig Meter weiter donnerte hinter der Leitplanke der Verkehr über die Autobahn. Sie huschte hinüber. Hitzeschwaden waberten über dem Asphalt; mit jedem Wagen traf sie ein Schwall Abgase. Reka schlich über den Schotterstreifen an der Leitplanke die Autobahn entlang. Ihr Knöchel schmerzte bei jedem Schritt. »Bleib hier!«, hatte Mira gesagt. Ein Signalhorn röhrte auf, mit dem Ton brauste ein riesiger Tieflader an Reka vorbei. Drüben, auf der anderen Seite der Autobahn, zupfte ein halbes Dutzend Kühe träge am Gras. Hinter der Weide lag ein Waldstück, die Bäume verschwammen im blaugrauen Dunst. Reka stieg über die Leitplanke und wartete auf eine Lücke im Verkehr. Sie sah für eine Sekunde, wie der Fahrer eines roten Sportwagens erschrocken gestikulierte, ehe er an ihr vorbeifegte. Reka spurtete los. Atemlos ereichte sie den Mittelstreifen, wartete und rannte dann über die Gegenfahrbahn. Schwang sich über die Leitplanke, hastete an den Kühen vorbei und erreichte endlich das Waldstück. Sie zwängte sich durchs Farnkraut, übersah dabei aber eine Brennesselinsel. Zum Glück schützte die Jeans ihre Beine, dafür brannten die Blätter höllisch auf den nackten Armen. Reka kämpfte mit zusammengekniffenen Lippen gegen den Schmerz, während sie tiefer in den Wald eindrang. Richtiges Unterholz gab es hier gar nicht, nicht so ein verfilztes und verwachsenes Dickicht wie daheim in ihrem Dorf hinterm Fluss. Sonnenstrahlen flirrten durch die Buchenkronen, und im Zwielicht am Boden lösten sich die Umrisse der Bäume in silbrigem Grau auf. Es roch fast wie zu Hause, nach Sommer, nach Wildkräutern und Pilzen. Es war heiß. Seit mehr als einer Woche hatte es jetzt schon nicht mehr geregnet. Die schwüle Luft trieb Reka den Schweiß aus allen Poren. Sie trabte über trockene Blätter, achtete auf Tierspuren und hielt sich von den größeren Wegen fern. Ihr Shirt war inzwischen klatschnass und dreckig vom Staub. Sie musste sehen, dass sie nachher einen Bach fand, um es zu waschen. Oder noch besser einen Bauernhof mit Brunnen. Bei dem Gedanken an helles, klares Wasser leckte sie sich die Lippen. Ihr Knöchel schmerzte jetzt fast bei jedem Schritt. Sie machte eine Pause und ging dann langsam weiter. Der Schmerz ließ nicht nach. Wenn sie an einen Bauernhof kam, konnte sie vielleicht einen Umschlag mit Essigwasser machen. Der hatte jedenfalls damals ihrer Mutter bei ihrem verstauchten Fuß geholfen. Dann strahlte das Sonnenlicht auf einmal heller, die Bäume wichen zurück, und Reka stand vor einer Lichtung mit Grasrispen und Wachtelweizen. Außer dem Summen der Bienen und Wespen war nichts zu hören. Reka ließ sich auf einem Baumstumpf am Rand des Schlages nieder. An den Schnittflächen klebte dickflüssiges Harz. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und schloss die Augen. Blätter raschelten, Mücken und Fliegen umschwirrten sie, links von ihr knackte ein trockener Ast. Früher war Reka gerne im Wald herumgestrolcht, jetzt ängstigten sie die Geräusche. Es knackte wieder, diesmal aus einer anderen Richtung. Langsam nahm sie den Rucksack ab und holte ihr Messer heraus. Wildtauben gurrten. Eine Hummel summte von der Wiese herüber und sie zwang sich, nicht nach ihr zu schlagen. Der alte Potschka aus dem Dorf sagte, dass man die Tiere nicht reizen durfte, wenn sie einem zu nahe kamen. Plötzlich raschelte es dicht neben ihr. Reka zuckte zusammen, aber dann sah sie, dass es nur ein Braunhörnchen war, das vorbeihuschte und am nächsten Stamm in die Höhe jagte. Sie steckte das Messer wieder ein. In ihrem Knöchel stach der Schmerz jetzt schon, ohne dass sie überhaupt auftrat. Und erst jetzt spürte sie, wie dringend sie pinkeln musste. Sie zwängte sich in die Büsche, streifte die Jeans herunter und ließ den Strahl in den trockenen Waldboden laufen. Hinterher kramte sie ein Papiertaschentuch aus ihrem Beutel und wischte sich ab. Eine Spur Blut schmierte über den Zellstoff. Zu Hause war sie oft stundenlang durch den Wald hinter dem Dorf gestromert, durch das Gewirr aus Dornenranken, Schlinggewächsen und windschiefen Stämmen, in dem es fast kein Durchkommen gab. Zu Hause gab es mehr Vögel; im letzten Frühjahr hatte Reka einen frisch geschlüpften Häher unter einer Eiche gefunden und ihn zu Hause mit Ameiseneiern und Brotkrumen aufgepäppelt. Hinterm Fluss gab es sogar Wölfe. Das erzählten jedenfalls die Großeltern, wenn sie in der Stube saßen und draußen Schnee lag. Die Wölfe, meinten sie, würden im Winter vom Hunger aus den Wäldern getrieben, streiften dann über die Felder und wagten sich bis in die Dörfer, um die Tiere in den Ställen zu reißen oder Kinder anzufallen. Der Potschka, hieß es, hätte das vor ein paar Jahren selbst erlebt. Bei dem sei in einer Januarnacht ein riesiger Wolf im Stall aufgetaucht und hätte gleich drei Schafe totgebissen. Reka schluckte. Sie wollte nicht heulen. Sie hatte im Lager nicht geflennt und auch später im Heim nicht, als man sie zu Mira in Frau Wernigs Gruppe gesteckt hatte. Sie biss sich auf die Unterlippe und atmete durch die Nase. Sie musste vorsichtig sein. Vielleicht waren Soldaten in der Nähe. Sie hatte gesehen, was mit denen passiert war, die geweint hatten. Die Soldaten waren mit ihren Jeeps, drei Lastwagen und einem gepanzerten Fahrzeug am frühen Morgen ins Dorf gekommen. Reka wachte von dem Geschrei auf, sie hörte die Angst in der Stimme ihres Vaters und sah den entsetzten Blick ihrer Mutter, als sie sie wachrüttelte. »Lauf weg!« Die Mutter zerrte Reka aus dem Bett und flüsterte voller Panik, dass sie sich anziehen sollte. Reka fror auf einmal. Und dann kam das Zittern wieder, wie damals, als die Soldaten sie überfielen. Sie schlüpfte gerade in ihre Kleider, als die Soldaten unten die Haustür aufbrachen. Gleich darauf explodierte eine Handgranate; das Haus schien zu beben, es roch nach Rauch, sie...