Transnationalität als Impuls für Schulentwicklung und Lehrkräftebildung
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-17-037220-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Dr. Yasemin Karakasoglu und Senior Researcher Dr. Dita Vogel forschen zu Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Bremen.
Autoren/Hrsg.
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Einleitung
Mit diesem Buch möchten wir Impulse setzen für eine Lehrer*innenbildung und Schulentwicklung, die migrationsgesellschaftliche Veränderungen von Schule nicht nur aus der Perspektive von Migration – verstanden als eigene Zuwanderung bzw. in der Vergangenheit liegende familiäre Migrationserfahrung – betrachtet. Wir wollen dazu beitragen, den Blick zu erweitern auf die Normalität transnationaler Mobilität als Erfahrung von Schüler*innen, die in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft liegen kann und damit das Selbstverständnis von Schule grundlegend betrifft. Wir möchten die Aufmerksamkeit auf damit verbundene Transformationsanforderungen an Schule und Lehrer*innenbildung legen. Ausgangspunkt
Ausgangspunkt der Überlegungen zur transnationalen Mobilitätsperspektive in diesem Buch war unsere Wahrnehmung eines Widerspruchs: Migration ist in Deutschland durch wachsende Bevölkerungsanteile mit unterschiedlichen Migrationsbezügen bei gleichzeitig beachtlicher Fluktuation gekennzeichnet, aber die Konzepte zur schulischen Integration haben sich bislang meist auf singuläre Dimensionen von Wanderung ausgerichtet. In den Anfängen der Bundesrepublik wurde davon ausgegangen, dass ausländische Staatsangehörige das Land bald wieder verlassen und der deutsche Staat kaum Verantwortung für die befristet anwesenden Kinder übernehmen muss. Inzwischen ist die schulische Bildungspolitik so ausgerichtet, als würden alle Kinder auf Dauer in Deutschland bleiben, so dass der Staat keine Verantwortung für den Nutzen der Bildung im Fall einer Rückkehr oder Weiterwanderung trägt. Im Fokus ist die »Integration«, verstanden als Anpassung von Zugewanderten an die etablierte Ordnung der Schule, die den Nationalstaat Deutschland als Erfahrungshorizont, als Ausgangs- und Zielperspektive von Bildung definiert. Damit wird nicht nur die Lebensrealität all derjenigen Kinder und Jugendlichen nicht adäquat berücksichtigt, die nach vorheriger Zuwanderung zurückkehren oder weiterwandern wollen oder müssen, sondern auch derjenigen, die einen befristeten Auslandsaufenthalt planen oder sich die Option eines Lebens in zwei oder mehr Ländern offen halten wollen oder sollen. Das betrifft z.?B. auch in Deutschland geborene und aufgewachsene Schüler*innen, deren Eltern mit ihnen in Zukunft zeitweise oder dauerhaft ins Ausland gehen wollen oder die sich das selbst für ihre Zukunft vorstellen. Wie dieser Widerspruch aufgelöst werden kann, erfordert theoretische und empirische Forschung – eine Forderung, die auch in internationalen Fachdebatten geäußert wird (Zapata-Barrero 2017, 15). Ein inklusiver, migrationsgesellschaftlich informierter Ansatz müsste eine Anpassung der Schule an die transnationalen Bildungswelten der Schüler*innen berücksichtigen, die durch eine Orientierung der Bildungsvorstellungen an mehr als einem Land geprägt sind. Diesen Ansatz verfolgen wir in diesem Buch. Dazu lassen sich viele Fragen stellen, zu deren Beantwortung dieses Buch Anstöße liefern will, z.?B.: Was bedeuten transnationale Bildungswelten für das Selbstverständnis von Schulen und ihren Bildungsauftrag? Wie kann für die Thematik angemessen sensibilisiert werden? Welches Wissen brauchen Professionelle und welche Haltung müssten sie einnehmen? Wie müssten Teams aussehen? Wie müssten Lehrpläne, Prüf- und Aufnahmeprozesse überdacht werden? Was bedeutet das für die Schule-Eltern-Kommunikation? Zielgruppen
Erste Zielgruppe des Buchs sind pädagogisch Professionelle in Schulen, die an Schulentwicklungsprozessen im Kontext Migration, Mehrsprachigkeit und transnationale Mobilität interessiert sind. Das Buch kann zum Beispiel in Schulentwicklungsgruppen oder als Unterstützung für schulinterne Fortbildungen genutzt werden. Darüber hinaus soll es Material für die Lehrer*innenbildung in allen Phasen bieten. Die einzelnen Kapitel sind so konzipiert, dass sie sich auch als Module für themenspezifische Workshops, Lerneinheiten und Seminare eignen. Das Buch besteht aus zwei Hauptteilen sowie einem Ausblick und einem Epilog. Im Teil 1 werden grundlegende Aspekte zum Verständnis des Themas gelegt und Hinweise auf weiterführende Literatur gegeben. In Teil 2 werden Impulse zur Schulentwicklung und Bildungspolitik vorgestellt, die sich aus der erweiterten Perspektive transnationaler Mobilität als Entwicklungsbedarfe für Schule darstellen. Diese Impulse bilden keine, das möchten wir betonen, umfassende oder gar erschöpfende Bestandsaufnahme aller Entwicklungsbedarfe in der Schule der Migrationsgesellschaft – das würde die Möglichkeiten dieses überschaubaren Bandes übersteigen. Vielmehr konzentriert sich das Buch auf Aspekte, die wir im Kontext transnationaler Mobilität als zentral betrachten. In jedem Kapitel wird zunächst anhand eines Comics oder Handouts1 zur Reflexion über den dargestellten Sachverhalt aufgefordert. Dann folgt ein einführender Text in die Thematik. Die Kapitel werden mit Ideen zur Bearbeitung des Themas in Lehre und/oder Schulentwicklung abgeschlossen, der je nach Kontext angepasst werden kann. Positionierung der Autorinnen
Wir sind zwei Autorinnen, die in der deutschen Migrationsgesellschaft biographisch wie fachlich unterschiedlich positioniert sind und die seit den 1990er Jahren ihre Entwicklungen forschend beobachtet und begleitet haben. Viele unserer Projekte sind dadurch gekennzeichnet, dass wir direkt mit pädagogischen Praktiker*innen und bildungspolitischen Akteur*innen an konkreten Schulentwicklungsvorhaben mitwirken. Da wir Selbstreflexion und Positionierung in allen lehrenden und forschenden Berufen für wichtig halten (? Kap. 6), möchten wir in einer persönlichen Form einige Anmerkungen zu unserer jeweiligen Verbundenheit mit der Thematik voranstellen. Vorangestellt sei das, was uns beide verbindet. Dazu gehört, dass wir aus anderen akademischen Disziplinen im Zuge unserer akademischen Laufbahn zur erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung gefunden haben. Wir forschen multi-methodisch, inspiriert durch unterschiedliche theoretische Bezüge und überwiegend unter Verwendung qualitativer Methoden. Dabei interessieren uns besonders bildungspolitisch bedeutsame Fragen der Migrationsgesellschaft, die wir in kritisch-konstruktiver Weise forschend und entwickelnd aufgreifen. Wir möchten damit einen (hoffentlich) relevanten Beitrag zum Verständnis und zur Entwicklung von Handlungsperspektiven mit der und für die pädagogische Praxis leisten. Yasemin Karakasoglu: Ich komme aus einem deutsch-türkischen Elternhaus und bin zweisprachig aufgewachsen. Bereits in jungen Jahren bin ich innerhalb Deutschlands vielfach umgezogen und habe im Grundschulalter eine Pendelmigration zwischen Deutschland und der Türkei erlebt. All meine Sommer verbringe ich seitdem dort. Zweisprachigkeit prägt auch mein heutiges, transnationales Familienleben. Diese Orientierung hat mich immer begleitet. In Hamburg und zwischenzeitlich als Gaststudentin auch in Ankara habe ich Turkologie mit den Nebenfächern Germanistik und Politikwissenschaft studiert. Meine ersten beruflichen Erfahrungen sammelte ich an einem Forschungsinstitut zur Türkei und türkischen Migration nach Deutschland. Den Wechsel zur erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung vollzog ich im Rahmen der Erstellung meiner Dissertation zu religiösen Orientierungen und Erziehungsvorstellungen bei Lehramts- und Pädagogik-Studentinnen im Ruhrgebiet. Meine wissenschaftliche Arbeit als Professorin und Leiterin des Arbeitsbereiches Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Bremen, in deren Mittelpunkt Schulentwicklung und pädagogische Professionalität in der Migrationsgesellschaft steht, verstehe ich auch als Teil meines gesellschaftspolitischen Engagements. Dita Vogel: Ich bin in einem Dorf am Rande einer westdeutschen Großstadt monolingual deutsch aufgewachsen. Meine Mutter hat ihr Leben lang in ihrem Geburtsort gewohnt. Die Familie meines Vaters ist durch Flucht und Migration während und nach dem zweiten Weltkrieg geprägt. Als ich Anfang der 1990er Jahre nach einer journalistischen Ausbildung und einem Studium der Volkswirtschaftslehre mit historischem Schwerpunkt an der Universität Bremen promoviert habe, lag mein Büro über einer Turnhalle, in der Asylsuchende untergebracht waren. Seitdem habe ich überwiegend interdisziplinär und international vergleichend zu Migrationsfragen geforscht, u.?a. zu Arbeitsmarktintegration und gesellschaftlichem Engagement von Zugewanderten, irregulärer Migration und Migrationspolitik. Eine erziehungswissenschaftliche Perspektive konnte ich mir zunächst in der Zusammenarbeit mit Rudolf Leiprecht an der Universität Oldenburg und ab 2012 mit Yasemin Karakasoglu an der Universität Bremen aneignen und darin meinen heutigen Schwerpunkt auf bildungspolitische und rechtliche Rahmenbedingungen für Migration und Mehrsprachigkeit in Sekundarschulen entwickeln. Dank
Große Teile dieses Buchs basieren auf der Forschungs- und Entwicklungsarbeit im Projekt Transnationale Mobilität in Schule (TraMiS)2, zu dem wir deshalb einen detaillierten Epilog angehängt haben. Die hier präsentierten Erkenntnisse hätten wir...