Karlweis / Sonnleitner | Schwindel | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Karlweis / Sonnleitner Schwindel

Geschichte einer Realität

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-9504158-6-5
Verlag: DVB Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In ihrem letzten Roman "Schwindel. Geschichte einer Realität", der 1931 bei S. Fischer in Berlin erscheint, schildert Marta Karlweis den selbstverschuldeten Niedergang einer anfangs noch bürgerlichen Familie in der Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Das Epizentrum dieses beißend-sarkastischen Geschichtenreigens voller Bosheit, Täuschung und Verblödung bildet ein windiges, heruntergekommenes Zinshaus am Rennweg. Ein bitterböser Abgesang auf die gar nicht heile Welt von gestern.

"'Schwindel' ist ein Roman von großer Wucht, vom ersten Absatz an [...] Marta Karlweis schreibt ohne Weichzeichner, manchmal distanziert, fast spöttisch, dann wieder mit großer Nähe zu ihren Figuren."

– Bettina Eibel-Steiner, Die Presse

"Das Raffinierte am 'Schwindel' ist, wie klug und weitsichtig Marta Karlweis das Unglück von Ungebildeten schildert. Sie schreibt in saftiger, plastischer Sprache – als wäre alles frisch gedacht oder spontan gesagt. Vieles unterlegt sie mit psychologischen Erkenntnissen – etwa dass unfreiwillige Armut so ängstlich mache, als müsste man auf einer schmalen, hohen Mauer voller Glasscherben vorankommen."

– Hedwig Kainberger, Salzburger Nachrichten

„Am gründlichsten vergessen werden in der Literaturgeschichte jene Frauen, deren Werke der Nationalsozialismus zunichtemachte. So ein eklatanter Fall ist auch Marta Karlweis (1889–1965)."

– Franz Haas, Der Standard
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DIE MENSCHLICHE GEMEINHEIT
Die Großmutter sah auf einem Auge so gut wie nichts; ich glaube, das Übel, das sie hatte, nennt man „Mouche volante“. Desungeachtet las oder häkelte sie unermüdlich und trieb das eine wie das andere mit einem zugekniffenen Auge, Buch oder Arbeit knapp vor dem Gesicht. Krank war sie nie, kein Mensch sah sie je müßig sitzen. Einmal aber saß sie da mit den Händen vor sich auf dem schwarzen Rock, das war an dem Tag, an dem ihr jüngerer Sohn begraben wurde. Dieser Sohn war blond und freundlich gewesen, er hatte es weit gebracht, wie man das nennt, er war nicht alt geworden, eine Millionenstadt hatte ihn geliebt und geehrt und bereitete ihm jetzt ein großartiges Begräbnis. Bei der Mutter saß der älteste Sohn, schwarzhaarig, angegraut schon, er erboste sich darüber, daß sein Kranz drüben bei der Aufbahrung – er deutete mit dem Kopf über die Schulter, um das in der gleichen Straße gelegene Trauerhaus zu bezeichnen – nicht auffällig genug am Katafalk placiert gewesen sei. Kein Mensch könne die Inschrift auf der Schleife lesen: Dein treuer Bruder. Seine Frau saß auch da, die Großmutter sagte ihr „Sie“. Heute sagte sie freilich gar nichts. Der Sohn schrie, denn die Großmutter war beinah taub. Die Schwiegertochter schrie: Wozu schreibt man das in Goldbuchstaben hin, dein treuer Bruder, wenn es kein Mensch liest? In einer Ecke des Zimmers befand sich ein schwarzgekleidetes kleines Mädchen. Das trat plötzlich vor und sagte – es zitterte etwas dabei –: Warum schreist du so? Mein Vater hat nie so schreien müssen mit der Großmama. Die Schwiegertochter schrie zugleich: Unerhört ist so was, fünfzig Gulden hat uns der Kranz gekostet, und aus Bosheit legen sie ihn nicht anständig hin. Das kleine Mädchen starrte das Weibsbild überwältigt an. Tief innig fühlte es, was das ist, menschliche Gemeinheit. Irgendein Verwandter führte die Kleine mit einem entrüsteten Ausruf aus dem Zimmer und strich ihr beschwichtigend über Stirn und Augen. Das war natürlich Unsinn. Diese runde, komplette Offenbarung hatte die Kleine viel weniger verwundet als vielmehr rasend interessiert. Also so sah das aus, darum verkehrte man nicht mit der Frau. Und auch nicht mit ihrem Mann, obgleich er der Bruder war. Es war wohltuend, wie das stimmte. Das angenehme Ehepaar, das auf diese Weise aus dem Nichts in unsere Geschichte tritt, wird gleich wieder im Nichts verschwinden, denn wir brauchen es nicht mehr, es hat seine Funktion längst erfüllt, es hat vor Jahr und Tag die Großmutter und damit die ganze Familie „hereingelegt“. Damit jemand hereingelegt werden kann, muß er eine schwache Stelle haben, und diese schwache Stelle war da, sie bestand in der jüngsten Schwester (oder Tochter) namens Johanna. Wenn die Tante Johanna zur Tür hereinkam, war es immer ein bißchen peinlich. Denn es ist nicht ganz richtig, wenn eine erwachsene Person mit dem Hut nicht weit liber die Türklinke hinaufragt. Sie schien das auch zu empfinden, denn sie lachte immer schon so komisch, ehe sie völlig erschienen war, es klang verlegen, und man ängstigte sich sogleich im Vorgefühl der Witze, die sie machen würde. Sie segelte auf einen los, man hatte ein Butterbrot in der Hand, mein Gott, was ist schon ein Butterbrot! Tante Johanna aber schrie munter: No, was is, schenkst mir dein Butterbrot? Nein? Wie? Was? Mir scheint, du bist nicht von Schenkendorf, was, was, wie? Und sie lachte, daß ihr das Wasser in die Augen schoß. Diese Augen füllten sich übrigens bei jeder Gelegenheit mit Wasser, sie hatten auch stets entzündete Ränder. Im Ruhezustand waren es Augen eines ängstlichen Kaninchens. Tante Johanna hatte überhaupt Ähnlichkeit mit einem Kaninchen: das Herumhopsen, das sinnlose Stillhalten, das Äugen, die ewige Angst. Sie lebte am Rande des Schwachsinns und wußte, daß sie schuld war – Nein, schuld war eigentlich ihr Mann, mein armer Mann (er war tot), von dem sie acht Kinder hatte, zwei waren im Wickelband gestorben, die andern lebten, drei Söhne, drei Töchter. Sonderbarerweise war es auch peinlich, daß diese magere Winzigkeit achtmal Leben aus sich hervorgebracht hatte, sechsmal mit dauerndem Erfolg, denn es waren ganz kräftige Leute, ihre Kinder, die Söhne patschig zwar und naßhandig, aber groß gewachsen, die Töchter ungleich, aber von diesen wird noch ausführlich die Rede sein. Um kurz aufs Wesentliche zu kommen: alle sechs zusamt der Mutter hatten nicht zu leben, ihr frühverstorbener Vater war ein besonderer Typus gewesen, halb Lump, halb Phantast, die Familie war ihm mehrmals unter Geldopfern in arger Lage beigesprungen. Johanna hatte sich den August Schnabel nicht selber ausgesucht, er war ihr vom Vater zur Ehe gegeben worden, der Vater mußte es daher auch ausbaden. Als aber der Vater gestorben war und die Mutter natürlich fortfuhr, die ewig klaffenden Löcher des Schnabelschen Haushalts zuzustopfen so gut sie konnte, stand der älteste Sohn auf und sagte, so geht das nicht weiter, wir kommen alle an den Bettelstab, die Mama muß ihr Vermögen immobilisieren. Ihm pflichtete die ältere Schwester bei, die Karoline, die brauchte Sicherheit und wollte hoch hinaus, weil sie einen Generalstäbler zum Mann bekommen hatte und in einem unaussprechlichen Dünkel einherschwebte. Vier Kinder besaß auch sie und scheinbar eine natürliche Anlage zum Matronenstand. Hier sei weiter nur mitgeteilt, daß sie die Schwester samt ihrem albernen Kinderkriegen in Grund und Boden verachtete und in jedem weiteren Schnabel eine fressende Gefahr für den Wohlstand der Ihren erblickte. Sie vereinigte sich daher mit dem Bruder, dem sie sonst seiner Mißheirat wegen schlankweg das Haus verboten hatte. Der jüngere Sohn, Max, verhielt sich in der ganzen Sache schweigend. Er fand es unrecht, daß man der törichten und hilflosen Johanna derart den Brotkorb höher hängen wolle. Andererseits fürchtete er mit Grund und ernstlich, daß besonders der höchst zweifelhafte männliche Schnabelsche Nachwuchs am Ende die Großmutter selbst in Not und Jammer drängen werde, und so ließ er die andern schalten und zog sich still aus der Affäre. Der Älteste, Franz, hatte nun freie Hand. Er gedachte einen richtigen Coup auszuführen, der von seiner Frau, einer verschmitzten Agentenswitwe (die stereotype Zeitungsanzeige ihres ersten hatte mit den Worten begonnen: Verkaufe jedes Haus binnen drei Tagen), schon lange vorbereitet worden war. Er für seine Person handelte nicht aus platter Geldgier, sondern um seiner Ideen willen. Kein Bücherheld war er wie der berühmte Max, sondern ein schlichter Mann der Tat, des täglichen Lebens, wenn auch nicht ohne Gaben und Schwung der Phantasie. Er hielt sich für einen Erfinder und meldete Patente an. Patente für Selbstanzünder von Gasflammen, für Behälter von Stricknadeln, für Markenklebmaschinen und dergleichen mehr. Dazu brauchte er Geld. Der Mama brachte er bei, die sicherste Anlage ihres Vermögens sei ein Zinshaus. Ein großes, prächtiges Zinshaus in guter Gegend, von soliden Mietparteien bewohnt, die vierteljährlich, halbjährlich, je nachdem, den schuldigen Zins entrichteten, kann man sich etwas Anständigeres vorstellen als diese Art Erwerb und Sicherstellung. Du sitzt da, Mama, und dort steht das Haus, und das Haus schwitzt ordentlich Geld heraus, da gibts kein Risiko, wie kannst du in deinem Alter ein Risiko eingehen, etwas Feineres existiert nicht, da ist auch die Karolin zufrieden. Bei einet Bank kann man nie wissen, denk an den Krach im dreiundsiebziger Jahr, wo kann denn ein Zinshaus krachen. Willst du dein Kapital im Strumpf verstecken, du bist doch eine moderne Person, Mama, ja, Papiere, Papier ist doch Papier, und ein Haus ist aus Stein und Eisen. Ein Haus ist eine Realität. Auf den Papa kannst du dich nicht berufen, Gott hab ihn selig, von Geschäften hat er wohl nichts verstanden, sonst hätt ihn der Schnabel nicht so angeschmiert. Der selige Papa hätt auf Referenzen schauen müssen, aber wo waren denn da Referenzen, gar keine Spur von Referenzen. Der Baron Auer (Franz war Chemiker und bei der Auerschen Glühstrumpffirma angestellt) engagiert keinen Schuhputzer ohne Referenzen und ist doch gewiß ein nobler Mann, der Baron Auer. Und ich kann dir sagen, Mama, der Baron Auer legt sein ganzes Kapital in Zinshäusern an. Der Max ist dagegen? Um den Max kümmer ich mich nicht so viel, was versteht so ein Schriftsteller und Beamter von Realitäten, hörst du mich, Mama, Gott, sie wird schon wirklich ausgesprochen taub. Er wischte sich den reichlichen Schweiß von der Stirn. Franz war ein untersetzter kurzhalsiger Mann und starb auch später am Schlagfluß. Verdrießlich schickte ihn die Mutter fort. Aber er kam wieder, jeden Tag um fünf war er da und verdarb der alten Dame den Kaffee. Ihr Liebling Max, der sie um diese Zeit zu besuchen pflegte, blieb aus, um dem anderen nicht zu begegnen. Zwischen den Brüdern bestand das mythische Verhältnis, Kain haßte Abel, Baldur mied Hödurs finsteres Gesicht. Abgöttisch liebte die Mutter ihren freundlichen blonden Sohn, dessen Gegenwart den Menschen ein Wohlgefallen war. Um den finsteren loszuwerden und den lichten wieder zu gewinnen, gab sie eines Tages nach, sie war reizbar wie der kurzhalsige Franz und besaß auch ein ungestümes Temperament, das noch in hohen Jahren mit ihr durchging wie ein scheues Pferd. Zum Beispiel, wenn ihr die große Napoleonpatience zum drittenmal nicht aufging, wenn etwas in der hohen Politik ihr nicht gefiel, oder wenn jemand in der Verwandtschaft ihre sonderbare, stets glimmende Eifersucht anfachte. Franz verlangte es natürlich schriftlich, sie fuhr zornig auf, warf die Häkelarbeit fort, kniff das blinde Auge ein, kleckste und gab es schriftlich. Franz ging und kaufte das Haus, das eigentlich seiner Mesalliance gehörte, aber er kaufte es von einem Strohmann. Seine Frau hatte es von ihrem Agenten geerbt. Das Haus war...


Marta Karlweis (1889–1965), Tochter des Wiener Vorstadtdramatikers und Erzählers Carl Karlweis, Frau des Erfolgsschriftstellers Jakob Wassermann und Mutter des ehemals bekannten Journalisten Charles Wassermann, besuchte wie Maria Lazar die Schwarzwaldschule in Wien. Nach der Geburt zweier Töchter aus erster Ehe mit einem böhmischen Industriellen debütierte sie 1912 mit der Künstlernovelle Der Zauberlehrling. 1929 gelang ihr endgültig der schriftstellerische Durchbruch mit ihrem Roman Ein österreichischer Don Juan, der auch in Amerika groß herauskam und mitunter begeistert besprochen wurde. 1934 emigrierte sie in die Schweiz, wo sie u. a. mit Thomas Mann und C. G. Jung verkehrte. Nach dem Anschluss Österreichs ging sie 1939 ins Exil nach Kanada, wo sie einen Lehrauftrag an der Mc-Gill Universität in Montreal übernahm. 1965 starb Marta Karlweis auf einer Besuchsreise in der Schweiz. Ihr schriftstellerisches Werk geriet ab 1945 zunehmend in Vergessenheit.


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